Zur heutigen offiziellen Vorstellung ihrer Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee legt Seyran Ates ein neues Buch vor
Was bei Protestanten die Freiheit des Christenmenschen ist, umschreibt eine türkische Redensart so: Jedes Schaf wird an den eigenen Füßen aufgehängt. Seyran Ates zitiert die Wendung in ihrem neuen Buch Selam, Frau Imamin, und das ist typisch für ihre Art, für einen modernen Islam zu werben. Denn sie glaubt an den liebenden, barmherzigen Allah und an das positive Vorbild Mohammeds für alle Muslime. Entsprechend beginnt die Präambel der gemeinnützigen GmbH Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die sie an diesem Freitag offiziell vorstellt, im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes, der den Menschen in seiner Vielfalt geschaffen hat.
Die Moscheegründer fangen bescheiden an, als Untermieter der evangelischen St. Johannis-Kirche im Stadtteil Moabit, wo sich auch die Berliner Mitglieder des Liberal-Islamischen Bundes (LIB), ebenfalls als Gäste einer evangelischen Gemeinde, treffen. In Köln wollen am Samstag Muslime gegen Gewalt und Terror im Namen des Islams demonstrieren. Es tut sich endlich was unter den Muslimen in Deutschland, denen die formelhaften Distanzierungen ihrer Verbände oder das Schweigen in der Öffentlichkeit nach Gewalttaten im Namen ihrer Religion nicht mehr ausreichen. Danke, Herr Minister Schäuble, schreibt Ates am Ende des Buchs, dass Sie immer wieder betont haben, dass sich die liberalen Muslime organisieren müssen.
Sie gehört keineswegs zur Gefolgschaft von Schäuble, der als Innenminister 2006 die Deutsche Islamkonferenz ins Leben rief, mit einer ihrer Ansicht nach viel zu starken Beteiligung der Verbände. Es seien nur 15 Prozent aller Muslime in Deutschland in den Verbänden organisiert, aber diese hätten die Gelegenheit gesehen und genutzt, weit über ihre Mitgliedschaft hinaus politischen Einfluss zu nehmen. Sie seien, so Ates, die einzigen organisierten Muslime und deswegen für Politiker interessanter als noch so profilierte Einzelpersonen.
An solchen Erwägungen merkt der Leser, dass Seyran Ates politisch denkt. Ihr Buch ist, streng gesprochen, eine Art Die Welt, wie Seyran Ates sie sieht. Wohlwollende Leser werden ihre besondere Mischung aus Leitartikel, Autobiographie und Aktivismus schätzen, denn sie macht den Weg der linken türkischstämmigen Juristin zur Religion, zum Grundgesetz, zum Westen und gegen ein doktrinäres Religionsverständnis nachvollziehbar und sympathisch.
Es braucht mehr moderne, liberale Muslime, die sich zum Islam bekennen und dessen friedliche Seiten leben und verbreiten, schreibt sie. Nur so könne eine breite Front der friedlichen Muslime gegen die Islamisten entstehen und sichtbar werden. Die Muslime sieht sie besonders in der Pflicht, den islamistischen Terror ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Schließlich richte sich dieser in erster Linie gegen Muslime, nicht nur, weil sie am häufigsten Opfer werden, sondern weil Islamisten sich herausnehmen, ihre Mitmenschen in gute und schlechte Gläubige einzuteilen, was unter die Regel der Füße fällt, an denen jedes Schaf aufgehängt wird.
Ates legt politische Gründe dafür dar, den Islam und seine Überlieferung mit den Methoden der modernen Welt beim Wort zu nehmen. Sie entwickelt aber auch ausdrücklich religiöse Begründungen dafür, sich seines Verstandes - und seiner Sprachkenntnisse, seiner Kenntnis der Geschichte und seiner Urteilskraft - zu bedienen. Denn die islamische Welt ist seit dem Tod Mohammeds derartig zerstritten, dass es ihr sinnvoller scheint, aufeinander - und auf die Christen und Juden, die zum selben Gott beten - zuzugehen, als weitere scharfe Unterscheidungen zwischen Schiiten, Sunniten und Aleviten vorzunehmen. In der neuen Moschee sind Männer und Frauen und Vertreter aller sexueller Orientierungen und aller islamischen Richtungen gleichberechtigt. Dafür stehen die Namenspatrone Ibn Rushd (oder Averroës, der Philosoph und Arzt, der im zwölften Jahrhundert in Cordoba wirkte) und Goethe, dessen West-Östlichen Divan von 1819 ein Klassiker der Liebe zum Islam wurde.
Islamkritik ist zu einer abendfüllenden Beschäftigung von Menschen geworden, die einen sparsamen Gebrauch der Barmherzigkeit üben und die an die Barmherzigkeit Gottes lieber glauben, wenn dieser nicht Allah heißt. Ates und ihre Mitgründer wollen von innen heraus, gebildet und fromm, Islamkritik üben - und Barmherzigkeit zeigen. Sie zitieren in der Präambel die Sieben Ratschläge des persischen Dichters Rumi: Sei wie die Nacht beim Bedecken der Fehler anderer, heißt der vierte[1].
16-6-2017