Die Juristin Çiğdem Kozan macht auf die zunehmenden Rechtsverletzungen in türkischen Gefängnissen aufmerksam. Über die Entlassung politischer Gefangener aus der Haft entscheidet nicht ein Gericht, sondern das Vollzugspersonal.
Çiğdem Kozan, die Ko-Vorsitzende der Gefängniskommission des Verbands der freiheitlichen Jurist:innen (ÖHD) in Ankara, hat sich gegenüber ANF zu den täglich zunehmenden Rechtsverletzungen und der Willkür in den Gefängnissen der Türkei geäußert.
Kozan erklärte, dass das Aussetzen der Entlassung das Hauptanliegen der Angehörigen von Gefangenen sei, und sagte: „Gefangene, die ihre Strafe abgesessen haben und unter Inanspruchnahme des gesetzlich vorgesehenen Rechts auf Bewährung freigelassen werden müssten, werden nicht aus der Haft entlassen. Um das zu legitimieren, wird auf unrechtmäßige Entscheidungen und Verfahren zurückgegriffen. Gegen die Gefangenen werden aus nichtigen Gründen Disziplinarstrafen verhängt, mit denen dann die rechtswidrige Aussetzung der Entlassung begründet wird. Zum Beispiel wurden im Frauengefängnis Sincan 50 weibliche Häftlinge wegen Halay-Tanzens und Volksliedern zu Disziplinarstrafen verurteilt. Auch auf Beschluss des sogenannten Verwaltungs- und Beobachtungsausschusses werden Entlassungen ausgesetzt. Dieser Ausschuss besteht nicht aus Juristinnen und Juristen, sondern setzt sich aus Personen wie dem Gefängnisdirektor, dessen Vize, Verwaltungsbeamten, dem Gefängnisarzt, dem Psychologen, dem Chefaufseher und dem technischen Personal zusammen, er trifft aber Entscheidungen über die Freiheit von Menschen, als wäre er ein Gericht.“
Reue wird nur von politischen Gefangenen verlangt
Kozan betonte, dass außer einem Gericht keine Institution Entscheidungen über die Freiheit von Einzelpersonen treffen könne, und fuhr fort: „Die Botschaft des türkischen Staates an die politischen Gefangenen ist: eure Freiheit liegt nicht einmal in den Händen der Gerichte, sondern in den Händen der Gefängnisverwaltung. Seine Entscheidungen trifft der Verwaltungs- und Beobachtungsausschuss aufgrund von rechtswidrigen Bewertungen. Als Begründung für die Entscheidungen werden von dem Ausschuss oft tragikomische Gründe wie das Umarmen eines Freundes im Vorbeigehen auf dem Flur, die Verträglichkeit mit den Mitgefangenen oder, noch absurder, das Nichtbesuchen der Schule für einen Häftling, der Lehrer ist, angeführt. Tatsächlich sollen dadurch die politischen Gefangenen zur Reue gezwungen werden. Wir sprechen jedoch von Personen, die ihre Handlungen sowieso nicht als Straftat ansehen, wie kann eine solche Person Reue bekunden? Durch diese Entscheidungen werden den Einzelnen rechtswidrig die Freiheitsrechte entzogen. Der Staat hat das Aussetzen der Entlassung durch die Gefängnisverwaltungen, wodurch eine doppelte Bestrafung erfolgt, zur Regel gemacht. Gefangene protestieren und erheben ihre Stimme gegen diese rechtswidrigen Entscheidungen. Zum Beispiel traten in einigen Justizvollzugsanstalten Gefangene in einen Hungerstreik. Auch hier führen die Familien der Gefangenen Aktionen im Zusammenhang mit der Aussetzung von Entlassungen durch. Abgesehen davon werden die Gefangenen daran gehindert, ihre sozialen Rechte wie Kommunikation und Teilnahme an Kursen und Veranstaltungen wahrzunehmen. Auch Verlegungen in eine andere Justizvollzugsanstalt oder Zelle werden nicht vorgenommen. All diese Verletzungen sind es, die das Gefängnis in einen Ort der Folter für Gefangene verwandeln.“
„Todesfälle müssen untersucht werden“
