Politisch und militärisch existiert eine internationale Allianz gegen den kurdischen Freiheitskampf. Bemerkenswert ist, dass Staaten, die gegensätzliche Interessen verfolgen, sich immer dann einig sind, wenn es um die Unterdrückung der Kurd:innen geht.
Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit richtet sich weiterhin vor allem auf den Krieg in der Ukraine und seine Folgen. Was in anderen Teilen der Welt passiert, interessiert viele Menschen heute noch weniger denn je. In den wohlstandsverwöhnten westlichen Gesellschaften herrscht Angst vor einer weiteren Verschärfung der wirtschaftlichen Krise, und die Menschen erkennen, wie fragil die Säulen des Wohlstands sind. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten sehen sich gleichzeitig mit mehreren ernsthaften Fragen konfrontiert: der Klimawandel, die Migrationsfrage, die Pandemie, der Krieg in der Ukraine und das Ende der Versorgung mit billiger Energie sind eine große Herausforderung für das bestehende gesellschaftlich-politische Gefüge in den wohlhabenden westlichen Staaten.
Trotz der enormen Möglichkeiten von Information und Kommunikation scheint der Wahrnehmungshorizont der Menschen im Westen weitgehend beschränkt zu sein. Die Methoden der subtilen Manipulation erschweren es immer mehr, die entscheidenden Mechanismen und Zusammenhänge zu erkennen. Inzwischen ist die demokratische, kritische Öffentlichkeit, die als Gegengewicht zur herrschenden Politik eine wichtige gesellschaftlich-politische Rolle spielte, kaum noch eine nennenswerte Kraft. Auch die verschiedenen Strömungen der Linken, die einst als Unterstützer:innen von Befreiungsbewegungen eine wichtige Rolle gespielt hatten, sind inzwischen politisch weitgehend bedeutungslos geworden.
Nationale Gemeinschaften, die im 20. Jahrhundert keinen Staat gründen konnten, zählen zu den Verlierer:innen einer aus Nationalstaaten gebildeten Welt, in der eine klare Hierarchie existiert. Wer keinen Staat hat und somit nicht der „internationalen Staatengemeinschaft“ angehört, gilt als ein nationaler, politischer Paria. Eine politische Bewegung, die sich gegen das herrschende Konzept des Nationalstaats stellt und sich für eine neue Ordnung, unabhängig von der Zugehörigkeit oder Existenz eines Staates, und das gleichberechtigte Zusammenleben der Völker einsetzt, stellt in den Augen der „internationalen Staatengemeinschaft“ eine Bedrohung dar. Es ist somit nicht verwunderlich, dass die kurdische Freiheitsbewegung überall auf Ablehnung stößt, verfolgt und unterdrückt wird.
Der Krieg gegen das kurdische Volk hat eine internationale Dimension, die weitgehend übersehen wird. Die Regierungen in Ankara, Bagdad, Teheran und Damaskus konnten ihre Unterdrückungspolitik gegenüber den Kurd:innen nur fortsetzen, weil sie stets auf die Zustimmung oder Unterstützung ihrer Verbündeten im Westen oder in Moskau vertrauen konnten. Nicht nur die in ihrer angestammten Heimat lebenden Kurd:innen werden als Bedrohung betrachtet. Die große kurdische Diaspora, zumal sie gut organisiert und entschlossen ist, für die Freiheit in ihrer Heimat zu kämpfen, stellt ebenfalls eine Bedrohung für die „internationale Staatengemeinschaft“ dar. Die Diaspora einer Gemeinschaft ohne Nationalstaat ist weitaus mehr einer Dämonisierung, die sogar die Form einer kollektiven Kriminalisierung annimmt, ausgesetzt.
