Von #Thomas Schmidinger#
Frühling im Irak 2005: Am Jahrestag des Giftgasangriffs auf Halabja ist auf der Straße von Arbat nach Halabja kein Durchkommen. Nicht nur, dass unzählige KurdInnen an den Gedenkfeiern teilnehmen
wollen. Die Sicherheitsvorkehrungen für die prominenten Teilnehmer sind es, die letztlich den Verkehr zum Erliegen bringen. Auch hier in #Kurdistan# führt die Furcht vor Anschlägen
radikalislamistischer und postba'thistischer Terrorgruppen zu immer professionelleren Kontrollen durch die aus ehemaligen Peschmergas (kurdischen Guerillakämpfern) zusammengesetzte Sicherheitspolizei.
Doch auch wer zuhause bleibt, entkommt der irakischen Realität nicht. Jeden Abend werden im Fernsehsender al-iraqiya gefangene Terroristen interviewt. Die konfrontativen Fragen des Interviewers prasseln auf die eingeschüchtert wirkenden Männer herab. Sie berichten von den Leuten, die sie angeworben hatten, und ihren Opfern, die sie erschossen oder denen sie den Kopf abgeschnitten haben. Ein vor Angst stotternder Mann berichtet von der Vergewaltigung und Ermordung von vier jungen Mädchen. Ein anderer, noch immer selbstbewusst wirkender Mann erzählt, vom syrischen Geheimdienst ausgebildet worden zu sein.
Ein Häufchen Elend mit einer Mischung aus ideologischem Wahn und banalem Verbrechertum wird hier jeden Abend in die irakischen Haushalte übertragen. Einerseits wird dadurch der Widerstand entzaubert, andererseits entsteht eine Stimmung, die der Anerkennung menschenrechtlicher Mindeststandards nicht gerade förderlich ist. Die meisten IrakerInnen würden die vorgeführten Terroristen am liebsten sofort am Galgen baumeln sehen. Kaum jemand fragt sich, woher die blau angeschwollenen Augen der Verhörten kommen, wer die harschen Fragen stellt und ob die gezeigten Sicherheitskräfte nicht direkt vom Geheimdienst des Ba'th-Regimes stammen.
Die verständliche Wut über den alltäglichen Terror könnte so für neue autoritäre Tendenzen genutzt werden. Der Widerstand gegen den Terror drückt sich aber nicht nur in derart problematischer
Weise aus. Die deutlichste Absage an die Terrorfürsten Zarqawi und Co. erteilten die IrakerInnen Ende Januar in Form der hohen Wahlbeteiligung für das irakische Übergangsparlament. Nach Wochen des verschärften Terrors und Tagen der Ausgangssperre brach am Wahltag die Freude über die neue Freiheit durch. Auf den Straßen von Bagdad war die Stimmung ebenso ausgelassen wie in Suleimaniya oder Basra.
Selbst in Teilen des Sunnitischen Dreiecks fiel die Wahlbeteiligung trotz der Todesdrohungen gegen die WahlteilnehmerInnen mit bis zu einem Drittel der registrierten WählerInnen höher als erwartet aus. Von einem kollektiven Wahlboykott der arabischen Sunniten, wie in einigen westlichen und arabischen Medien behauptet, kann keine Rede sein. Wirklich hohe Wahlbeteiligungen waren allerdings nur im kurdischen Norden und im schiitischen Süden zu verzeichnen. Hier fielen die meisten Stimmen jedoch auf ethnische und/ oder religiöse Listen, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung abweichender kollektiver Identitäten vor allem als Ausdruck eines neuen kurdischen und schiitischen Selbstbewusstseins zu werten sind. Dementsprechend konnte nicht nur die schiitisch dominierte Vereinigte irakische Allianz (UIA) - in der sich die schiitisch-islamistischen Parteien SCIRI und Da'wa mit dem säkularen Irakischen Nationalkongress von Ahmed Chalabi zusammengeschlossen hatten - mit 48 % einen Wahlerfolg verzeichnen. Auch die Kurdistan-Liste, der nicht nur KDP und PUK, sondern auch kleinere kurdisch-assyrische und turkmenische Parteien angehörten, war mit einem Viertel der Stimmen erfolgreich. Die Partei des Übergangsministerpräsidenten Allawi landete abgeschlagen auf Platz 3.
