Die Argumentation, die Türkei habe legitime Sicherheitsbedenken und das Recht, „den Terrorismus zu bekämpfen, ist manipulativ. Diese #NATO#-Vereinbarung wird „Legitimität für illegitime Handlungen schaffen.
„Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir den Prozess einfrieren werden, wenn Schweden und Finnland keine Schritte unternehmen, um unsere Bedingungen zu erfüllen. Das sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 18. Juli in Ankara und legte damit im Alleingang die Spielregeln für Finnlands und Schwedens Bewerbung um einen NATO-Beitritt fest. Aber können schwedische und finnische Regierungsvertreter:innen der Öffentlichkeit erklären, was Erdoğans „Bedingungen sind und was sie tun werden, um zu verhindern, dass ihr NATO-Beitritt „eingefroren wird?
Sie können und dürfen Erdoğan nicht als jemanden wahrnehmen, mit dem man umgehen kann. Er ist ein Autokrat, der nicht davor zurückschreckt, die schwedische und finnische Bevölkerung als Spielball seiner Machtspiele zu missbrauchen; der antidemokratisch ist; der völkerrechtswidrige Kriege gegen die Kurd:innen führt; und der diejenigen kriminalisiert, die sich ihm widersetzen. Mit ihm zu arbeiten bedeutet, die Menschheit zu verraten. Wenn Sie das trotzdem akzeptieren, entsteht ein moralisches Problem, das Sie nicht wegdiskutieren können, weder vor Ihrer Zivilgesellschaft noch vor uns.
Wir, das kurdische Volk, setzen nicht unsere eigenen Bedingungen durch. Aber ich möchte ein wenig über die „Bedingungen von Erdoğan sprechen, die unsere Zukunft beeinflussen werden. Mit diesem Abkommen haben wir wieder einmal erlebt, dass über, aber nicht mit den Kurd:innen verhandelt wird. Umso notwendiger ist es, die aktuellen Diskussionen um den von Erdoğan vorgeschlagenen Pakt aus kurdischer Sicht zu betrachten. Anstatt auf die Stimmen der Kurd:innen zu hören, wird Erdoğans Drohungen und Erpressungsversuchen Raum gegeben.
Im Kurdischen gibt es ein Sprichwort: „Die Kurd:innen haben keine Freunde außer den Bergen (Dostên Kurdan bi tenê çiya ne). Diese Redewendung bezieht sich auf den Zustand der Bedrohung, der ständigen Sicherheitsbedenken, des Verlassenseins und der Isolation, den die Kurd:innen weiterhin ertragen müssen. Wann immer die Kurd:innen verfolgt wurden, haben sie sich in die Berge zurückgezogen, um zu überleben. In ihrer Heimat, wo sie ausgebeutet und diskriminiert werden, wo sie von kulturellen, politischen, demokratischen und somit universellen Rechten ausgeschlossen sind, müssen die Kurd:innen Widerstand leisten. Nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch international müssen sie sich gegen diskriminierende Praktiken wehren.
Als Europavertreter der minderheitenfreundlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), die bei den letzten Wahlen in der Türkei mehr als sechs Millionen Stimmen erhalten hat - mehr als die Bevölkerung Finnlands - und in der die Kurd:innen eine wichtige Rolle spielen, möchte ich zu dieser wichtigen Debatte beitragen. Es ist auch wichtig zu wissen, dass es derzeit ein Verfahren vor dem Verfassungsgericht gibt, das auf ein Verbot der HDP abzielt. Es besteht die große Gefahr, dass die Regierung Erdoğan die Justiz, die vollständig unter ihrer Kontrolle steht, nutzt, um die HDP noch vor den für Juni 2023 geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu verbieten. Deshalb sehe ich es als eine meiner Aufgaben an, Artikel zu schreiben und die Einwände aller Menschen zu vertreten, die die HDP unterstützen. Dabei geht es natürlich nicht nur um die Stimmen von Millionen von Kurd:innen in der Türkei, sondern auch um die kulturellen, sozialen und politischen Beziehungen dieser Menschen zu den Kurd:innen in Syrien, Irak und Iran. Damit erweitert sich der Umfang unserer Verantwortung noch einmal erheblich. Der Begriff „Kurdistan muss entkolonialisiert und die Forderung der Kurd:innen nach Freiheit und Demokratie entkriminalisiert werden. Alles, was Erdoğan über oder angeblich im Namen der Kurd:innen sagt, entspringt einer rassistischen und antikurdischen Politik und genießt keinerlei Anerkennung im Namen der kurdischen Gemeinschaft.