Internationale Dimension der Kriegsführung mit #Chemiewaffen#
In den vergangen Wochen hat die türkische Armee bei ihren Einsätzen gegen Guerillastellungen in Südkurdistan immer wieder chemische Kampfstoffe eingesetzt. Die zweitstärkste Armee der NATO versucht ihren bislang erfolglosen Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung durch den Einsatz von Chemiewaffen entscheiden zu können. Das kurdische Volk wird aber nicht zum ersten Mal Opfer einer Kriegsführung mit international geächteten chemischen Stoffen. Zuerst wurden in den Jahren 1937/38 gegen die Bevölkerung Dersims chemische Kampfstoffe eingesetzt, die Deutschland an die kemalistische Regierung geliefert hatte. Noch nie zuvor hatte eine Regierung solche Kampfstoffe gegen die eigene Zivilbevölkerung eingesetzt. Die chemische Kriegsführung in Dersim sollte aber nicht eine Ausnahme bleiben: im März 1988 wurden bei einem Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe auf die südkurdische Stadt Helebce (Halabdscha) 5000 Menschen getötet. Auch diesmal war Deutschland an dem Verbrechen beteiligt; drei deutsche Firmen wurden 2018 wegen Beihilfe zum Völkermord angeklagt. Was in Dersim begann, endete aber nicht in Helebce, sondern wurde fortgesetzt: Im September 2009 setzte die türkische Armee chemische Kampfstoffe gegen eine Guerillaeinheit ein, die sich in eine Höhle in den Bergen von Çelê (tr. Çukurca) zurückgezogen hatte. Wie nicht anders zu erwarten war, bestritt die türkische Regierung den Einsatz von chemischen Kampfstoffen. Und wie ebenfalls nicht verwunderlich war, schwiegen die westlichen Verbündeten Ankaras zu dem Vorfall.
Mit der erfolgreichen Entwicklung und Herstellung von Kampfdrohnen hat die Türkei bewiesen, dass sie beim Aufbau einer „nationale Rüstungsindustrie“ vorankommt. Entweder ist sie bereits in der Lage, Chemiewaffen zu produzieren, oder sie arbeitet daran. Genauso wie bei den Kampfdrohnen wird die Türkei das notwendige technische Knowhow wieder vor allem von westlichen „Partnern“ beziehen. Jede Zusammenarbeit in diesem Bereich wird sicherlich streng geheim erfolgen, denn die Türkei gehört zu den Unterzeichnern der UN-Chemiewaffenkonvention.
Die internationale Allianz gegen den kurdischen Freiheitskampf
Sowohl politisch als auch militärisch existiert eine internationale Allianz gegen den kurdischen Freiheitskampf. Dabei ist es bemerkenswert, dass Staaten bzw. Regierungen, die gegensätzliche Interessen verfolgen, sich immer wieder einig sind, wenn es um die Unterdrückung der Kurd:innen geht. Die Ausweisung Abdullah Öcalans aus Syrien, die Weigerung sowohl Russlands als auch westeuropäischer Staaten, ihm politisches Exil zu gewähren, und seine Entführung aus Kenia in die Türkei ist nur ein Beispiel für die internationale Dimension des Kampfes gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Es folgten noch andere Aktionen, die hier nur kurz aufgezählt werden sollen: Mitten in Paris fielen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez einem heimtückischen Mord zum Opfer; mit Unterstützung Ankaras und reaktionärer arabischer Regime erfolgte die Invasion des IS in Rojava und Südkurdistan; unter den Augen der „Weltöffentlichkeit“ bzw. der „internationalen Staatengemeinschaft“ fand der Völkermord an den Ezid:innen in Şengal statt; mit Einverständnis Moskaus, der syrischen Regierung und des Westens erfolgte der türkische Angriff auf Efrîn. Gegenwärtig arbeitet Ankara mit allen Mitteln daran, seine internationalen Verbündeten zu einem neuen Angriff auf Rojava zu bewegen, um das zu vollenden, was dem IS nicht gelang.
Neue Möglichkeiten und Perspektiven
Es gibt zudem zahlreiche Beispiele für die enge Zusammenarbeit verschiedener Geheimdienste mit Ankara, um die Aktivitäten der kurdischen Diaspora zu überwachen und zu unterdrücken. Das repressive Vorgehen gegen kurdische Vereine und Organisationen, die Verbote und Behinderung der Arbeit kurdischer Medien und die Kriminalisierung der Freiheitsbewegung sind Elemente der Kriegsführung auf internationaler Ebene. In der Geschichte der Befreiungskämpfe unterdrückter Völker hat es nie zuvor eine solche umfassende internationale Zusammenarbeit zur Unterdrückung einer Widerstandsbewegung gegeben. An der Gleichgültigkeit der „Weltöffentlichkeit“ und der feindseligen Haltung der von Ankara dirigierten – geheimen oder offenen – internationalen Allianz gegen das kurdische Volk wird sich in absehbarer Zukunft nichts ändern. Aber die politische, militärische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in der „internationalen Staatengemeinschaft“ zeigt auch, dass bislang als stabil und berechenbar geltende Kräfte plötzlich ins Wanken geraten. Somit könnte die mit Gewissheit ungewisse Zukunft der bestehenden Verhältnisse für das kurdische Volk neue Möglichkeiten und Perspektiven bieten.[1]