Latife Demirci Kahya vom HDP-Frauenrat erklärt zur gerichtlichen Bestätigung des Austritts aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt, dass diese Gerichtsentscheidung inakzeptabel ist.
Der Staatsrat (tr. Danıştay) in Ankara hatte am Dienstag die Klage gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt zurückgewiesen. Laut Urteil des Staatsrats ist der vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan per Dekret verhängte Austritt verfassungskonform. Im ANF-Gespräch äußert sich Latife Demirci Kahya vom Frauenrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu der Entscheidung und erklärt: „Wir werden die Istanbul-Konvention nicht der Willkür eines Mannes überlassen. Die Istanbul-Konvention ist unser, wir werden sie nicht aufgeben. Für uns ist der Austritt ungültig.“
Die HDP-Politikerin ging auch auf die Repression ein und hob hervor, wie der Kampf gegen die zunehmende Armut, den Hunger, die Arbeitslosigkeit, die Frauenmorde und die Kriegstreiberei unterdrückt werde. Sie sagte: „Wir werden entweder ermordet oder vor Gericht gestellt, weil wir die von der monistischen Männerherrschaft gezogenen Grenzen nicht akzeptieren und nicht mit diesen gesetzten Grenzen leben wollen.“
„Wir wollen eine Lösung, nicht den Tod“
Angesichts der Verhaftungs- und Festnahmewellen gegen Frauenorganisationen betont Kahya: „Wir Frauen wollen eine Lösung, nicht den Tod. Als Frauen werden wir verhaftet und vor Gericht gestellt, weil wir für Frieden kämpfen. Wir kämpfen gemeinsam für unser Leben, unsere Arbeit, unsere Zukunft und unsere Freiheit. Wir kämpfen gegen diejenigen, die versuchen, unsere in jahrelangen Kämpfen errungenen Rechte an sich zu reißen, gegen diejenigen, die versuchen, unsere Präsenz im Arbeitsleben durch Beschäftigungspakete einzuschränken, gegen diejenigen, die Männerkumpanei mit Mobbing und Schikanen am Arbeitsplatz zeigen, gegen Arbeitsunfälle, die eigentlich Morde sind. Wir sagen, die Arbeit ist unser. Wir Frauen werden niemals nachgeben.“
„Der Austritt bedeutet nichts anderes als Straflosigkeit und Zunahme der Gewalt“
Kaya erklärt, die Frauenbewegung werde das Urteil des Staatsrats nicht hinnehmen und auf allen Ebenen dagegen vorgehen: „Wir sagen, wir werden die Istanbul-Konvention nicht aufgeben. Ihre Unterzeichnung ist eine Errungenschaft des feministischen Kampfes, den wir auf den Straßen, Plätzen und in allen Lebensbereichen geführt haben. Wir sind entschlossen, ihre effektive Umsetzung sicherzustellen. Die weiblichen HDP-Abgeordneten trugen die Stimme und die Forderungen der Frauenrevolte von den Häusern und Straßen ins Parlament. Der Rückzug aus der Istanbul-Konvention bedeutet, dass gewollt ist, dass die Gewalt von Männern und des Staates zunimmt und straffrei bleibt. Mörderische Männer werden ermutigt, diese Verbrechen zu begehen.“
„Wir geben die Istanbul-Konvention nicht auf“
Vor dem Hintergrund, dass Gerichte und Staatsrat von Regimechef Erdoğan stark beeinflusst werden, überrascht Kahya das Urteil aber nicht. Sie sagt: „Der Staatsrat hat uns mit seiner Entscheidung nicht überrascht, als er einen Beschluss unterzeichnete, der die Ermordung von Frauen quasi dekretiert. Die Istanbul-Konvention, die durch den Kampf von Tausenden von Frauen unterzeichnet wurde, ist nie wirksam umgesetzt worden. Diejenigen, die die Istanbul-Konvention aufkündigen wollen, diejenigen, die Mörder und Täter unter dem Vorwand der Epidemie in einem Land freilassen, in dem jeden Tag mindestens fünf Frauen ermordet werden, sind für die Ermordung von noch mehr Frauen verantwortlich. Die Aufhebung der Istanbul-Konvention durch die mitternächtliche Entscheidung eines einzelnen Mannes und die Abweisung der dagegen eingereichten Klage sind Beweise dafür, dass der Staat, anstatt die Verantwortung für die Morde an Frauen zu übernehmen, den Mördern und Tätern auf die Schulter klopft. Es ist kein Gesetzestext, über den hier entschieden wurde, es ist nicht nur ein Vertrag, der außer Kraft gesetzt wurde, es geht hier um die Perspektive der Justiz auf das Recht auf Leben. Als Frauenorganisationen erkennen wir die rechtswidrige Entscheidung des Staatsrats weder an noch akzeptieren wir sie. Wir haben gemeinsam mit Frauenbewegungen, Feministinnen und Frauen aus der kurdischen Frauenbewegung für die wirksame Umsetzung der Istanbul-Konvention gekämpft und werden dies auch weiterhin tun. Wir werden die Istanbul-Konvention nicht der Willkür eines einzelnen Mannes überlassen. Die Istanbul-Konvention gehört uns, wir werden nicht aufgeben. Für uns ist es noch nicht vorbei.“
„Der Widerstand wird pausenlos weitergehen“
Kahya erklärt mit Perspektive auf das weitere Vorgehen: „Als Frauen werden wir das tun, was wir am besten können, wenn unser Leben so bedroht ist. Wir werden in allen Bereichen kämpfen, um unser Leben und unsere Errungenschaften zu verteidigen. In dem Maße, wie sich die wirtschaftliche und politische Krise verschärft, verstärkt der herrschende Block seine Angriffe auf die Werktätigen, die Kurd:innen, die Frauen und die Frauenbewegung. Er versucht, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Es wird versucht, alle Errungenschaften von Frauen zu zerstören. Wir sind mit endlosen Angriffen konfrontiert, vom Austritt aus der Istanbul-Konvention, der Unterhaltsregelung, den Strafnachlässen für patriarchale Mörder und den Verbotsverfahren gegen Frauenorganisationen. Wir Frauen und Frauenorganisationen haben durch unsere Erfahrungen auf den Plätzen, auf der Straße und im Parlament gelernt, dass wir diese Welle von Angriffen durch gemeinsames Handeln brechen können.“[1]