Christen im kleinen kurdischen Ort Enishke nehmen Flüchtlinge auf. Doch hohe Preise für Lebensmittel und Brennstoff bringen die Hilfsbereitschaft in Gefahr. Außerdem geraten die Zivilisten im Konflikt zwischen der Türkei und der #PKK# selber in Lebensgefahr
Er kämpft mit der Fassung, versucht vor den Besuchern seine Tränen zu verbergen. Doch es will nicht gelingen. Vor wenigen Tagen hatte Shamo Khudida, Jeside, 51 Jahre alt, genug von seinem Flüchtlingsdasein.
2014 hatte er Hals über Kopf im Shingal-Gebirge alles zurückgelassen, seine Olivenhaine und auch die Schafherde. Die Terroristen des sogenannten Islamischen Staates (IS) waren ihm, seiner Familie wie seinem gesamten Volk auf den Fersen. Die Mörder wollten massakrieren, brandschatzen, zerstören. Irgendwie hat er es mit seiner Frau geschafft.
Eine Woche waren sie unterwegs, hatten nichts zu essen, bettelten andere Flüchtlinge um irgendetwas Essbares an, liefen stoisch an den Leichen derer vorbei, die in den Bergen einfach nicht mehr konnten und liegen blieben. Über Syrien retteten sie sich völlig entkräftet in den Nordirak. Kurdische Peschmerga-Soldaten sicherten auf den letzten Metern ihren Weg. Dann fanden sie in Enishke Zuflucht.
In dem kleinen Ort an der irakisch-türkischen Grenze ist der chaldäisch-katholische Pfarrer Samir Al-Khoury als Seelsorger tätig. In Enishke lebten vor 2014 etwa 600 einheimische Christen. Flucht und Vertreibung durch den IS brachte das Bergdorf an die Belastungsgrenzen: „Zwischenzeitlich waren fast 5000 völlig mittellose Flüchtlinge hier“, erinnert sich der Geistliche, „Enishke wurde zum Anlaufpunkt wie auch Zufluchtsort und ist es geblieben.“
Bittere Enttäuschung in der alten Heimat
Acht für ihn unendlich lange Jahre ist das für Shamo Khudida her. Mittlerweile gilt der IS als militärisch besiegt. Aber ein Flüchtling, oder wie es in der Bürokratensprache von Hilfsorganisationen heißt, ein Binnenvertriebener ist Khudida immer noch. Deshalb wollte er zurück nach Shingal. Ausloten, ob seine Familie dort so oder so eine Zukunft haben könnte. „Sie haben unsere Olivenbäume abgebrannt. Manche waren über 100 Jahre alt. Nur Strünke stehen noch. Es gibt dort nichts zum Wiederaufbauen“, schüttelt er den Kopf. Wo sie wohnten, lebten jetzt Fremde. Es seien die Familien von IS-Kämpfern .
Einer von der Flüchtlinge ist der Jeside Shamo Khudida, dessen Felder und Äcker von der Terrormiliz IS zerstört wurden. Er lebt seit acht Jahren in Enishke. (Foto: Ludger Möllers/Schwäbische.de)
Pfarrer Samir hatte damit gerechnet, dass Shamo Khudida sehr schnell zurückkommt. Es gibt eine Vielzahl solcher Geschichten. Deshalb hatte Samir das Haus um die Ecke seiner Kirche frei gehalten, das seine Gemeinde von einem Christen anmietet, der mittlerweile in der Provinzhauptstadt Dohuk arbeitet. „Selbst nach acht Jahren fühlen sie sich nicht zu Hause“, nur langsam schimmere es den vertriebenen Jesiden, dass sie hier in den Bergen unweit der türkischen Grenze Fuß fassen müssten.
Auch Christen aus der Millionenstadt Mossul, die jetzt in Enishke leben, bringen ihre ganz eigenen, schlimmen Erfahrungen mit, weiß der Seelsorger: „Sie sind traumatisiert.“ Vor allem radikale sunnitische Gruppen hatten die Christen in Mossul seit Beginn des Jahrtausends terrorisiert und zur Flucht gezwungen. So hatte die Terrormiliz IS Christen – wie auch Angehörige anderer Religionen – getötet, verschleppt, vertrieben und ihre Einrichtungen zerstört.
