Die Schlangengöttin Şahmaran zählt zu den ältesten mythischen Geschöpfen Mesopotamiens. Zunächst als natürliche Gottheit respektiert, später durch den Mann verraten, spielt ihre Figur insbesondere in der kurdischen Mythologie eine zentrale Rolle.
Mythen und mündlich überlieferte Geschichten, die über Jahrhunderte hinweg von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, sind nicht nur überaus spannend, sondern haben auch gleichzeitig eine große Aussagekraft über die tatsächliche Geschichte der Region. An ihnen lässt sich häufig der langsam stattfindende Wandel von Gesellschaftsstrukturen verfolgen. Dies ist eine Methode, die beispielsweise Abdullah Öcalan in seinen Verteidigungsschriften gern verwendet. Und einer der Mythen, auf die er sich bezieht und deren Abbildungen bis heute an den Wänden der Wohnungen vieler kurdischer Familien zu finden sind, ist der von Şahmaran. Denn diese Geschichte befasst sich mit der Rolle der Frau, die zunächst als natürliche Gottheit respektiert und dann durch den Mann verraten wird. Auch Schlangen stehen als Symbol im Zentrum dieser Geschichte. Da der Mythos jedoch sehr alt ist, älter als die Bibel, werden die Schlangen hier noch nicht des Verrats verdächtigt, sondern sind selbst die Verratenen.
Die folgende Version von der Geschichte der Şahmaran erzählte ein Guerillakämpfer aus der Serhed-Region vor vielen Jahren dem Journalisten Mehmet Nuri Ekinci abends an einem Lagerfeuer in Behdînan. Er selbst hatte die Geschichte von seinem Großvater gehört, als er noch ein kleines Kind war und an den Hängen des Ararats spielte, dort, wo sich der Mythos der kurdischen Auslegung nach abgespielt haben soll:
Vor langer Zeit lebte eine Witwe mit ihren drei Kindern in einem kleinen Dorf in Mesopotamien. Sie verdienten ihr weniges Geld durch den Verkauf der Milch einiger Ziegen, die die alte Frau mit ihrem Sohn Cîhan täglich zum Weiden auf die Hochebenen des nahegelegenen Berges trieb. An manchen Tagen, an denen die alte Mutter nicht mitkommen konnte, ging Cîhan, der in seinem Dorf sehr beliebt war, mit seinen Freunden auf die Hochebene. Dort sammelten sie Kräuter und Brennholz, um sich die Zeit zu vertreiben und um sich selbst Essen und Tee zuzubereiten. Außer aus dieser Beschäftigung verfügte die kleine Familie über kein weiteres Einkommen.
Eines Tages ging Cîhan allein los, um die Ziegen weiden zu lassen. Er war bereits lange unterwegs und die warme Frühlingsluft tat ihr Übriges, sodass er sich erschöpft im Schatten eines Baumes zum Ausruhen hinlegte. Er döste vor sich hin, ohne dabei jedoch die Ziegen aus den Augen zu verlieren. Er beobachtete eine Honigbiene, wie sie ihre Arbeit verrichtete und dafür immer wieder angeflogen kam, um in einem kleinen Loch vor ihm im Boden zu verschwinden. Kurz darauf tauchte sie wieder voll beladen auf und flog davon, nur um danach erneut vor ihm zu erscheinen. Er war neugierig geworden, was sich wohl in dem Loch befinden würde. So rappelte er sich auf und nahm einen kleinen Stock, um das Loch zu vergrößern. Zu seiner Überraschung versteckte sich dahinter eine Öffnung, die mit Honig vollgelaufen war. Er nahm eine Flasche aus seiner Tasche und füllte sie mit dem Honig. Als er alles bis auf den letzten Tropfen aufgesammelt hatte, entdeckte er einen großen runden Stein. Es schien, als quelle der Honig dahinter hervor. Zunächst behutsam, versuchte er den Stein zur Seite zu rollen, doch seine jugendliche Kraft reichte nicht aus. Nach mehreren Versuchen gab er es auf und beschloss, mit seinen Freunden zurückzukehren