Erdoğans Abkommen und „Sicherheitsbedenken
Das Abkommen, das auf dem NATO-Gipfel in Madrid Ende Juni als Durchbruch gefeiert wurde, wird Erdoğan nur dazu ermutigen, weitere Erpressungsakte gegen den Westen und Angriffskriege gegen die Kurd:innen zu führen. Erdoğan hat es nun schriftlich, dass er Unterstützung im Kampf gegen die kurdische Bevölkerung und die demokratische Opposition verlangen kann. Seine kurdenfeindliche Politik wird damit auch Schweden und Finnland gegen deren Willen aufgezwungen.
Beide Länder werden in naher Zukunft dem NATO-Militärbündnis beitreten. Kurz nach der Einigung auf dem Gipfel wurde auch bekannt gegeben, dass die USA die Modernisierung der türkischen F16-Kampfjetflotte unterstützen werden. Eines ist klar: Das in Madrid vereinbarte Memorandum wird keinen Beitrag zur türkischen Literatur leisten und die Kampfjets werden nicht die türkischen Museen schmücken, sondern natürlich für den Krieg gegen die Kurd:innen eingesetzt werden.
Dies ist keine wilde Anschuldigung. Vielmehr kam die Einigung über den NATO-Beitritt der beiden Länder erst zustande, nachdem Erdoğans Türkei ihr Veto aufgegeben hatte - und nachdem ein Abkommen unterzeichnet worden war, dem einmal mehr kurdische Interessen und kurdisches Leben geopfert werden sollten.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte im Vorfeld des Madrider Gipfels, die „Sicherheitsbedenken, die Erdoğans Türkei mit ihrem Veto gegen die NATO-Beitrittsanträge Schwedens und Finnlands geäußert habe, seien „legitim. Auch die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson schien Erdoğans Äußerungen zu unterstützen und sagte: „Wir nehmen die türkischen Bedenken sehr ernst, nicht zuletzt die Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus.
Aber Stoltenbergs und Anderssons Erklärungen sind unrechtmäßig und falsch, weil sie auf einer falschen Grundlage zustande gekommen sind. Sie sind falsch, weil sie Erdoğan freie Hand für weitere Repressionen und völkerrechtswidrige Kriege geben. Nichts an diesem Abkommen ist richtig.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Existenz des türkischen Staates historisch auf den Völkermorden an den Armenier:innen und Assyrer:innen und der Verweigerung der Grundrechte anderer Völker, insbesondere der Kurd:innen, beruht. Folglich sind seit der Gründung des Staates alle, die die herrschende politische Kultur der Türkei in Frage stellen, gewaltsam bekämpft worden.
Die Kurd:innen in der Türkei haben ein existenzielles Problem
Deshalb stehen die Kurd:innen in der Türkei vor einem existenziellen Problem. Die vorherrschende politische Doktrin fordert im Grunde die Vernichtung von allem, was nicht als türkisch definiert oder bezeichnet werden kann. Das hundert Jahre alte Problem der kurdischen Identität und der vierzig Jahre alte Konflikt zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat sind also beide das direkte Ergebnis der türkischen Staatsideologie. Das Problem sind nicht die Kurd:innen, sondern die totalitären Methoden der türkischen Staatsideologie. Diese hat einen antikurdischen Charakter, der sich auch in der Verfassung niederschlägt, die offiziell alle in der Türkei lebenden Menschen zur „Türkisierung zwingt. Dazu gehört die Auferlegung einer bestimmten Religion, einer bestimmten Sprache, einer bestimmten Lebensweise und bestimmter Geschlechternormen.
