Herausgeber_innenkollektiv des Andrea Wolf Instituts
Wir wissen was wir wollenIn Nord- und Ostsyrien findet eine Revolution der Frauen statt. Doch was heißt das eigentlich? 2018/2019 reiste eine feministische Delegation aus Deutschland in die nord- und ostsyrischen Gebiete, um besser zu verstehen, was eine Frauenrevolution bedeuten kann. Wie sieht diese Alternative, die die Frauen dort erkämpfen, verteidigen und aufbauen, in der Praxis aus? Wie leben sie, was erreichen sie und welche Herausforderungen gibt es? Welche Perspektive bietet der demokratische Konföderalismus im Mittleren Osten, hier in Europa und weltweit?
Die Teilnehmer_innen der Delegation hatten die Möglichkeit, mit zahlreichen Frauen in allen Bereichen der Revolution Nord- und Ostsyriens zu sprechen. Sie reisten durch große Teile der selbstverwalteten Gebiete und begannen, die Revolution aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen. In Interviews, welche die Delegation führte, berichten Frauen vor Ort von der Organisation in Räten, dem Aufbau einer alternativen Ökonomie und warum diese Revolution ohne Frauen nicht möglich wäre. Die Freundin Medya Abdullah führte in einem Gespräch, welches zur Zeit akuter Invasionsdrohungen der Türkei im Winter 2018 geführt wurde, die Stärke der Frauen eindrucksvoll vor Augen. Sie ist Mutter von sechs Kindern, die mittlerweile im Erwachsenenalter sind. Ihre Zeit widmet sie nun vor allem der Selbstverteidigung der Kommune. Sie ist im Frauenrat Dêrik Verantwortliche der Verteidigungskommission und Mitglied in der HPC-Jin, der autonomen Organisation der Frauen innerhalb der Verteidigungskräfte der Kommunen.
Warum und wie habt ihr angefangen, euch eigenständig als Frauen zu organisieren?
Medya Abdullah: Wir haben gesehen, dass etwas fehlt, wenn nur Männer an den Checkpoints stehen. Es sind die Frauen, die die meiste Gewalt erfahren und eigentlich haben sie einen eigenen, natürlichen Selbstverteidigungsreflex. Wir sehen auch, wie stark ihre Verbindung zur Kommune ist. Überall, wo während unserer Revolution Schwierigkeiten aufgetreten sind, waren es die Frauen, die sich einsetzten. Und deswegen haben wir gesagt, dass wir als Frauen auch die Selbstverteidigung der Gesellschaft übernehmen müssen. Und bis heute tragen wir diese Verantwortung mit unserer Arbeit. [...] Anfangs haben die Männer Witze über uns gemacht: »Frauen mit Waffen, Mütter die Angst vor der Waffe haben, was sollen die an den Kontrollpunkten?« Sie haben sich über uns aufgeregt. Sie haben versucht, einen Aufstand zu machen. [...]
Was, denkst du, hat sich seit der Revolution verändert? Welchen Einfluss hat eine Institution wie eure auf die Stadt?
Es hat sich einiges in der Bevölkerung getan. Früher konnten sich die Frauen nicht selbst verteidigen, sie konnten keine Waffen bedienen. Jetzt haben sie großes Selbstvertrauen und wenn wir das sehen, freuen wir uns sehr. Es gibt immer noch einige Frauen, die keinen Widerstand gegen den Druck ihrer Familien leisten, aber wenn sie uns sehen, wollen sie auch dabei sein. Viele Frauen kommen so zu uns.
Auch bei den Männern findet langsam eine Veränderung der Mentalität statt. Sie sehen, dass die Frauen sich selbst verteidigen können und Kraft besitzen. Auch als Politikerinnen oder in der Wirtschaft. Alles ist nun auch in den Händen der Frauen und das müssen die Männer akzeptieren. Als ich neu war, habe ich gesehen, wie ein Mann die Straßenseite gewechselt hat, weil er Angst hatte, weil ich mit einer Waffe herumlief. Als wir die ersten Rundgänge gemacht haben, haben sich die Männer vor uns gefürchtet. Heute haben sie Respekt vor uns, weil wir uns selbst vertrauen. Wir wissen, was wir wollen und was wir tun.
Wir haben unsere Ketten gesprengt. Wir als Frauen – auch in unserem Alter – und als Mütter erleben in dieser Revolution eine große Veränderung in unserem Denken, unserem Willen und unserem Wissen. Wir haben die Selbstverteidigung im Lokalen verankert und der Gesellschaft ihre Verantwortung aufgezeigt. Wir wollten nicht, dass die Menschen aus Angst das Land verlassen. Vielleicht gehen einige, aber wir bleiben und verteidigen, was wir aufgebaut haben. Alles was wir sind, haben wir in dieser Revolution selbst erschaffen.«
»Wir wissen was wir wollen« versucht die Perspektive der Frauen in Nord- und Ostsyrien für Menschen in Deutschland verständlich zu machen und dabei möglichst viel Raum für die Stimmen der Frauen selbst zu lassen. Es schließt dabei an das 2012 veröffentlichte Buch »Widerstand und gelebte Utopie – Frauenguerilla, Frauenbefreiung und Demokratischer Konföderalismus in Kurdistan« an.
Wir wissen was wir wollen – Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien
Edition Assemblage
600 Seiten | 15,– Euro
ISBN: 978-3-96042-100-9
Veröffentlichung Februar/März 2021[1].