Einst ein mächtiges Volk im Nahen Osten, das über weite Teile der Region herrschte und zahlreiche Fürstentümer wie jenes von Kilis regierte, zählt das êzîdîsche Volk heute keine eine Millionen Anhänger mehr. Jahrhunderte, geprägt von Massakern und Vernichtungsfeldzügen, haben aus dem einflussreichen Volk eine marginalisierte Minderheit gemacht, das heute hauptsächlich in den traditionellen Siedlungsgebieten im Nordirak um sein Überleben kämpft. Nicht nur jahrtausendealte archäologische Monumente wie die von Palmyra sind bedroht, sondern auch ein Volk, das seit über 4.000 Jahren Mesopotamien seine Heimat nennt und eines der letzten Erben Alt-Mesopotamiens beherbergt.
Vor 600 Jahren, im Jahr 1415, massakrierten, plünderten und brandschatzten die ideologischen Ahnen des heutigen „Islamischen Staates“ im Herzen der Êzîden: Lalish, das zentrale Heiligtum.
600 Jahre später sind die Êzîden erneut einem Völkermord ausgesetzt. Über 400.000 Êzîden – und damit die Hälfte aller weltweit – befinden sich auf der Flucht. Über 12.000 Êzîden wurden seit dem 03. August 2014 ermordet oder verschleppt. Bis zu 7000 êzîdische Frauen und Kinder sind von Terroristen des IS versklavt, verkauft und zu neuen Dschihadisten gedrillt worden.
Die Geschichte des êzîdîschen Volkes ist von unzählbaren gegen sie gerichtete Vernichtungsfeldzüge und Pogrome gezeichnet, die im Kollektivgedächtnis der Êzîden fest verankert sind und die sie als „72 Ferman“, dt. 72 Völkermorde, bezeichnen. Ähnlich dem Aghet der Armenier oder der Schoah der Juden. In der êzîdischen Mythologie steht die Zahl 72 symbolisch für die „Gesamtheit“. Osmanischen Quellen zufolge, die von Prof. Dr. Dr. Ilhan Kizilhan ausgewertet wurden, wurden schätzungsweise 1,2 Millionen Êzîden zwangsislamisiert und 1,8 Millionen in den vergangenen Jahrhunderten ermordet. Die Gesamtzahlen dürften insbesondere wegen den unberücksichtigten Massenmorden vor der Ankunft der Mongolenstämme im Nahen Osten höher liegen. So schrieb der US-amerikanische Historiker britischer Herkunft John Spencer-Churchill Guest, ein Verwandter von Winston Churchill, über die Êzîden: „Es ist unglaublich, dass diese kleine Gemeinschaft in Lalish die Abbasiden, die Mongolen, den schwarzen Tod und die Erscheinung des Timur [Temür ibn Taraghai Barlas; Anm. d. V.] überlebte.“
In diesem Jahr jährt sich zum 600. Mal das sog. Lalish-Massaker.
Das Lalish-Massaker von 1415
Lalish im heutigen Nordirak, in der kurdischen Region, unweit der Stadt Duhok. Wir schreiben das Jahr 1415. Die Êzîden, die bereits in den Jahren 838 – 841 n. Chr. neben den Khorramiten (816 – 837) eine der größten Aufstände gegen die Invasoren des islamisch-abbasidische Kalifats organisierten und im 13. Jahrhundert unter ihrem Oberhaupt Sherfedin Hassan erbittert gegen den Ansturm der Mongolen ankämpften, sind erneut bedroht.
Der stetig wachsende Einfluss der Êzîden beunruhigt vor allem die muslimisch-kurdischen Fürsten sehr. Der persisch-islamische Gelehrte Mohammed ibn Izzad ad-Din Yusuf rief daher zum „heiligen“ Krieg gegen die Êzîden auf, die aufgrund ihrer nicht-muslimischen Identität seit jeher als „absolute Ungläubige“, sog. Harbis, gelten. Der arabische Historiker Muhammad al-Maqrizi (1364 – 1442) berichtet, wie der kurdische Fürst Izzad ad-Din al-Bokhti, der Fürst von Dschazira Botan (Cizîra Botan), der kurdische Fürst Tawaqul und der al-Adil von Hasankeyf einen Feldzug gegen die Êzîden in Lalish organisierten. Dazu mobilisierten sie weitere kurdische Stämme und erhielten für ihren Feldzug auch die Unterstützung von Shams ad-Din Mohammed.