Der ehemalige schwedische Entwicklungsminister Pierre Schori erklärte, das NATO-Memorandum sei ein großer Erfolg für Erdoğan, eine Schande für Schweden und ein Verrat an den Kurd:innen. Er fügte hinzu, er glaube, dass „der Text von den Türken geschrieben wurde. Es handelt sich also nicht um ein faires Abkommen zwischen mehreren Ländern, sondern das Abkommen wurde von Erdoğan erzwungen. Dies wird verheerende Folgen für die Kurd:innen und gleichzeitig für die demokratischen Werte in Schweden und Finnland haben, wenn es nicht doch noch annulliert wird.
Die Kurd:innen sind nicht Teil eines Entscheidungsgremiums, das die Befugnis hat, die Frage zu stellen, ob die NATO erweitert, reduziert oder gar aufgelöst werden soll. Aber sie haben das Recht, ein klares Bekenntnis zu Völkerrecht, Demokratie und Freiheit zu fordern, das auch für die kurdische Bevölkerung gelten muss.
Keine Organisation hat das Recht, die universellen Menschenrechte zu ihrem eigenen Vorteil und Profit zu missbrauchen - weder die Türkei noch die NATO noch die Länder, die sich um eine neue Mitgliedschaft in der Allianz bewerben.
Verantwortung für die Verteidigung universeller demokratischer Werte
Ingmar Bergmans Film „Shame von 1968 liefert eine historische und politische Lektion, die die gegenwärtige Diskussion erhellt. Der Film lehrt die Zuschauer:innen effektiv, wie die Geschichte die persönliche und kollektive ethische Verantwortung in Kriegssituationen prägt. In dem Film will ein Künstlerpaar vor einem Bürgerkrieg fliehen. Doch die Kriegswirren greifen auf ihre Insel über, und der Druck des Zeitgeschehens bricht auf allen Ebenen in ihren Alltag ein. Der zynische Bergman veranschaulicht schonungslos die Zerstörung menschlicher Beziehungen und die Unmöglichkeit, sich in die Isolation zurückzuziehen.
Der Film konzentriert sich auf den Einzelnen und die Gemeinschaft, auf das Gute wie auf das Böse in ihnen. Es geht um individuelle, ethische Werte, unterschiedliche Perspektiven, Entscheidungen - und damit um Handeln oder Nicht-Handeln.
Als die Türkei im Oktober 2019 unter dem Vorwand „berechtigter Sicherheitsbedenken Teile der autonomen, kurdisch geführten Regionen in Nord- und Ostsyrien angriff, solidarisierten sich viele Menschen auf der ganzen Welt mit den vom Krieg betroffenen Einwohnern der Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad). Sie wandten sich gegen den Krieg, der eine massive Bedrohung für die Sicherheit der Kurd:innen darstellte.
Zu dieser Zeit beschlossen Schweden und Finnland, ein Waffenembargo gegen die Türkei zu verhängen. Andere Länder hatten ihre Waffenexporte in die Türkei symbolisch eingeschränkt. Auf diese Weise wurde der völkerrechtswidrige Krieg der Türkei angeprangert. Dies war kein Gefallen für die Kurd:innen, sondern ein notwendiger Akt - die Übernahme von Verantwortung zur Verteidigung der universellen demokratischen Werte.
Das mit Erdoğan unterzeichnete Memorandum, das die Übernahme von Verantwortung durch die nordischen Länder durch die Aussetzung der Waffenverkäufe an die Türkei verurteilt und kriminalisiert, ist daher eine Verleugnung der Geschichte und ein ethisches Versagen. Sollte tatsächlich bald ein neuer Angriff auf Nord- und Ostsyrien beginnen, hat sich die türkische Regierung zwar nicht die Unterstützung Schwedens und Finnlands gesichert, aber zumindest deren Schweigen.