Am nächsten Tag kam er mit zwei Freunden wieder, denen er von seinem goldenen Fund berichtet hatte, und gemeinsam gelang es ihnen, den Stein zur Seite zu rollen. Dabei entdeckten sie zu ihrer Freude, dass sich dahinter eine tiefe Höhle verbarg, die, je weiter sie gruben, immer größer zu werden schien. Auch diese Höhle war, wie das am Vortag entdeckte Loch, gefüllt mit dem Honig. Sie teilten sich die Arbeit; Cîhan nahm einen Eimer und stieg in die Tiefe, um ihn zu füllen, und die anderen beiden nahmen ihn ihm draußen ab und füllten das flüssige Gold in Behälter um, die sie an diesem Frühlingstag extra mitgebracht hatten. Der Tag verging und obwohl sie bereits Unmengen geschöpft hatten, schien der Honig kaum weniger geworden zu sein. Sie einigten sich also darauf, dass sie ab sofort jeden Tag herkommen würden, um den Honig zu sammeln und dann jeden Abend an die Menschen in den Dörfern im Umkreis zu verkaufen. Es war ein wunderbarer Honig mit einem solch betörenden Geschmack, wie ihn nie zuvor jemand gekostet hatte. Cîhan berichtete seiner Mutter freudig davon und erklärte ihr und seinen Geschwistern, dass sie nie mehr arbeiten müssten, da der Verkauf genug für sie abwarf, die ganze Familie zu versorgen.
Nachdem die Freunde bereits seit vielen Tagen von der Quelle gelebt und schon sehr viel Honig gesammelt hatten, war die Höhle bereits sehr tief geworden. Mittlerweile konnte sie nicht mehr ohne Weiteres betreten werden, es ging nur noch mithilfe eines Seils in die Tiefe hinab. So erklärte Cîhan eines Tages seinen Freunden, dass er nicht jeden Tag den weiten und anstrengenden Weg aus der Höhle heraus für nötig halte. Stattdessen könne er immer wieder mal für ein paar Tage unten bleiben. Sie sollten ihm nur jeden Tag genug Wasser und Brot herablassen. So fuhren sie fort, täglich noch mehr Honig zu fördern und somit noch mehr Geld zu verdienen.
Nach wochenlanger Arbeit war der Honig schließlich erschöpft. Die Quelle, die nie zu enden schien, war versiegt. Als der letzte Eimer gefüllt war, bat Cîhan um das Seil, damit er endlich wieder aus der Höhle hinausklettern könne. Doch seine Freunde, mit denen er nie zuvor Streit erlebt, sondern sich im Gegenteil bis dahin besser verstanden hatte, als viele Brüder es tun, entschieden sich anders. Das Geld hatte sie gierig gemacht, weswegen sie bereits seit längerem einen Plan geschmiedet hatten, den sie jetzt ausführten. Sie wollten Cîhan um seinen Anteil betrügen. Also warfen sie ihm nicht wie üblich das Seil hin, sondern verschlossen die Höhle mit dem Stein, den sie vor Wochen noch gemeinsam zur Seite gerollt hatten. Sie tarnten das Loch und überließen ihren früheren Freund seinem Schicksal.
Im Dorf angekommen erzählten sie Cîhans Mutter und seinen Geschwistern unter vorgetäuschten Tränen, dass er verschwunden sei. Sie hätten ihn ewig gesucht und doch nicht finden können. Nachdem die Menschen aus dem Dorf tagelang gesucht und allmählich aufgegeben hatten, gaben Cîhans ehemalige Freunde der Witwe ein wenig Geld, um sie zu trösten. Während deren Gefühlswelt allmählich von tiefer Trauer in Verzweiflung überging, verhallten Cîhans Hilferufe ungehört in der verschlossenen Höhle, die dunkler war als dunkelste Nacht.