Al-Maqrizi beschreibt den Angriff der islamisch-kurdischen Allianz gegen die Êzîden folgendermaßen:
„Sie rückten mit einem gewaltigen Heer gegen das Hekkâr-Gebirge [Lalish-Tal; Anm. d. Red.] vor und töteten große Massen von Anhängern des Scheich ‚Adî [Êzîdîscher Heiliger; Anm. d. Red.], welche zu jener Zeit bei den Kurden unter dem Namen Ṣohbetîje bekannt waren, und machten eine Anzahl von ihnen zu Gefangenen. Dann kamen sie nach Scherâliq; dies ist das Dorf, wo sich das Grab des Scheich ‚Adî befand. Sie machten das Gewölbe, das über ihm erbaut war, dem Erdboden gleich, durchwühlten sein Grab und hoben seine Gebeine heraus. Sie verbrannten dieselben in Gegenwart derer, die sie gefangen genommen hatten von den Ṣohbetîje, und sagten zu ihnen: „Sehet, wie wir den verbrennen, von dem ihr all das behauptet, was ihr behauptet, und der uns doch nicht daran zu hindern vermag“. Danach kehrten sie mit reicher Beute zurück.“ (Zitiert nach Rudolf Frank, 1912).
Mit der Zerstörung von Lalish versuchten die Angreifer die Identität der Êzîden, die signifikant und unzertrennbar mit dem Heiligtum verbunden ist, auszulöschen. So, wie die Terroristen des „Islamischen Staates“ über Monate hinweg versuchten die Pilgerstätte Sherfedîn in der Shingal-Region zu zerstören. Die Zerstörung der Heiligenstätte Lalish im Jahr 1415 sollte den Willen der Êzîden endgültig brechen und den Rest des Volkes, der sich der Zwangsislamisierung bis dato widersetzen konnte, zur Konvertierung bewegen. Die Schändung des Grabes einer ihrer heiligsten Persönlichkeiten, Sheikhadi, sollte der letzte Akt im Vernichtungsfeldzug der Feinde sein. Aber die Êzîden kämpften erneut für ihre weitere Existenz.
Nach dem Massaker
Die Êzîden errichteten ihr Heiligtum Lalish von neuem und al-Maqrizi bemerkte, dass die Êzîden eine sehr feindliche Haltung gegenüber den „Faqihs“, islamische Theologen, annahmen und diese töteten „ […] wo sie es vermochten.“ (ebd.)
Bereits ein Jahr später, im Jahr 1416, nutzen islamische Gelehrte daher die geschwächte Position der Êzîden dazu aus, sie erneut anzugreifen. Die Êzîden mussten ein weiteres Massaker über sich ergehen lassen. Hunderte Männer, Frauen und Kinder wurden im Lalish-Tal bestialisch massakriert. Auch ihr wiedererrichtetes Heiligtum wurde abermals zerstört.
Al-Maqrizi berichtet weiter, dass die Êzîden bereits 20 Jahre nach diesen Vernichtungsfeldzügen ihre Heiligenstätte wieder aufbauten und erneut an großen Einfluss und Macht gewannen. Die Êzîden, die auch Dasinîs bzw. Dasnîs genannt wurden, gehörten nun wieder zu den „mächtigsten Stämmen“der Region, wie der kurdische Fürst und Historiker Sherefkhan Bidlisi in seinem Geschichtsbuch „Sherefname“ 1597 dokumentierte. Die Êzîden herrschten über drei große Fürstentümer und wehrten sich auch in den kommenden Jahrhunderten erfolgreich gegen all jene, die die Auslöschung ihrer Existenz auf ihre Fahnen geschrieben hatten.
Heute, 600 Jahre nach dem Lalish-Massaker, hat sich nur wenig an dieser Haltung gegenüber den Êzîden verändert. Trotz ihrer Bedeutungslosigkeit für das politische Geschehen im Nahen Osten, sind sie erneut zur Zielscheibe geworden. Wieder sind sie einem Völkermord ausgesetzt, wieder wurden Männer, Frauen und Kinder massakriert, verschleppt, versklavt und Heiligtümer zerstört. Die Erde der eigenen Heimat ist blutgetränkt und zum Massengrab geworden.
Aber dennoch: in den kurdischen Regionen im Norden haben die Êzîden damit begonnen ihre Pilgerstätte neu aufzubauen. „Für jede zerstörte Heiligenstätte werden wir drei neue errichten“, erklärte ein êzîdîscher Würdenträger anlässlich der Einweihungszeremonie von Mame Reshan. Auch deshalb sind die Erinnerungen an all die Massaker der vergangenen Jahrhunderte so wichtig: Nicht, um alte Feindschaften oder Traumata auszugraben, sondern um den Lebenswillen dieser uralten Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.[1]