Aber wie kann man eine solche Haltung angesichts der Verstöße der Türkei gegen die Völker- und Menschenrechte akzeptieren? In diesem Sinne lenkt der Bergman-Film die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema, das uns alle dazu bringen sollte, unsere Position zu überdenken. Der Film lässt Parallelen zwischen seinen künstlerischen Protagonisten und dem Schicksal von Menschen in Kurdistan oder der Türkei erkennen, die die Extreme des Krieges erlebt haben. Millionen von Kurd:innen stehen jeden Tag vor äußerst schwierigen ethischen Entscheidungen: Widerstand leisten oder kapitulieren? Gehen oder bleiben? Bedrohte Mitmenschen schützen oder wegschauen? Soll man sein eigenes Leben riskieren, um andere zu retten? Wie weit soll man gehen, um in Friedenszeiten verkündete Werte zu verteidigen? Oder soll man einfach versuchen, die Situation auszunutzen?
Mit Hilfe des deutschen Philosophen Theodor Adorno können wir uns diese Frage stellen: Können wir ein richtiges Leben inmitten eines falschen Lebens führen?
Systematische Diskriminierung und Unterdrückung der Kurd:innen
Das Abkommen vom NATO-Gipfel verspricht viel - gegen die Kurd:innen und für die Türkei. Er ist nur das jüngste Beispiel dafür, wie die kurdenfeindliche Politik des türkischen Staates die Kurd:innen systematisch diskriminiert und unterdrückt. Die antikurdische Politik hat eine lange Vorgeschichte in der türkischen Staatspolitik.
Bereits 1934 verabschiedete das türkische Parlament das „Zwangsevakuierungsgesetz (İskân Kanunu), das den rechtlichen Rahmen für die Deportation der alevitischen Kurd:innen aus Dersim im Jahr 1935 schuf. Nur zwei Jahre später, am 4. Mai 1937, beschloss das türkische Kabinett in einer geheimen Sitzung: „Diesmal wird die Bevölkerung in dem rebellischen Gebiet zusammengetrieben und in andere Gebiete verlegt. [...] Wenn man sich nur mit einer offensiven Aktion begnügt, werden die Zentren des Widerstands fortbestehen. Aus diesem Grund wird es als notwendig erachtet, diejenigen, die vor Ort Waffen eingesetzt haben und einsetzen, endgültig außer Gefecht zu setzen, ihre Dörfer vollständig zu zerstören und ihre Familien zu entfernen.
„Züchtigung und Deportation (tedip ve tenkil) war der Ausdruck, mit dem die Massaker und Angriffe gerechtfertigt wurden. Etwas Ähnliches geschieht heute in der so genannten „Sicherheitszone, die Erdoğan mit Hilfe von EU-Geldern in Nordsyrien errichten will. Nach der Entscheidung der türkischen Regierung im Jahr 1937 wurde diese Politik blutig umgesetzt. Die Kurd:innen wehrten sich. Doch die türkischen Bodentruppen brannten Hunderte von Dörfern nieder, und Tausende von Zivilist:innen wurden ermordet, darunter auch Frauen und Kinder. Die türkische Luftwaffe bombardierte Dersim, wobei sie Brandbomben und Giftgas einsetzte. Etwa 70 000 Kurd:innen der alevitischen Minderheit fielen den Angriffen zum Opfer, rund 50 000 Menschen wurden deportiert.
Bis 1938 war der Aufstand in Dersim niedergeschlagen worden. Die Angriffe der türkischen Armee, die von einigen als „Säuberung bezeichnet wurden, endeten mit der Umbenennung von Dersim in „Tunceli („Bronzehand“). Von da an prangte auf den Bergen von Dersim der Slogan: „Ich bin stolz, ein Türke zu sein. Kein Dorf in der Region blieb von den Verwüstungen durch die türkische Armee verschont.