Die Todesfälle in den Gefängnissen seien nicht nur Folgen von Selbstmord oder Gesundheitsproblemen, erklärte Kozan und merkte an, dass die Todesursachen untersucht werden müssen. Sie erinnerte an die Spuren von Misshandlung an den Körpern verstorbener Gefangener: „Konkret können wir sagen, dass es keine wirksamen Untersuchungen gibt. Es gibt oft Berichte über Todesfälle in den Gefängnissen, aber die Art und Weise dieser Todesfälle wird vertuscht und es werden keinerlei konkrete Ermittlungen durchgeführt. Nach dem Tod von Ferhan Yılmaz wurde von der Gefängnisleitung behauptet, er sei an einem Herzinfarkt verstorben; aber auf den Bildern, die auch in der Presse erschienen, war zu sehen, dass er schwer gefoltert wurde, seine Nase gebrochen war und er schwere Verletzungen am ganzen Körper aufwies. Der Gefangene Halil Kasan sagte vor seiner Verlegung auf die Intensivstation in dem letzten Telefonat mit seiner Familie, dass sie gefoltert und von den Wachen in den Selbstmord getrieben worden seien. An dieser Stelle möchte ich folgendes festhalten: Selbst wenn diese Gefangenen wie behauptet Selbstmord begangen haben, muss die Frage gestellt werden, ob in dem jeweiligen Fall Angehörige des Wachpersonals oder andere Angestellte des Gefängnisses diese Gefangenen in den Selbstmord getrieben haben. Selbst wenn es sich bei diesen Todesfällen um Selbstmorde handeln sollte, bin ich der Überzeugung, dass die Auswirkungen der Haftbedingungen, der Praktiken in den Gefängnissen, der Rechtsverletzungen und der Isolation auf die Psyche der Gefangenen gravierend sind und untersucht werden müssen. Selbst wenn Garibe Gezers Tod ein Selbstmord war, muss die Frage gestellt werden, welchen Einfluss dabei die Isolation in einer Gummizelle und der Missbrauch durch Angehörige des Wachpersonals hatten.“
„Folter und Unterdrückung gegen kurdische Gefangene“
Kozan machte auf die Situation der schwer kranken Gefangenen aufmerksam und sagte: „Die Rechtsmedizin attestiert sogar schwer kranken Gefangenen Haftfähigkeit. Diese Gefangenen sterben entweder in den Gefängnissen oder sie werden kurz vor ihrem Tod entlassen. Bilder von Mehmet Emin Özkan wurden auch in der Presse dokumentiert. Er kann kaum laufen und sich nicht selbst versorgen. Es ist ihm unmöglich, im Gefängnis zu überleben, aber er wird nicht entlassen. Das Ausbildungs- und Forschungskrankenhaus Diyarbakir hat ihm die Haftunfähigkeit attestiert, aber das zuständige Gericht gibt ihn nicht frei. Ebenso wurde Aysel Tuğluk vom Universitätsklinikum der Medizinischen Fakultät Kocaeli attestiert, dass sie nicht im Gefängnis bleiben kann, aber das Institut für Gerichtsmedizin behauptet, dass sie haftfähig sei. Denn die Rechtsmedizin entscheidet nicht nach medizinischer Wissenschaft und Ethik, sondern nach der politischen Wetterlage. Die Todesfälle sind das Ergebnis von Haftbedingungen und Praktiken in den Gefängnissen sowie der Berichte und Entscheidungen von Gesundheits- und Justizbehörden und können nicht unabhängig davon betrachtet werden. Die Todesfälle in den Gefängnissen nur als Folge von Selbstmord oder gesundheitlicher Probleme zu sehen bedeutet, die Folter und Unterdrückung kurdischer Gefangener zu ignorieren.“
„Behandlung Gefangener nach Feindstrafrecht muss beendet werden“
Der türkische Staat könne diese Probleme zwar teilweise lösen, indem er sich an sein eigenes innerstaatliches Recht und die von ihm ratifizierten internationalen Konventionen halte, erklärte Kozan. Eine Lösung könne es jedoch nur geben, wenn das Feindrecht aufgegeben werde. „Die Gefangenen würden die ihnen verhängten Strafen zumindest nach den Grundsätzen des Weltrechts und der internationalen Konventionen absitzen. Eine Haftzeit ohne Isolation und Verletzung von Rechten der Gefangenen kann eine Lösung für einige Probleme in den Gefängnissen sein. Aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es im türkischen Recht zu viele willkürliche Bestimmungen gibt, die gegen die Gefangenen ausgelegt werden können. Die zuletzt eingeführten Verwaltungs- und Beobachtungsausschüsse sind dafür ein deutliches Beispiel. Wir sprechen von einem System, das Gefangene nicht freilässt, obwohl sie ihre Haftstrafe abgesessen haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass zuallererst ein Umdenken zu diesem Thema stattfindet und die Mentalität, die die Rechte der Gefangenen verletzt und dies auch gesetzlich legitimiert, aufgegeben wird. Um es deutlich zu formulieren: Das für politische Gefangene geltende Feindstrafrecht muss aufgegeben werden, nur dann können die Probleme gelöst werden.[1]