Der politische Gefangene Selim Ertene wird auch nach 30 Jahren Haft nicht entlassen. Die Behörden unterstellen ihm eine „schlechte Sozialprognose“ und verweigern trotz Ablauf seiner Haftstrafe die Freilassung.
Der heute 50-jährige Selim Ertene ist im Juli 1992 in Adana wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, gemeint ist die #PKK#, inhaftiert worden. Vor einem der berüchtigten Staatssicherheitsgerichte (DGM) wurde Ertene wegen „versuchten Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die letzten 15 Jahre seiner Haft saß Ertene in Rize ab. Er wurde jedoch nicht wie vorgesehen nach 30 Jahren am 28. Juli entlassen. Stattdessen wurde seine Freilassung um sechs weitere Monate verzögert, weil die Gefängniskommission ihm eine schlechte Sozialprognose ausstellte. Als Begründung dient der Vorwurf, dass Ertene 2012 eine Überwachungskamera im Gefängnis beschädigt haben soll.
Vater und Mutter nicht mehr gesehen
Recep Ertene (56), der ältere Bruder von Selim Ertene, erklärt, die verweigerte Freilassung seines Bruders nach 30 Jahren Haft sei nicht akzeptabel. Ertene wies darauf hin, dass sein Bruder seit 15 Jahren in Rize einsitzt und er ihn aufgrund der Entfernung nicht besuchen könne: „Mein Bruder und wir als Familie haben 30 Jahre lang gelitten.“ Sein Vater und seine Mutter seien gestorben, ohne ihren Sohn wiedersehen zu können. Er fragt: „Wenn seine Strafe vorbei ist, warum lassen sie ihn nicht frei? Wenn man seine Strafe verlängert, warum bringt man ihn nicht an einen Ort in der Nähe? Jedes Mal, wenn wir ihn besuchen wollen, reisen wir zwei bis drei Tage. Wir erleben eine schwere Zeit.“
„Regierung bestraft nach ihrem Gutdünken“
Recep Ertene schließt mit den Worten: „In der Türkei gibt es kein Gesetz. Wie kann eine Person nicht freigelassen werden, obwohl ihre Strafe abgelaufen ist? Die Regierung bestraft nach ihrem Gutdünken. Sie wollen die Gefangenen nicht freigeben und sie zur ‚Reue‘ zwingen. Wie kann jemand, der 30 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat, sagen: ‚Ich bin reumütig?‘
Die Praxis der „Reue“ als Vorbedingung für eine Entlassung ist mittlerweile bei politischen Gefangenen in der Türkei üblich. So werden Haltungen und Meinungen bestraft und versucht, die Gefangenen zu zermürben und zu brechen.[1]