Das 2021 ergangene Urteil über zweieinhalb Jahre Haft gegen Selahattin Demirtaş wegen „Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind“ ist kassiert worden. Der Fall muss wegen unzureichendem Strafmaß neu verhandelt werde.
Das vor knapp einem Jahr ergangene Urteil über zweieinhalb Jahre Haft gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş wegen „Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind“ ist kassiert worden. Das regionale Berufungsgericht in Ankara hat die Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an die 25. Schwurgerichtskammer Ankara zurückverwiesen. Das Strafmaß sei zu niedrig, wird im Wesentlichen zur Begründung aufgeführt.
In dem Prozess ging es um eine angebliche Bedrohung von Yüksel Kocaman, ehemaliger Chefankläger in der türkischen Hauptstadt und inzwischen Staatsanwalt am Kassationshof. Er gilt als treuer Gefolgsmann von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den er 1999 im Gefängnis kennenlernte. Kocaman war der für die Vollzugsanstalt zuständige Staatsanwalt, Erdoğan saß wegen einem volksverhetzenden Gedicht in Untersuchungshaft. Kocaman gilt zudem als der Ankläger, der trotz EGMR-Urteil die Freilassung von Demirtaş verhinderte.
Gegenstand des Verfahrens ist ein Kommentar des 49-Jährigen aus Anlass der Hochzeit des Staatsanwalts 2020 im Sheraton in Ankara, an der neben Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch der Vorsitzende des Kassationshofs, die Minister für Inneres und Justiz, der Generalstabschef und der Vorsitzende der Wahlkommission zu Gast waren. „Es gab eine Zeit, als Staatsanwälten sogar gepanzerte Fahrzeuge geschenkt wurden. Dennoch gelang es ihnen nicht, sich der Justiz zu entziehen. Die Geschenktüten, die euch jemand in die Hände drückt, werden euch ebenfalls nicht vor Strafverfolgung bewahren.“
Laut Berufungsgericht habe Demirtaş mit dieser Äußerung gegen das Antiterrorgesetz Nr. 3713 Art. 6/1 verstoßen. Der Artikel regelt das „Verbot der Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind, oder anderer Personen, die so zur Zielscheibe von Gewalttaten werden könnten, ferner die Ankündigung, dass gegen bestimmte feststellbare Personen von Terroristen Gewalttaten begangen werden könnten.“ Nicht erforderlich ist, dass es tatsächlich zu einem Anschlag gegen die genannten Personen kommt. Nach Auffassung des Gerichts seien bei dem Prozess gegen Demirtaş Anklagepunkte reduziert und das Strafmaß damit zu niedrig ausgefallen. Die Staatsanwaltschaft hatte in dem Verfahren bis zu acht Jahre Freiheitsstrafe für Demirtaş gefordert. Wann der Prozess neu aufgerollt wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar.
Demirtaş trotz EGMR-Urteil im Gefängnis
Selahattin Demirtaş ist seit über fünf Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde im November 2016 zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten, darunter der früheren Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, verhaftet. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird er nicht freigelassen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm im Hauptverfahren unter anderem Gründung und Führung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Sollte Demirtaş verurteilt werden, drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Im Verfahren um die Proteste vom Oktober 2014 gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall auf die Stadt Kobanê in Rojava werden für Demirtaş sogar bis zu 15.000 utopische Jahre Gefängnis gefordert. In mehreren Verfahren, darunter wegen Präsidentenbeleidigung, wurde Demirtaş bereits zu verschiedenhohen Haftstrafen verurteilt.[1]