„Wir haben ein Anliegen und das Kino ist eine Plattform, auf der wir unser Anliegen zur Sprache bringen können. Über das Kino versuchen wir sichtbar zu machen, was wir erleben“, sagt die kurdische Regisseurin #Özlem# Arzeba über ihren Film „Berfîn“.
Die Guerilla-Filmgruppe SineÇiya hat 2017 mit den Dreharbeiten für den Spielfilm „Berfîn“ begonnen. Beim 10. Kurdischen #Filmfestival# Hamburg fand die Erstaufführung statt. Heute wird der Film bei einem Festival in New York gezeigt. Der Film von Özlem Arzeba handelt von einem Mädchen, dessen Vater vom türkischen Staat ermordet und dessen Mutter verhaftet wird. Berfîn schließt sich der Guerilla an und trifft Jahre später in den Bergen ihre Mutter wieder.
Der Film basiert auf wahren Begebenheiten und ist unter schwierigen Bedingungen in den Bergen Kurdistans gedreht worden. Wir haben mit Özlem Arzeba über „Berfîn“ und das kurdische Kino gesprochen.
Offensichtlich ist „Berfîn“ unter schweren Bedingungen gedreht worden. Das Szenario ist spannend. Handelt es sich dabei um Fiktion oder beruht es auf einer wahren Geschichte?
Es beruht auf einer wahren Begebenheit. Eigentlich handelt es sich um mehrere Geschichten. Wir haben uns überlegt, wie wir diese Geschichten zu einer einzigen zusammenfassen und daraus einen Film machen können. Viele Menschen, die sich der Guerilla anschließen, sind miteinander verwandt. Wir sind von einer solchen Geschichte ausgegangen. Aus der Geschichte wurde ein Szenario, das auf die Leinwand übertragen wurde.
Wer ist Berfîn?
Eigentlich ist Berfîn irgendjemand aus einer kurdischen Familie, die mehr oder weniger vom Kampf geprägt worden ist. Ein bisschen ist sie wie wir, ein bisschen wie ihr. Sie ist ein Stück von uns allen. Berfîn ist wie alle, die in der Gesellschaft leiden und sich gegen dieses Leiden positionieren wollen.
Ihr seid von einer wahren Geschichte ausgegangen und daraus ist ein Szenario entstanden?
Ich glaube nicht, dass im kurdischen Kino eine Geschichte gut ankommt, die nichts mit unserem gesellschaftlichen Leben zu tun hat. Was gezeigt wird, muss mit der Realität übereinstimmen. In unserer Gesellschaft kann niemand behaupten, nie von einer ähnlichen Geschichte gehört zu haben. Unsere Erfahrungen ähneln sich mehr oder weniger, das ist eine Tatsache. Und das kurdische Kino bringt diese Realität auf die Leinwand.
Ist das gewollt oder gibt es noch einen anderen Grund?
Eigentlich beides. Für den Kampf der Kurden auf dem Gebiet des Kinos ist es etwas Neues. Zu diesem Thema finden seit zwanzig bis dreißig Jahren Versuche statt. Auch wir machen Versuche. Es sind ohnehin keine gewöhnlichen Zeiten. Wir versuchen mit sehr beschränkten Möglichkeiten etwas zu produzieren. Wir haben ein Anliegen und das Kino ist eine Plattform, auf der wir unser Anliegen zur Sprache bringen können. Über das Kino versuchen wir das sichtbar zu machen, was wir erleben.
Eigentlich entspricht das kurdische Kino dem Widerstand des kurdischen Volkes. Das kurdische Volk kämpft für Freiheit und seine Filme sind Teil dieses Widerstands…
In unserem Land findet ein großer Widerstand statt. Daher ist es nur natürlich, dass auch unser Kino ein Teil dieses Kampfes ist. Das gilt für Bakur [Norden], Rojava [Westen] und Rojhilat [Osten], aber auch für Başur [Süden]und die Diaspora. Das heißt, dass eine große Unterdrückung herrscht, gegen die die Menschen aufbegehren. Unser Volk leistet politisch, ökonomisch und bewaffnet Widerstand. Unser Kino kann nicht davon unabhängig sein.
Du hast von den großen Erfahrungen des Weltkinos gesprochen. Diese Filmwelt ist von einer männlichen Perspektive geprägt. In den Filmen der Guerilla ist eine Frauenperspektive spürbar. In eurem Film sind beispielsweise das Szenario und die Regie von einer Frau besetzt. Wie bewertest du das?
Was Frauen erleben, ist normalerweise nicht sichtbar. Das ist weltweit so und auch in unserem Land. Die Frauenfrage wird im Allgemeinen als nebensächlich betrachtet. Durch unseren Kampf ist es jedoch gelungen, einige Vorstellungen zu diesem Thema zu brechen. Als Frauen ist uns das nicht fremd, wir erleben es seit Jahren. Was du gesagt hast, gilt nicht nur für das Kino, sondern auch für die Literatur. Für uns war es wichtig, mit einigen Normen gebrochen zu haben. Das sind vielleicht kleine Schritte, aber für uns hat es Bedeutung, dass wir diese Schritte in der Filmwelt gesetzt haben.
In den Filmen und Romanen oder insgesamt in den Werken revolutionärer Bewegungen weltweit werden manche Themen möglichst nicht angesprochen. In eurem Film gibt es jedoch einen Charakter, der eine Unentschlossenheit erlebt. Das ist ein mutiger Schritt, wie ist es dazu gekommen?