Der eingeschlossene Cîhan verlor sich langsam in seinen Gedanken. Er verlor den Überblick, wann es Nacht wurde und wann der Tag anbrach. Ständig schlief er ein, ohne sich jedoch erholen zu können. Seine Gedanken kreisten nur darum, wie es wohl seiner Familie ergehe.
In einem jener gedankenverlorenen Momente, seine Augen hatten sich längst an die tiefste Finsternis gewöhnt, glaubte er einen Skorpion zu entdecken, der in seinem Nest saß. Er erinnerte sich an die Worte seines vor vielen Jahren verstorbenen Großvaters, der ihm immer gesagt hatte, dass er aufpassen müsse, wenn er sich auf den Boden setzt, da Skorpione ihre Nester gern unter der Erde, aber nahe der Erdoberfläche bauen würden. Setze man sich darauf, würden sie unweigerlich hervorkommen und stechen. Cîhan schöpfte also Hoffnung, einen möglichen Ausgang gefunden zu haben. Er verscheuchte den Skorpion aus seinem Nest und begann zu graben. Immer weiter grub er, bis er schließlich die feinen Wurzeln der Gräser zwischen seinen Fingern zu spüren meinte. Vor Freude machte er einen kleinen Satz nach vorn, dabei stolperte er jedoch und fiel seitlich in einen Schacht, der ihm bereits zuvor aufgefallen war. So fiel er in die gewaltige Tiefe, bis er letztlich hart aufprallte und für einige Zeit sein Bewusstsein verlor.
Als er allmählich wieder zu sich kam, traute er seinen Augen kaum. Er war an einem ungemein funkelnden und glänzenden Ort gelandet. Alles schien, als wäre es in Gold getaucht. Doch nicht nur das, er sah sich um und entdeckte unzählige der besten Obst- und Gemüsesorten, einen klar fließenden Bach mit eiskaltem Wasser und vieles mehr, von dem Cîhan bisher nicht zu träumen gewagt hatte. Er blickte umher und stellte fest, dass einzig Schlangen dieses Idyll zu bewohnen schienen. Ihr Anblick verwunderte ihn ebenso sehr, wie er ihn ängstigte. Fasziniert trat er zögerlich auf zwei große und wunderschöne Schlangen zu. Sie bedeuteten ihm, ihnen zu folgen, was er ohne große Überlegung tat.
So führten sie ihn in einen riesigen geschmückten Saal, der nur aus Gold gemacht zu sein schien. In der Mitte stand ein goldener Thron. Auf ihm saß eine Frau, doch sie war keine normale Frau. Vom Kopf bis zu den Hüften war sie ein Mensch, ab dort hatte sie den Körper einer Schlange. Auf ihrem Kopf trug sie eine goldene Krone, mit Schlangenköpfen verziert. Die Schönheit der Frau verzauberte Cîhan, sodass er sich gar nicht über die ganzen Schlangen wunderte, die ebenfalls in den Saal gekommen waren.
Die Frau stellte sich Cîhan vor, sie sei Şahmaran, die Herrin aller Schlangen, die Hüterin der Weisheit und aller Geheimnisse. Sie erzählte, dass sie sein Schicksal kenne und vom Verrat seiner vermeintlichen Freunde wisse. Gleichzeitig beruhigte sie ihn: „Hab’ keine Angst, solange ich hier bin, werden die Schlangen weder dir noch irgendeinem anderen Menschen etwas tun.“ Cîhan war überrascht und lauschte mit gespitzten Ohren, was Şahmaran ihm prophezeite. Sie fuhr nämlich fort und versprach ihm, dass er für einige Zeit bleiben dürfe, um sich zu erholen. Sie wünschte es sogar, da sie ihn sehr gern mochte. Würde er dann jedoch den Wunsch verspüren, an die Oberfläche zurückzukehren, würde er ihm gewährt werden. Und so geschah es.
