Der kurdischen Politikerin Saliha Aydeniz (DBP) droht die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität. Hintergrund ist die Teilnahme an der Demonstration „Sternmarsch nach Gemlik“ in Istanbul.
Der kurdischen Politikerin Saliha Aydeniz (DBP) droht die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität. Hintergrund ist die Teilnahme an der Demonstration „Sternmarsch nach Gemlik“ in Istanbul. Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara wirft der 49-Jährigen vor, bei der Veranstaltung am vorletzten Sonntag „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ geleistet und gegen das türkische Versammlungsgesetz verstoßen zu haben. Die Abgeordnete sieht in der Anklagedrohung ein gezieltes Vorgehen gegen ihre Partei sowie die HDP und bezeichnete den Vorgang als „staatlich orchestrierte Kriminalisierungskampagne“, um eine mögliche Auflösung vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu rechtfertigen.
Demonstration für Frieden und Lösung der kurdischen Frage
Um der Öffentlichkeit und politischen Führung der Türkei aufzuzeigen, dass Imrali die richtige Adresse für die Lösung der Probleme und Frieden ist, wollten kurdische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen am 12. Juni einen Sternmarsch nach Gemlik durchführen. Von der Hafenstadt in der Provinz Bursa verkehren Schiffe zu der Gefängnisinsel, auf der Abdullah Öcalan unter strikten Isolationsbedingungen festgehalten wird. Mit der Aktion wurde ein „demokratischer und zivilisierter Schritt“ von der türkischen Regierung gefordert, um „die Mutter aller Probleme“, die kurdische Frage, im Dialog zu lösen und gesellschaftlichen Frieden zu erreichen. Unabdingbar dafür sei die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan und die Rückkehr an den Verhandlungstisch mit ihm.
Vorwurf: Fausthieb gegen Polizisten
Die Polizei war landesweit mit Großaufgeboten im Einsatz und verhinderte den Sternmarsch. In Istanbul gingen die Sicherheitskräfte besonders brutal vor: An mehreren Punkten im Bezirk Kadıköy waren Blockaden und Absperrungen errichtet worden, mehr als siebzig Personen wurden gewaltsam festgenommen. Einige von ihnen sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Die Repressalien hatten sich auch gegen Parlamentsabgeordnete der HDP und ihrer Schwesterpartei DBP gerichtet. Diese befanden sich innerhalb einer großen Gruppe, der es gelungen war, die Absperrung zu durchbrechen und Parolen rufend loszulaufen. Die Polizei versuchte mehrmals, die Demonstrierenden wieder einzukesseln. Dabei kam es wiederholt zu Handgreiflichkeiten gegen die Abgeordneten. Noch am selben Abend traten Regierungsvertreter in Erscheinung und diffamierten die Politikerinnen und Politiker als „Terroristen“. Gegenüber Saliha Aydeniz wurde vom türkischen Innenminister Süleyman Soylu der Vorwurf erhoben, sie hätte einem Polizisten mit der Faust einen Hieb versetzt. Im Blitzverfahren wurde beim Parlament ein staatsanwaltlicher Voruntersuchungsbericht eingereicht.
Erdoğan: Sie wird den Preis für ihren Verrat bezahlen
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan reagierte ebenfalls umgehend. Bei seiner Rede in einer Fraktionssitzung seiner Regierungspartei AKP bezeichnete er die Politikerin Saliha Aydemir als „Strippenzieherin der Schande von Kadıköy“ und sagte: „Die Akte dieser Frau ist ohnehin dick. Wir werden dafür sorgen, dass sie den Preis für ihren Verrat vor der Justiz bezahlt. Mit dem umgehenden Immunitätsentzug zeigen wir, dass es für Gattungen wie diese nicht möglich sein wird, ihren Platz unter diesem gesegneten Dach einzunehmen.“ Auch Parlamentspräsident Mustafa Şentop und Devlet Bahçeli, Vorsitzender der rechtsextremen MHP, hatten sich auf ähnliche Weise über Aydeniz geäußert.
Parlamentsausschuss will am Donnerstag entscheiden
Der parlamentarische Ausschuss der türkischen Nationalversammlung will schon am kommenden Donnerstag darüber entscheiden, ob die Abgeordnetenimmunität der DBP-Politikerin aufgehoben wird. Sollte der Weg für eine gerichtliche Verfolgung geebnet werden, drohen Saliha Aydeniz noch mindestens vier weitere Anklagen. Entsprechende Ermittlungsberichte, die sich ebenfalls auf Vorwürfe wie Widerstand gegen die Polizei, Teilnahme an vermeintlich verbotenen Protesten, aber auch Terrorpropaganda beziehen, sind ebenfalls beim Präsidium des Parlaments eingereicht worden.
Immunitätsentzug zur „Terrorismusprävention”
Im Mai 2016 hatte das türkische Parlament einer von der islamistischen Erdoğan-Partei AKP initiierten Verfassungsänderung zur „Terrorismusprävention” zugestimmt und damit den Weg zur vorübergehenden Strafverfolgung von Abgeordneten freigemacht. Betroffen von dem Immunitätsentzug waren damals insgesamt 154 Parlamentsmitglieder, mehr als ein Drittel davon Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Unmittelbar nach der Verfassungsänderung wurden zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Opposition eingeleitet. Die losgetretene Repressionswelle fand mit der Verhaftung von zehn HDP-Abgeordneten, darunter den damaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, am 4. November 2016 ihren vorläufigen Höhepunkt. Der letzte Fall von Entzug der parlamentarischen Immunität durch die türkische Nationalversammlung ereignete sich Anfang März. Betroffen davon war die HDP-Abgeordnete Semra Güzel. Die 38-Jährige, die ausgebildete Ärztin ist, wird unter anderem der PKK-Mitgliedschaft beschuldigt. Ausgangspunkt sind Fotos, die Güzel mit ihrem ehemaligen Verlobten, einem durch einen türkischen Luftangriff getöteten Guerillakämpfer zeigen. Sollte Güzel verurteilt werden, droht ihr eine langjährige Haftstrafe.[1]