An einem Gericht in Ankara ist der neu aufgerollte Prozess gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş wegen „Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind“ gestartet. Die Anklage fordert bis zu acht Jahre Haft.
An einem Strafgericht in Ankara ist am Freitag der neu aufgerollte Prozess gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş wegen „Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind“ gestartet. Die Staatsanwaltschaft fordert bis zu acht Jahre Haft für den früheren Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP).
Gegenstand des Verfahrens ist eine angebliche Bedrohung von Yüksel Kocaman, ehemaliger Chefankläger in der türkischen Hauptstadt und mittlerweile Staatsanwalt am Kassationshof. Er gilt als treuer Gefolgsmann von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, beide lernten sich 1999 im Gefängnis kennen. Kocaman war der für die Vollzugsanstalt zuständige Staatsanwalt, Erdoğan saß wegen einem volksverhetzenden Gedicht in Untersuchungshaft. Kocaman gilt zudem als der Ankläger, der trotz EGMR-Urteil die Freilassung von Demirtaş verhinderte.
Im Mai 2021 verurteilte die 25. Schwurgerichtskammer Ankara Demirtaş aufgrund einer Äußerung zur Hochzeit von Kocaman zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe. „Es gab eine Zeit, als Staatsanwälten sogar gepanzerte Fahrzeuge geschenkt wurden. Dennoch gelang es ihnen nicht, sich der Justiz zu entziehen. Die Geschenktüten, die euch jemand in die Hände drückt, werden euch ebenfalls nicht vor Strafverfolgung bewahren“, kommentierte Demirtaş die Feier unter anderem in einem anderen anhängigen Verfahren gegen ihn. An der Hochzeit im Jahr 2020 im Sheraton-Hotel in Ankara waren neben Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch der Vorsitzende des Kassationshofs, die Minister für Inneres und Justiz, der Generalstabschef und der Vorsitzende der Wahlkommission zu Gast.
Vergangenen April wurde das Urteil gegen Demirtaş von einem regionalen Berufungsgericht kassiert, die Sache wurde zur erneuten Verhandlung an die 25. Schwurgerichtskammer Ankara zurückverwiesen. Das Strafmaß sei zu niedrig gewesen, wurde im Wesentlichen zur Begründung aufgeführt. Außerdem habe Demirtaş mit seiner Aussage Kocaman als „Person in einem Amt für Antiterrorbekämpfung“ bei „Anhängern von Terrororganisationen zur Zielscheibe“ gemacht und damit gegen das Antiterrorgesetz Nr. 3713 Art. 6/1 verstoßen. Der Artikel regelt das „Verbot der Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind, oder anderer Personen, die so zur Zielscheibe von Gewalttaten werden könnten, ferner die Ankündigung, dass gegen bestimmte feststellbare Personen von Terroristen Gewalttaten begangen werden könnten.“ Nicht erforderlich ist, dass es tatsächlich zu einem Anschlag gegen die genannten Personen kommt.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts seien beim ersten Prozess gegen Demirtaş Anklagepunkte reduziert worden, das Strafmaß damit zu niedrig ausgefallen. Die Staatsanwaltschaft hatte in dem Verfahren bis zu acht Jahre Freiheitsstrafe für Demirtaş gefordert, auch im neuen Prozess verlangt die Anklage dieses Strafmaß. Beim heutigen Auftakt stellte die Verteidigung des 49-Jährigen einen Antrag auf Fristverlängerung für die Verteidigung, der vom Gericht verworfen wurde. Das Verfahren wird am 16. September fortgesetzt.
Demirtaş trotz EGMR-Urteil im Gefängnis
Selahattin Demirtaş ist seit über fünf Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde im November 2016 zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten, darunter der früheren Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, verhaftet. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird er nicht freigelassen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm im Hauptverfahren unter anderem Gründung und Führung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Sollte Demirtaş verurteilt werden, drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Im Verfahren um die Proteste vom Oktober 2014 gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall auf die Stadt Kobanê in Rojava werden für Demirtaş sogar bis zu 15.000 utopische Jahre Gefängnis gefordert. In mehreren Verfahren, darunter wegen Präsidentenbeleidigung, wurde Demirtaş bereits zu verschiedenhohen Haftstrafen verurteilt.[1]