Nach geraumer Zeit, Cîhan war mittlerweile zu einem jungen Mann herangewachsen, trat er an Şahmaran heran: „Wie sehr ich dich auch liebe, so vermisse ich doch meine Geschwister und meine Mutter. Sie haben niemanden, der für sie sorgt. Ich bitte dich, mich zu ihnen zu lassen.“ Obwohl Şahmaran nicht sonderlich daran gelegen war, ihren so geliebten Cîhan ziehen zu lassen, wollte sie ihm seine Bitte doch nicht abschlagen: „Ich werde dich gehen lassen. Aber lass dir eines gesagt sein: Ich habe gesehen, dass du, wenn ich dich gehen lasse, der Grund meines Todes sein wirst. Du wirst derjenige sein, der mich töten lassen wird.“ Cîhan jedoch schüttelte den Kopf: „Niemals. Du hast so gut für mich gesorgt, hast mir alles gegeben. Wie könnte ich dich dafür töten? Im Gegenteil, selbst wenn es mich meinen Kopf kosten würde, würde ich dich verteidigen.“ Şahmaran entgegnete: „Ich weiß natürlich, dass du nicht wissen kannst, dass dieser Moment kommen wird. Aber wie gesagt, ich hatte dir damals versprochen, den Weg zurückzuzeigen, und ich werde mein Wort halten.“ Cîhan freute sich, er schlug die Worte Şahmarans bald in den Wind und vergaß sie. Er wusste noch nicht, dass sie alles überblickte und auch in die Zukunft sehen konnte.
Bevor sie Cîhan ziehen ließ, teilte Şahmaran ihm noch mit: „Es gibt ein Land mit Hochweiden, über denen sich ein großer Berg erhebt. Das Volk dieses Landes zieht jedes Jahr auf die Weiden und kommt an einem besonderen Tag des Jahres an einer Quelle zusammen und feiert gemeinsam. Anschließend füllen sie Behälter mit Milch und lassen sie stehen. Wenn sie gehen, kommen wir Schlangen alle hervor, trinken die Milch und ziehen uns wieder zurück. Ich will, dass du weißt, dass ich an jenem Tag, der uns gewidmet ist, auch dort sein werde.“ Schließlich hieß sie die Schlangen, Cîhan an die Oberfläche zu bringen und ihm somit seinen Wunsch zu erfüllen.
Als Cîhan nun nach solch langer Zeit wieder in sein Dorf zurückkehrte, waren seine Geschwister erwachsen, die Augen seiner Mutter von Trauer und Weinen erblindet und seine beiden verräterischen Freunde mit dem gewonnenen Honig reich und zu Händlern geworden. Cîhan betrat das ihm fremd gewordene Dorf, ging zum Haus seiner Familie und klopfte an die Tür. Seine Mutter öffnete und blickte den vermeintlich Fremden mit ihren trüben weißen Augen forschend an. Bevor er etwas sagen konnte, fiel sie ihm in die Arme, denn sie hatte ihn erkannt. Vor lauter Freude kehrte ihr Augenlicht zurück und sie sah, dass ihr Sohn zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen war. So fand er sich allmählich wieder in das Dorf ein und begann, sich um seine Familie zu sorgen. Die beiden, die ihn verraten hatten, mussten schwer mit ihrem Gewissen kämpfen und zeigten Reue. So entschied er, das Geschehene hinter sich zu lassen und ihnen zu verzeihen.