Die Berge Kurdistans und „Wir sind die Berge der Kurden
Seyit Ali Yüce, einer der Augenzeugen, der nach der „Säuberungsaktion in Dersim sieben Jahre lang in den Bergen Zuflucht suchte, erzählte mir von diesen Gräueltaten, während er im Exil lebte, bevor er 2009 starb. Er erzählte, dass die Provinz Dersim, das Hauptsiedlungsgebiet der kurdischen Alevit:innen in der Osttürkei, schon vor der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 von den Osmanen angegriffen worden war und Massaker erlebte. In dieser damals schwer zugänglichen Gebirgsregion konnten die kurdischen Alevit:innen nahezu unbehelligt ihrer traditionellen Kultur nachgehen.
Doch als der Völkermord in der Region begann, wurde der Hilfeschrei der Kurd:innen von niemandem gehört. „Die einzigen, die uns vor den Angriffen schützten, waren die Berge, hieß es damals. Sowohl davor als auch danach waren die Berge die Orte, an denen die Kurd:innen Schutz erhielten. Interessanterweise erzählte uns Seyit Ali Yüce, dass es auch konfessionellen Widerstand gegen die staatliche Unterdrückung gab. Er fügte hinzu, dass einer seiner Söhne, Xalid, 1986 in den Bergen von Dersim in einem Gefecht mit der türkischen Armee als Mitglied der PKK-Guerilla starb. Das Gleiche gilt für andere Teile Kurdistans, insbesondere für die Kurd:innen im Irak, die jahrzehntelang unter dem baathistischen Regime systematischen Massakern ausgesetzt waren. Nur die Berge boten ihnen Schutz.
Aber jetzt gibt es neben den Bergen Kurdistans auch „Berge in der ganzen Welt, die den Kurd:innen zur Seite stehen - unsere Freund:innen, Verbündeten und Unterstützer:innen.
In der Tat hat die Metapher der „Berge für die Kurd:innen eine Bedeutung, die über die der Freundinnen und Freunde hinausgeht. An dem historischen Punkt, den der Kampf der Kurd:innen heute erreicht hat, haben viele Menschen auf der ganzen Welt die Aussage „Wir sind die Berge der Kurd:innen gemacht, um zu erklären, dass sie mit den Kurd:innen solidarisch sind. Nach dem erfolgreichen Kampf der Kurd:innen gegen den IS und dem Aufbau des autonomen Projekts in Nordsyrien haben auch Menschen und Politiker:innen aus Schweden ähnliche Solidaritätsbekundungen abgegeben. Das war sehr bedeutsam und eine starke Position, die man damals einnehmen konnte. Aber um ein „Berg zu sein, muss man in der Lage sein, einem Sturm zu widerstehen.
Für das kurdische Volk sind solche Erklärungen genauso wichtig wie offizielle Verträge. Da die Kurd:innen vom offiziellen Völkerrecht ausgeschlossen sind, haben sie keine Staatsoberhäupter, die formelle Verträge schließen könnten, um ihren Schutz zu garantieren. Aus diesem Grund legen die Kurd:innen großen Wert auf Worte und moralische Haltungen. Es ist das Ergebnis ihrer Tradition, dass die Kurd:innen Worten vertrauen, wenn sie gesprochen werden, und von allen politischen Akteuren eine Haltung des Anstands verlangen.
Die Forderung der Kurd:innen, dass Schweden und Finnland gegen Erdoğans Drohungen Stellung beziehen, beruht auf dieser Tradition des Vertrauens und der moralischen Verantwortung. Wir werden in den kommenden Tagen herausfinden, ob die demokratischen und humanistischen Werte beider Länder bedeuten, dass sie wirklich als „Berge betrachtet werden können.
Die NATO-Vereinbarung wird „Legitimität für illegitime Handlungen schaffen
Die Türkei ist das Land, das in der Geschichte des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am häufigsten wegen Verstößen gegen die allgemeinen Menschenrechte verurteilt wurde - Gefängnisse, Verhaftungen, politische Gefangene, Folter, ungeklärte Morde, Misshandlungen, Rechtsverletzungen und so weiter.
