Eine Filmkritik von Simon Hauck
WO DIE WILDEN KERLINNEN WOHNEN
Bakur hatte bereits vor seiner Premiere für reichlich Zündstoff gesorgt: Das Türkische Kulturministerium der #Erdogan#-Regierung ließ den gleichnamigen Dokumentarfilm erst gar nicht zur Aufführung während des Istanbuler #Filmfests# 2015 kommen. Kurzerhand zogen daraufhin zwanzig Regisseure ihre Filme aus den diversen Wettbewerben des Gesamtprogramms zurück. Im Anschluss schrieben gut hundert Regisseure einen gemeinsamen Brandbrief an die Damen und Herren des Kulturministeriums. Unter ihnen waren zahlreiche renommierte Filmemacher wie zum Beispiel auch Nuri Bilge Ceylan, der sich offen gegen eine weitere Intervention Ankaras aussprach und das böse Wort Zensur in den Mund nahm – zum Ärger der Regierung. Mit der Meinungsfreiheit ist das eben so eine Sache in der gegenwärtigen Türkei: „Mundtot“ sollen viele Kulturschaffende gemacht werden. Opposition – oder gar Widerstand – gegen die offizielle Kulturpolitik der Erdogan-Regierung ist ausdrücklich unerwünscht.
Mit Bakur erneut im Visier der Ermittlungen: Die Produktionsfirma Surela Film, deren Regisseure Çayan Demirel und Ertuğrul Mavioğlu bereits 2007 einen kontroversen Film über die Militäraktion von Dersim gedreht hatten. Im Jahr 1938 töteten Regierungstruppen in diesem Zusammenhang mehrere tausend Menschen. Über die genauen Gründe wird bis heute geschwiegen. Kein Wunder also, dass auch der neueste Dokumentarfilm desselben Gespanns mit einer gewissen Extra-Anspannung seitens der Regierenden frühzeitig beäugt wurde: Denn Bakur widmet sich der #PKK#, exklusiv – und in Spielfilmlänge! Das Ganze geschieht dazu in einer eigentlich grotesken türkischen Gesamtsituation: einerseits störten PKK-Kämpfer im Juni 2015 erst massiv die jüngsten Parlamentswahlen, andererseits verhandelt Erdogan höchstselbst schon seit längerem mit dem inhaftierten PKK-Chef #Abdullah Öcalan# im stillen Kämmerlein, um den äußerst verfahrenen innertürkischen Kurden-Konflikt endlich nachhaltig zu entspannen. Zusätzlich verworren ist der Blick von außen auf die umstrittene militärische Untergrundorganisation, die je nach politischer Lagerausrichtung entweder als „Arbeiterpartei Kurdistans“ – so steht es im eigenen Parteiprogramm der PKK – oder als „terroristische Organisation“ fungiert. Diese Auffassung vertreten beispielsweise die USA, weite Teile der EU-Mitgliedsstaaten – und naturgemäß die Mitglieder der amtierende AKP-Regierung.
Doch zurück zum Film, der objektiv qua Zugang gar nicht sein kann: Zum ersten Mal ließen sich die umstrittenen kurdischen FreiheitskämpferInnen länger von einem Kamerateam begleiten. Ohne Off-Kommentar und extrem nah nähert sich Bakur der fremden Lebenswelt von Oppositionskriegern bzw. Terroristen, was hier nicht weiter auseinandergefieselt werden soll – und kann. Filmkritik muss sich auf die Bilder und weniger auf deren Macher und erst recht nicht auf deren Motivation konzentrieren – auch wenn dies im Falle von Bakur gar nicht so leicht zu trennen ist.
Wie in Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (1972) schlängeln sich Soldaten in Uniformen hangaufwärts, hangabwärts. Die äußeren Bedingungen sind hart, das Wasser knapp. Grüne, gleichförmige Gestalten tauchen aus den steinigen, nur zum Teil begrünten Felspassagen auf: Still, fast meditativ ziehen sie von Bergmassiv zu Bergmassiv. In grandiosen Supertotalen und anhand von zahlreichen, atmosphärisch starken Morgen- und Abenddämmerungseinstellungen gelingen dem Mini-Kamera-Team (mit dem verantwortlichen Kameramann Koray Kesik) von Beginn an atemberaubende Bildlandschaften, die hängenbleiben. Die kleinen Trupps klettern mit Turnschuhen und in militärischer Einheitstracht bis in die höchsten Höhen Südostanatoliens hinauf, nach Bakur. So wird jene abgelegene, mitunter sehr steile Region im Kurdischen genannt: wörtlich bedeutet Bakur in etwa „Norden“.
Vielen Kameraeinstellungen haftet in ihrer wuchtigen Aussagekraft geradezu etwas von Sisyphos an: Der Weg ist lang, die Aufgabe ist groß; das Fleisch ist träge, der Geist ist wach. Aber auch der des Zuschauers? Ein roter Faden ist auf narrativer Ebene nirgends zu erkennen. Und echte Momente „ekstatischer Wahrheit“ (Werner Herzog) stellen sich auch nur selten ein. Nicht einmal, wenn eine Reihe mirakelhafter Sprüche aus den Mündern der Anführer fallen: „Wir haben die Schlüssel zu den Bergen verloren“, lautet einer davon. Ausgesprochen von Mitgliedern einer ehemaligen Arbeiterbewegung – so entstand einst die PKK – also von ehemals unterdrückten Bauern, kleinen Handwerkern oder Arbeitslosen, deren rhetorisches Einmaleins lange zwangsläufig beschränkt zu sein schien. Nicht so im Falle der PKK der Gegenwart, die – nächster Überraschungscoup – mehrheitlich von Frauen organisiert und gesteuert wird. Auch wenn derzeit parallel noch viele Männer aus der alten Garde das Sagen haben: Die nächste, dann fast zu 100% weibliche Generation der kommenden AnführerInnen steht längst schon in den Startlöchern des Revolutionskampfes. „PKK is a women’s movement“, erläutert weniger stolz als selbstverständlich eine der Neuen gegenüber der Kamera. In den lange und ausführlich gezeigten Camps, Höhlen-, Zelt- oder Gebirgslagern haben vor allem die Frauen, dazu noch sehr junge, die Hosen an. In den neu gebildeten Frauentrupps werde eine „culture of motherhood“ gepredigt, äußert sich eine andere Kameradin ähnlich konsequent.
Und hier beginnen die stärksten Passagen des angeblichen Skandalfilms von Çayan Demirel und Ertuğrul Mavioğlu. Wer hätte das vorher ernsthaft gedacht? Gerade in einer Gesellschaft, der bis vor gut drei Jahrzehnten immer noch 5000 Jahre Patriarchatskultur in den Gliedern steckten. Die Gleichberechtigung wird in den PKK-Strukturen nicht vorgelebt, sondern schon wieder überwunden: hin zu einer reinen Frauentruppe in näherer Zukunft, was auch viele Männer innerhalb der PKK-Strukturen offen befürworten: „Nur Frauen können ein freies und gerechtes System schaffen.“ Wenn alleine die Männer das Heft in der Hand behielten, würde das Jagen und Verstecken wohl nie aufhören, meint dementsprechend sogar einer der alten – männlichen – Machthaber und Truppenführer.
It’s A Man’s Man`s Man`s World? Von wegen: Vielleicht bei denen im Westen (der Türkei).[1]