Während Cîhan langsam wieder in sein altes Dorf zurückkehrte, braute sich noch weit entfernt ein großes Übel zusammen. Der alte König des Landes erkrankte schwer. Er ließ alle Mediziner:innen und Heiler:innen des Landes in den Palast rufen. Wer ihn heilen könnte, bekam eine unvorstellbare Belohnung versprochen, wer ihm jedoch kein Mittel gegen seine Krankheit liefern konnte, würde geköpft werden. Viele kamen, manche, weil sie auf die Belohnung aus waren, viele weitere, weil sie gezwungen wurden. Der Reihe nach fielen ihre Köpfe. Übrig blieb nur ein gerissener Mediziner. Er wusste, dass kein Mittel dieser Welt den König würde heilen können, also kam er auf eines aus einer anderen Welt. Er hatte Geschichten über die sagenumwobene Şahmaran gehört, deren Körperteile über eine starke Heilkraft verfügen sollten. Also ging er zum König und sagte, dass die einzige Medizin, die ihn würde retten können, aus den Körperteilen von Şahmaran hergestellt werden könne. Auch erzählte er ihm, dass er von einem Mann im Land gehört habe, der wisse, wo sich Şahmaran aufhalte. Dieser sei durch ein Mal auf seinem Rücken gekennzeichnet. Also empfahl er dem König, den Befehl zu geben, dass alle Männer des Landes sich im königlichen Hamam reinigen müssten. Dort werde man den erkennen, der das Zeichen Şahmarans trägt. Und so folgte der verzweifelte König der Empfehlung und ließ alle Männer des Landes zu sich ins königliche Hamam rufen.
Sie wurden von ihm und dem Mediziner auf das Zeichen hin untersucht. Doch vergeblich, niemand trug das Mal, denn niemand hatte Şahmaran je zuvor gesehen. Der König war wütend und stand kurz davor, den Mediziner zum Richtblock führen zu lassen, doch der erinnerte sich in letzter Sekunde an die entlegenen Dörfer in den Bergen und so gab ihm der König eine letzte Chance und ließ seine Boten entsenden. Diese erfuhren bald von einer Witwe und ihrer Familie. Sie hörten, dass deren Sohn lange als verschollen gegolten hatte und erst kürzlich ins Dorf zurückgekehrt war. So suchten sie Cîhan und als sie ihn fanden, nahmen sie ihn mit, brachten ihn zum königlichen Hamam, ohne ihn zu informieren, worum es dabei ging.
Er entkleidete sich nichtsahnend, wobei er auf seinem Rücken das goldene Mal Şahmarans entblößte. Der Mediziner schrie laut auf und der König ließ Cîhan verhaften. Dem war sofort klar, dass sie nur eines von ihm wollen könnten, nämlich den Aufenthaltsort Şahmarans zu erfahren. Er weigerte sich jedoch zu sprechen. Trotz aller Folter hielt er sein Wort, lieber den Kopf zu verlieren, als die geliebte Şahmaran zu verraten. Erst als der König die Mutter und die Geschwister von Cîhan in den Palast bringen ließ und sie zu töten drohte, wurde er schwach. Unter Tränen verriet er – was Şahmaran ihm prophezeit hatte –, wie die Bewohner:innen der Hochweiden einmal im Jahr, im bereits angebrochenen Frühling, zu der beschriebenen Quelle gingen, die Behälter mit Milch füllten, die Schlangen dann an die Erdoberfläche zur Milch kamen, und dass sich Şahmaran unter ihnen befinden werde.
Wie es Şahmaran also vorausgesehen hatte, Cîhan hatte sie verraten und somit ihren Tod in die Wege geleitet.