Erdoğan tritt die demokratischen Werte in der Türkei mit Füßen, lässt Journalist:innen und Kritiker:innen mundtot machen und erklärt alle legitimen politischen Gegner - insbesondere die Kurd:innen - zu Terroristen, um sie inhaftieren zu können. Nach Angaben des türkischen Justizministeriums vom November 2021 sind die 383 Gefängnisse des Landes zu mehr als 110 Prozent ausgelastet, und die Türkei hat die höchste Inhaftierungsrate aller Länder des Europarats außer Russland. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Insassen.
Unter den Inhaftierten befinden sich Zehntausende von politischen Gefangenen, darunter mindestens 4000 Mitglieder der HDP, wie die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, sowie zahlreiche Abgeordnete und Bürgermeister:innen. Die Regierung Erdoğan will zudem in den nächsten fünf Jahren durch den Bau zahlreicher neuer Gefängnisse mehr als 100.000 weitere Haftplätze schaffen. All dies geschieht unter dem Vorwand der türkischen Sicherheitsbedenken.
Statt der Erpressung Erdoğans jetzt nachzugeben, wäre es angemessener, wenn die westlichen Mächte die Gegenforderung stellen würden: „Schaffen Sie in Ihrem Land demokratische Verhältnisse, in denen Menschen und die Opposition nicht systematisch verfolgt und willkürlich bestraft werden.
Durch ihren politischen Kampf haben die Kurd:innen Hoffnung und Glauben an ein pluralistisches, freies, demokratisches, ökologisches Modell geschaffen, das auf der Befreiung der Frauen beruht und wo immer sie leben. Ihr Kampf für ein Leben in Freiheit und Würde ist keine Bedrohung für die Türkei oder irgendjemand anderen. Die Bedrohung geht vielmehr von Autokraten und jenen aus, die unsere gemeinsamen universellen Werte gefährden, um ihre Macht zu erhalten oder auszuweiten. Zu solchen Figuren gehören Putin, Modi und Bolsonaro, und eine weitere ist Erdoğan, der uns allen eine nationalistische, islamistische, antidemokratische und antikurdische Weltanschauung aufzuzwingen versucht.
Die Behauptungen der internationalen Akteure, die Türkei habe „legitime Sicherheitsbedenken und das Recht, den Terrorismus zu bekämpfen, sind manipulativ und ein Instrument, das von Erdoğans Türkei willkürlich eingesetzt wird, um die legitimen Rechte der Kurd:innen und anderer Völker, die in Frieden und Freiheit leben wollen, zu untergraben. Diese NATO-Vereinbarung wird „Legitimität für illegitime Handlungen schaffen.
Unterdrücker können keine legitimen Sicherheitsbedenken gegenüber den von ihnen Unterdrückten geltend machen. Im Gegenteil: Wir unterdrückten Völker haben Sicherheitsbedenken, die von allen anderen moralisch, politisch und rechtlich unterstützt werden sollten. Es sind die Verweigerung der kurdischen Rechte und die Assimilationspolitik der dominierenden Staaten in der Region, insbesondere des türkischen Staates, die zu illegitimer und feindseliger Unterdrückung führen. Die Angriffe der Türkei und die Besetzung von mehrheitlich kurdischen Gebieten in Nordsyrien und Nordirak sind ein direkter Ausdruck dieser Politik.
In literarischen Kreisen der Türkei wird oft auf eine Szene in Bergmans Film verwiesen. Auf die Frage „Die Dinge stehen schlecht, wie soll die Welt gerettet werden? hören wir folgende Antwort: „Scham. Nur Scham kann die Welt retten. Es ist die moralische und politische Verantwortung der Gesellschaft in Schweden und Finnland, aber auch der gesamten westlichen Gemeinschaft, sich nicht weiter von Erdoğan erpressen zu lassen.[1]