Die „Samstagsmütter“ haben anlässlich ihrer 902. Mahnwache gegen das Verschwindenlassen in staatlichem Gewahrsam rote Nelken am Galatasaray-Platz abgelegt und ein Ende der Belagerung des für sie symbolträchtigen Ortes gefordert.
Die Istanbuler Initiative der „Samstagsmütter“ hat anlässlich ihrer 902. Mahnwache gegen das Verschwindenlassen in staatlichem Gewahrsam rote Nelken am Galatasaray-Platz abgelegt und ein Ende der Belagerung des für sie symbolträchtigen Ortes gefordert. „Dieser Platz ist Treffpunkt mit unseren vermissten und verschwunden gelassenen Angehören. Es ist ein Ort des Erinnerns und Gedenkens, der uns als öffentliches Gedächtniszentrum gilt. Er steht synonym für unseren Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung des Verschwindenlassens. Doch es ist uns verboten, diesen Platz zu betreten“, sagte Hanife Yıldız im Namen der Initiative. Ihr damals 19-jähriger Sohn Murat ist im Februar 1995 in Izmir in Polizeihaft verschwunden.
Ein Trupp türkischer Aufstandspolizist:innen versuchte zu unterbinden, dass Blumen an dem abgesperrten Platz am Rande der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im Stadtteil Beyoğlu niedergelegt werden. Die von der Istanbuler IHD-Vorsitzenden Gülseren Yoleri und weiteren Aktiven des Menschenrechtsvereins unterstützte Gruppe trotzte den Behinderungsversuchen der Einsatzkräfte und warfen ihre mitgebrachten Nelken auf den Platz. „Es ist unser angestammter Platz, an dem wir seit Jahrzehnten Aufklärung über das Schicksal unserer Toten und Vermissten fordern. Weder werden wir ihn aufgeben noch unseren Kampf. Galatasaray und die Verschwundenen bleiben unvergessen. Ebenso bleibt uns unauslöschlich in Erinnerung, dass dieser Staat uns das Recht auf Trauer verweigert“, sagte Hanife Yıldız weiter. Im Anschluss veranstalteten die Teilnehmenden des Sit-ins einen kleinen Marsch bis zum nahegelegenen IHD-Büro.
Seit über 27 Jahren fordern die Samstagsmütter Aufklärung über ihre in Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen. Es ist die am längsten andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams in der Türkei, die am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak begann. Geschätzt 17.000 Menschen, darunter Journalist:innen, Politiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen, „verschwanden“ in den achtziger und neunziger Jahren in der Türkei, vor allem in den kurdischen Regionen. Oftmals wurden ihre Leichen in geheime Massengräber auf Militärstützpunkten, aber auch auf Müllkippen oder in Brunnenschächte geworfen. Weder Polizei noch Justiz haben Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen.
Seit dem Widerstand im Istanbuler Gezi-Park 2013 sind Protestaktionen auf dem Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium verboten. Nur die Samstagsmütter durften hier weiter protestieren. Doch mit der Anschuldigung einer „Nähe zur PKK“ wurde am 25. August 2018 die 700. Mahnwache der Initiative verboten und gewaltsam aufgelöst. Seitdem sind alle Protestaktionen auf dem Galatasaray-Platz verboten. Bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie verlegten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins deshalb in eine Seitenstraße vor das Gebäude des IHD. Seit Corona werden die Zusammenkünfte virtuell abgehalten.[1]