Schwere Niederlagen erlitten die nationalistischen Parteien der Turkmenen und Assyrer, sowie eine schiitisch-islamistische Liste, die Muqtada al-Sadr nahe steht. Überraschend wenig Stimmen entfielen auch auf die Volksunion der Irakischen Kommunistischen Partei, die mit rund 1 % der Stimmen nur über zwei Mandate im Übergangsnationalrat verfügt. Dazu kommen jedoch drei kommunistische Mandate, die die Kurdische Kommunistische Partei über die Kurdistan-Liste erreichen konnte.
Mufid al-Jazairi von der Kommunistischen Partei machte den Einfluss religiöser Autoritäten zugunsten der Vereinigten irakischen Allianz (UIA) und den Missbrauch staatlicher Strukturen von Seiten der Partei Iyad Allawis für das schlechte Abschneiden seiner Partei verantwortlich. Die KP hätte finanziell nicht mit den anderen Parteien konkurrieren können. Insgesamt beurteilte aber auch er die Wahlen als relativ fair. Angesichts der Verhältnisse vor Ort sei kaum etwas Besseres zu erwarten gewesen. Seine Partei arbeite jedenfalls weiter an der neuen Verfassung und der Demokratisierung des Landes mit. Eine Errichtung eines islamistischen Regimes fürchte er nicht, schließlich hätten sich die schiitisch-islamistischen Parteien zur Demokratie bekannt. Außerdem verfüge die Vereinigte Irakische Allianz nicht über die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit, die Verfassung alleine zu beschließen. Zudem ist die UIA alles andere als ein einheitlicher Block. Die Differenzen innerhalb der Allianz zeigten sich nicht nur zwischen säkularen und islamistischen SchiitInnen, sondern auch zwischen Da'wa und SCIRI, die sich wochenlang nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten einigen konnten.
Nicht nur die Kommunisten, auch die kurdischen Parteien sehen der Ausarbeitung der neuen Verfassung hoffnungsvoll entgegen. Ohne die Kurdische Liste, die allein fast über eine Sperrminorität verfügt, wird die zukünftige Verfassung - deren Verabschiedung die Hauptaufgabe des Übergangsnationalrates darstellt - nicht zu beschließen sein. Aus dieser Position der Stärke heraus sieht die Perspektive eines gemeinsamen Irak aus kurdischer Sicht wesentlich attraktiver aus als bisher. Naushirwan Mustapha Emin, der Stellvertreter Talabanis und damit zweiter Mann der PUK, zählt zahlreiche Vorteile auf, die ein Verbleiben der KurdInnen in einem gemeinsamen Irak mit sich brächte - vom Zugang zu arabischen Märkten bis zu Studienmöglichkeiten an den arabischen Universitäten. Die lange verzögerte, aber schließlich doch über die Bühne gegangene Wahl Talabanis zum Präsidenten könnte ebenfalls integrativ wirken. Das größte Hindernis für eine größere Rolle der Kurden im Irak könnten dabei die kurdischen Parteien selbst sein. Wie die UIA ist auch die Kurdistan-Liste weit von einer funktionierenden Zusammenarbeit entfernt. Bei den Feiern der PUK zur Amtseinführung von Talabani wurden in mehreren Städten PUK-Funktionäre von KDP-Anhängern verprügelt. Von der von Präsident Talabani beschworenen Einheit des Irak ist in manchen Teilen Kurdistans wenig zu bemerken. In
Sulemaniya hat die jüngere Generation, die nach der Errichtung der autonomen kurdischen Sicherheitszone im Nordirak heranwuchs, kaum mehr einen Bezug zum irakischen Staat. Die meisten der heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen können kaum mehr Arabisch und haben damit den Zugang zu gemeinsamen Medien und den im Wiederaufbau begriffenen Universitäten in Bagdad verloren.
Die #kurdische Sprache# ist jedoch noch weit davon entfernt, ein Ersatz für die reiche arabische Schrift- und Wissenschaftstradition zu sein. Studierende der Universität von Sulemaniya, die kein Englisch oder Arabisch können, haben kaum Zugang zu wissenschaftlicher Literatur. Dementsprechend niedrig ist das Ausbildungsniveau.