Der König ließ nicht viel Zeit verstreichen, er traf seine Vorbereitungen und wartete auf den Tag, an dem er Şahmaran würde fassen können. Dann machte er sich mit seinem Mediziner und einer Handvoll seiner Soldaten auf den Weg zur Quelle und legte Şahmaran einen Hinterhalt. Die Menschen versammelten sich für das Ritual, verrichteten ihre Gebete, verteilten die Milch und verschwanden wieder. Anschließend kamen nach und nach, genau wie Şahmaran vorhergesagt hatte, alle Schlangen hervor, tranken von der Milch und zogen sich wieder in ihre Nester zurück. So verging der halbe Tag, bis der König schließlich Şahmaran erblickte. Erhobenen Hauptes und umringt von ihren Schlangen begab sich die Hüterin der Weisheit und der Geheimnisse zum Ort des Rituals, als die Falle zuschnappte. Ein Großteil der Schlangen wurde getötet, bevor auch Şahmaran in Gefangenschaft geriet. Ihr Widerstand und ihr Klagen blieben wirkungslos gegenüber den Männern aus der fernen Stadt. So wandte sie sich an die Männer, unter denen sich auch Cîhan befand: „Ich habe gewusst, dass du mich verraten würdest, doch will ich dir nicht grollen. Lasst mich stattdessen noch ein paar letzte Worte an meine Schlangen richten.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und sprach nun direkt zu den Ihren: „Kehrt um und geht unter die Erde zurück. Wenn ich innerhalb von neun Tagen zurückkehren sollte, dann wollen wir den Menschen ihre Taten verzeihen und sie reich belohnen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein und ich nach neun Tagen nicht zu euch zurückgekehrt sein, dann breitet euch überall auf dem Erdball aus, denn dann soll Feindschaft zwischen den Schlangen und den Menschen herrschen, bis sie ihre Weisheit zurückgewonnen haben.“
So zogen die Männer von dannen und nahmen Şahmaran mit sich, die sie wie ein wildes Tier in einem Käfig in die Stadt brachten. Der König zögerte nicht lange, er schlug die Warnungen in den Wind und ließ Şahmaran zerstückeln. In drei verschiedenen Töpfen wurden jeweils Kopf, Oberkörper und Unterleib Şahmarans gemischt mit Heilkräutern gekocht. Zunächst ließ der misstrauische König Cîhan von der Brühe aus dem Topf mit dem gekochten Oberkörper trinken. Nichts geschah. Doch wurde Cîhan von nun an ewig von Gewissensbissen geplagt, da er sein Versprechen nicht gehalten, seine geliebte Freundin verraten und ihr so den Tod gebracht hatte. Da wurde der König wütend und dachte bereits, der Mediziner habe ihn angelogen. Dieser griff schnell zur Kelle und trank aus dem Topf, in dem der Kopf gekocht worden war. Plötzlich verstand der Mediziner die Sprachen aller Lebewesen und Pflanzen dieser Erde und konnte sogar manche Geschehnisse voraussehen. Diese Fähigkeit sollte ihm jedoch nicht viel Glück bringen. Es dauerte nur wenige Tage, bis ihm die Menschen in der Stadt zum einen aus Eifersucht, zum anderen aus Unverständnis für seine neuen Fähigkeiten grollten und ihn heimtückisch im Schlaf erstachen. Der König jedoch war beeindruckt, welche Fähigkeiten der Trank dem Mediziner verliehen hatte, und hoffte nun, dass der dritte Topf die Flüssigkeit enthielt, die seine Krankheit würden heilen können. Was er jedoch nicht wusste – das gesamte Gift einer Schlange ist im Schwanz des Tieres konzentriert. Was er somit trank, war also nicht das Heilmittel für seine Krankheit, sondern ein noch tödlicheres Gift, als es die Menschen bis dahin gekannt hatten. Kaum benetzte die Brühe die Lippen des Königs, fiel er schon um. Bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug, hatte ihn das Leben bereits verlassen.
Und damit findet diese Geschichte, die geprägt ist von Verrat und menschlicher Schwäche, ihr Ende. Das Lagerfeuer, an dem die Geschichte erzählt wurde, war bereits heruntergebrannt. Lediglich die Glut war noch übrig. Niemand sagte etwas, denn alle hingen mit ihren Gedanken noch bei Şahmaran und Cîhan. Die Nacht war allmählich fortgeschritten und so erhoben sich langsam alle und zogen sich zum Schlafen zurück. Der Guerillakämpfer aus Serhed schlief vermutlich mit der Frage im Kopf ein, die er bereits damals als Kind seinem Großvater immer nach der Geschichte gestellt hatte: „Wie können wir Menschen diese Weisheit wiederbekommen?“[1]