Zwölf Jahre lang wurde das zentrale Heiligtum der Êzîden, Lalish, von muslimischen Aggressoren besetzt gehalten und zu einer Koranschule umfunktioniert. Nur mit Gewalt gelang es den Êzîden, ihren Zentraltempel zurückzuerobern
Im Jahr 1890 entsandte die osmanische Führung ihren General Omar Wahbi Pascha in die êzîdîsche Region im heutigen Nordirak, Sheikhan, um die als „Ungläubige“ geltenden Êzîden zur Annahme des Islams zu zwingen. Omar Wahbi Pascha mobilisierte kurdische Stämme, darunter den Anführer der Hamidiye-Reiterei sowie zahlreiche kurdisch-muslimische Stämme im Nordirak, um gegen die Êzîden militärisch vorzugehen.
In den Jahren 1891 bis 1893 tobte ein blutiger Kampf zwischen den osmanisch-kurdischen Angreifern und êzîdîschen Kämpfern. Omar Wahbi Pascha setzte dem späteren weltlichen Oberhaupt der Êzîden, Mîr Alî Beg, ein Ultimatum: entweder er und die Êzîden konvertierten zum Islam oder aber würden getötet werden. Die Angreifer hatten die Êzîden belagert und waren sowohl zahlenmäßig als auch militärisch den schlecht ausgerüsteten Êzîden weit überlegen. Mîr Alî Beg widersetzte sich der Forderung, wohingegen zahlreiche êzîdîsche Stämme unter dem Eindruck des bevorstehenden Angriffes und den bisherigen, grausamen Massakern in den êzîdîschen Dörfern zum Islam konvertierten.
Annexion des Lalish-Tals
Blick auf den Lalish-Tempel im Lalish-Tal (Chris McGrath/2016)
Besonders schwer traf die êzîdîsche Gemeinschaft die Annexion des Lalish-Tals im Jahr 1892. Die kurdischen Stämme unter der Führung des osmanischen Heeres attackierten den Tempel, entrissen den Êzîden den vollständigen Besitz daran, plünderten und beschädigten Mausoleen der êzîdîschen Heiligen. Der Zentraltempel der Êzîden wurde zu einer Koranschule umfunktioniert. Zwölf Jahre lang sollte dieser Zustand anhalten. Ein kurdischer Mullah und hunderte seiner Schüler hielten den Tempel, geschützt von der osmanischen Verwaltung in Mosul, besetzt.
Von den Plünderungen und Zerstörungen waren auch umliegende êzîdîsche Dörfer, so etwa Bashiq und Bahzan, betroffen. Zahlreiche kleinere Pilgerstätten in der Region wurden zerstört. Mîr Alî Beg wurde gefangengenommen und in Kastamonu festgehalten.
Die Besetzung von Lalish rief unter den Êzîden großes Entsetzen hervor. In Shingal, dem zweiten traditionellen Heimatgebiet der Êzîden im Nordirak, mobilisierte der êzîdîsche Stammesführer Hamo Shero weitere Stämme und Kämpfer, um gegen die Osmanen und Kurden vorzugehen. Schließlich führte die Besetzung des Lalish-Tals zu einer weitläufigen Rebellion der Êzîden in Shingal und Sheikhan gegen die Osmanen und die kurdischen Stämme.
Rückeroberung im Jahr 1904
Hugo Grothe, deutscher Orientalist, machte diese Fotografie bewaffneter êzîdîscher Männer im Jahr 1906 im Lalish-Tal.
Erst im Jahr 1904 gelang es den Êzîden unter der Führung von Mîr Alî Beg ihr Eigentum gewaltsam zurückzuerlangen und die kurdischen Muslime zu vertreiben. Der neu eingesetzte Gouverneur von Mosul, Mustafa Nuri Pascha, setzte gegenüber den Êzîden einen Paradigmenwechsel ein und versuchte mit den als rebellisch geltenden Êzîden diplomatische Beziehungen aufzubauen. Er tolerierte zunächst die Rückeroberung des Lalish-Tals durch die Êzîden.
Die kurdischen Muslime akzeptierten dies jedoch nicht; es drohten erneute Kämpfe. Mîr Alî Beg begann hunderte êzîdîsche Freiwillige zu bewaffnen, um Lalish im Angriffsfall zu verteidigen. Der osmanische Polizeidirektor Sadiq al-Damluji wurde im Jahr 1906 nach Lalish beordert, um die Êzîden aufzufordern, den Tempel an die Muslime zu übergeben. Mîr Alî Beg habe ihm mit folgenden Worten geantwortet:
„Wir werden Lalish auf keinen Fall verlassen, nur weil ihr uns dies befehlt. Wir werden unser Heiligtum nicht aufgeben, auch wenn wir bei der Verteidigung sterben werden“, notierte Damluji in seinen Nutizen, die in seinem arabischsprachigen Werk „al-Yezidia“ im Jahr 1949 in Mosul veröffentlicht wurden.
In den darauffolgenden Jahren kam es mehrfach zu weiteren Angriffen auf das Lalish-Tal, die die Êzîden jedoch erfolgreich abwehren konnten.[1]