Eigentlich kann man sagen, dass wir sehr spät dran sind mit diesem Thema.
Warum?
Vielleicht kann man es mit den bestehenden Bedingungen erklären. Ein guter Film kann nicht entstehen, wenn das Erlebte abstrahiert wird. Die Umstände haben jedoch dazu geführt, dass wir uns etwas langsam vorwärtsbewegen. Es gibt Dutzende solcher Beispiele. In unserer Gesellschaft gibt es sehr große Geschichten. Was die Bevölkerung in allen vier Teilen Kurdistans erlebt, ihr Kampf, ihr Schmerz, ihre Freude, all das bietet starke Geschichten, die tatsächlich stattgefunden haben. Es handelt sich um einen Ozean an Geschichten. Und unser Film ist vielleicht ein Tropfen in diesem Ozean.
Gibt es denn zu diesem Thema positive oder auch negative Reaktionen der Zuschauer?
Es gibt Menschen, die sich in der Geschichte des Films wiedererkennen. Es gab positive Reaktionen, aber natürlich auch Kritik. Kritisiert wurde zum Beispiel, dass technisch einige Schwerpunkte deutlicher sein müssten.
Wie sind die Dreharbeiten verlaufen?
Die Dreharbeiten waren eigentlich ein Film für sich. Die Hälfte des Films ist in den Medya-Verteidigungsgebieten [Guerillagebiete in Südkurdistan] gedreht worden, also in einem Kriegsgebiet. Die Dreharbeiten fanden an einer Stelle statt, die vom türkischen Staat angegriffen wurde. An einem solchen Drehort einen Film zu machen, das Set aufzubauen und das Erwünschte herauszuholen, ist eine aufwändige Arbeit. So gesehen waren die Bedingungen für die Dreharbeiten unpassend. Die andere Hälfte des Films ist in Mexmûr [Flüchtlingslager in Südkurdistan] gedreht worden. Der Film ist sozusagen das Produkt sehr beharrlicher Anstrengungen.
Auf der einen Seite gibt es den Krieg und den Widerstand dagegen, auf der anderen Seite macht ihr unter diesen Bedingungen einen Film. Ich glaube, das interessiert viele Menschen.
Es handelt sich um einen Guerillafilm. Er ist im Guerillagebiet gedreht worden. Dementsprechend muss man sich auf alle Umstände und Situationen vorbereiten. Da es sich um einen Guerillafilm handelt, wollten wir mit den vorliegenden Materialien und Techniken auskommen. Ein dauerhaftes Set aufzubauen und großartige Beleuchtung sind nicht möglich. In unserem Team waren wir gleichzeitig Schauspieler und für Regie, Licht und Ton zuständig.
Viele der Schauspieler im kurdischen Bergkino sind gleichzeitig Kämpferinnen und Kämpfer der Guerilla. Wie ist das zu bewerten?
Richtig, die meisten unserer Darstellerinnen und Darstellen sind bei der Guerilla. Sie haben dort bestimmte Aufgaben, und dann kommen wir an, um einen Film zu drehen. Das ist eine schwierige und besondere Situation. Zum Beispiel sind zwei unserer Schauspieler*innen später gefallen. Das kurdische Kino bewegt sich ein bisschen auf diese Weise voran.
Der Film „Berfîn“ hatte auf dem kurdischen Filmfestival in Hamburg Premiere und wird jetzt in New York gezeigt. Wie sind die Reaktionen?
Es besteht Interesse. Im Oktober ist „Berfîn“ in Hamburg gezeigt worden, am 6. Dezember ist er bei einem Festival in New York zu sehen. Außerdem ist er für einige Frauenfilmfestivals eingeplant.
Habt ihr neue Projekte?
Wo wir auch sind, in unserem Land und unserer Gesellschaft warten viele Geschichten darauf, verfilmt zu werden. Wir arbeiten daran. Wir denken, dass aus diesen Geschichten ein Szenario geschrieben werden muss und dass sie auf die Leinwand gebracht werden sollten. Momentan haben wir mehrere Projekte. Sobald die notwendigen Bedingungen vorliegen, beginnen wir mit den Dreharbeiten.
In einer Szene muss Berfîn in der Schule auf einem Bein vor einer Tafel stehen, auf der „Glücklich, wer sich Türke nennen darf“ geschrieben ist. Der Lehrer erniedrigt sie und sagt dann: „Geh auf deinen Platz!“. In der nächsten Szene ist zu sehen, wie Berfîn bei der Guerilla mit ihren Mekap [bei der Guerilla verwendete Schuhe] fest auf den Boden tritt. Welche Botschaft sowohl an die Kurden als auch an den türkischen Staat beinhaltet diese Szene?
Das System akzeptiert die Kurden unter zwei Bedingungen. Erstens müssen sie schweigen, zweitens müssen sie sich assimilieren und in das bestehende System integrieren. Ein kurdischer Mensch, der darüber hinaus über ein eigenes Ich verfügt und auf eigenen Beinen steht, wird vom System nicht anerkannt. Das sehen wir in Berfîns Leben. Das System akzeptiert sie nicht so, wie sie ist. Als ihr gesagt wird, sie soll an ihren Platz gehen, geht sie dorthin, wo sie mit ihrer eigenen Identität und ihrem eigenen Ich leben kann. Sie geht also eigentlich an ihren Platz, um die eigene Würde zu bewahren. Dort ist ihr Platz…[1]