In Sulemaniya scheint Bagdad weit weg zu sein. Dafür ist die Stadt liberaler und weltoffener als andere irakische Städte. Kaum jemand hält hier aggressiven Nationalismus für notwendig. Anders
in Kirkuk. Seit den Wahlen, die einen Sieg der Kurdischen Liste mit sich brachten, achtet jede Bevölkerungsgruppe genau darauf, dass die andere nicht zu stark wird. Insbesondere zwischen den von der Türkei unterstützten Turkmenen und den Kurden sind die Spannungen greifbar. Bei der ersten Sitzung des neu gewählten Regionalrates der Provinz Kirkuk begannen die kurdischen Abgeordneten die Sitzung sofort in kurdischer Sprache abzuhalten, was den Auszug der arabischen und turkmenischen Vertreter zur Folge hatte. Völlig anders ist das Verhältnis zwischen Turkmenen und Kurden in der Kleinstadt Kifri. Bis 2003 war die von Hügeln umgebene Stadt von der irakischen Armee eingekesselt. Die Stadt selbst hatte sich hingegen 1991 selbst befreit. Die kurdischen Peschmergas hielten später eine Verbindungsstraße in die belagerte Stadt aufrecht.
Hier ist von den Spannungen zwischen Kurden und Turkmenen nichts zu bemerken. Fast jeder beherrscht außerdem Arabisch. Trotzdem zeigt sich auch hier die Nähe zum Sunnitischen Dreieck und damit zur Hochburg des radikalislamistischen und postba'thistischen Terrors. Die Peschmerga der PUK sind besonders nervös. Vor kurzem hielten sie zwei arabische Kommunisten fünf Stunden lang im Gefängnis fest, weil sie nicht glauben konnten, dass sich Araber mit friedlicher Absicht nach Kurdistan verirren konnten. Dabei wollten die beiden nur kurdische KommunistInnen besuchen, mit denen sie aus ihrer Zeit im Untergrund befreundet waren. Je länger der Terror im Zentralirak andauert, desto geringer scheint die Geduld der KurdInnen zu werden. Wer mit der Bevölkerung redet, bekommt zwar nur selten wirklich rassistische Kommentare über Araber zu hören. Die Gleichsetzung von Arabern mit Terrorismus und Gewalt ist jedoch bereits hier und da zu vernehmen. Tatsächlich kommt es im Zentralirak immer wieder zu gezielten Angriffen auf KurdInnen und Angehörige anderer Minderheiten. Auf Graffities in Mossul werden KurdInnen als schlimmer als Juden beschimpft. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Yezidi wurden gar auf offener Straße geköpft. An der Straße zwischen Darband-e Han und Kallar in der Germian-Region sind die Folgen erster ethnischer Säuberungen im Zentralirak zu erkennen. In der Nähe des Flusses Sirvan leben dort seit Juli 2004 iranische Kurden, die aus ihrem Exil erneut flüchten mussten, als radikale sunnitische Prediger zum Mord an den Kurden aufriefen und einige von der aufgehetzten Menge ermordet wurden. Nun warten sie in ihren Zelten, umgeben von Minenfeldern, auf ihren Umzug in Unterkünfte bei Sulemaniya.
Auch christliche Kirchen und schiitische Gebetsstätten wurden zunehmend zum Angriffsziel radikaler sunnitischer Islamisten. Noch hat deren Versuch einer Ethnisierung der Konflikte in Richtung eines Bürgerkriegs keinen durchschlagenden Erfolg gezeigt. Schafft es die neue Regierung, die erstmals von Schiiten und Kurden dominiert ist, den Terror effektiver zu bekämpfen als ihre Vorgängerin, wird sich der Irak wieder als gemeinsamer Staat aufbauen lassen. Wenn nicht, könnte die Geduld der KurdInnen bald ein Ende haben. Thomas Schmidinger ist Redakteur der Zeitschrift Context XXI, Flüchtlingsbetreuer und Mitarbeiter der im Irak tätigen NGO Wadi e.V. iz3w Nr. 285, Juni 2005.[1]