Rasant steigende Preise
Allgemein sei die Situation schwierig. „Wir haben die vielen Flüchtlinge, die wir versuchen, wie unsere Familien zu behandeln. Wir hatten Corona im Dorf, jetzt steigen die Lebensmittel - wie auch die Kerosin- oder Benzinpreise wegen des Angriffs Russlands auf die Ukraine“, schildert der Geistliche knapp die Situation. 365 jesidische Familien aus der Ninive-Ebene seien in Enishke dauerhaft sesshaft geworden: „Wir müssen für 900 Kinder Unterricht anbieten!“ Die Gemeinde kümmert sich um 27 Waisenkinder: „Diese Kinder können die schreckliche Vergangenheit natürlich nicht vergessen.“
Zerstörte und abgebrannte Olivenhaine: Shamo Khudida glaubt nicht, dass er jemals in seine Heimat, das Shingal-Gebirge, zurückkehren wird. (Foto: privat/Schwäbische.de)
Und dann seien da noch die Türken. „Jede Nacht hören wir ihre Maschinen, ihre Drohnen. Wir sind einfach zu nah an der Türkei.“ Gefährlich sei das alles, es gebe regelmäßig Tote. Die Türkei attackiert seit langem in der Region die Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK , die von der EU und auch von Deutschland als Terrororganisation eingestuft ist.
Kritik an der PKK und an den irakischen Institutionen
Kirchliche und politische Vertreter der Christen hatten in den vergangenen Jahren zum einen an die Türkei appelliert, in den Gebieten mit Zivilbevölkerung keine militärischen Operationen durchzuführen, und zum anderen wurde die PKK aufgefordert, sich aus solchen Regionen zurückzuziehen. Bislang freilich ohne Erfolg. Der Priester übt zugleich Kritik an der PKK und an den irakischen Institutionen, die nicht in der Lage seien, Sicherheit und Frieden zu schaffen: „Wir sind Geiseln von Erdogans Krieg gegen die PKK.“
Samir äußert sich kurz nach dem verheerenden Artillerieangriff auf ein Touristenresort in der nordirakischen Region Zakho, bei dem neun Menschen, darunter auch Kinder, ums Leben kamen. „Jede Woche sterben Menschen durch diese Angriffe, auch ich war schon in Gefahr, getroffen zu werden. Ankara muss gestoppt werden.“
In dem christlichen Dorf Enishke werden in diesen Tagen die ersten Hilfsgüter, die aus der Aktion „Helfen bringt Freude“ finanziert wurden, an Bedürftige verteilt. (Foto: Pfarrei Enishke/Toma Waad/Schwäbische.de)
In den Bergen oberhalb der Großstadt Zakho sei die Offensive auch nach dem Massaker weitergegangen. „Die Türken beschießen unsere Berge überall“, so der chaldäische Priester. „Jede Woche sterben bei uns zwei, drei, zehn Menschen, das ist auch in unserem Distrikt Amadiya passiert.“
Kampf gegen Fluchtursachen
Samir belässt es nicht bei Worten, sondern packt an. Er stemmt sich dagegen, dass Jesiden wie Christen sich wegen der mit Händen zu greifenden Aussichtslosigkeit Schleppern anvertrauen, um irgendwie nach Europa durchzukommen.
Dabei verweist er auf den chaldäischen Patriarchen Kardinal Louis Raphael I. Sako, der unablässig davor warnt, dass der Irak seine kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt verlieren könnte. Diese Gefahr sei vor allem für Christen, Mandäer und Jesiden durch Schikanen und Auswanderungsdruck präsent. Dieser Bedrohung müsse durch Erziehung, Sensibilisierung und Bildung angegangen werden, so der Patriarch. Der Nahe Osten sei die Wiege der Zivilisationen und der Religionen; seine Vielfalt sei ein „göttlicher Plan“.
Praktische Hilfe: Heizmaterial
Zurück zu Pfarrer Samir, der den Appell des Patriarchen im Alltag umsetzt. „Wir glauben, dass Bildung ganz wichtig ist, darum haben wir Fahrzeuge beschafft, damit junge Leute in der Provinzhauptstadt auf die Universität oder die höhere Schule gehen können.“
Ganz praktisch wird der Geistliche, wenn er beispielsweise für die Flüchtlinge Kerosin besorgt, mit dem bei den derzeit herrschenden Minustemperaturen die Heizungen betrieben werden. Alleine kann die Gemeinde die Unterstützung nicht stemmen. Darum braucht er Hilfe: „Ich brauche euch“, wendet er sich an die Leser der „Schwäbischen Zeitung“.
Ein Sprichwort sagt: Schnelle Hilfe ist gute Hilfe. Daher sind aus Mitteln der noch bis Anfang Januar laufenden Weihnachtsaktion „Helfen bringt Freude“ schon Mitte Dezember die ersten Hilfslieferungen in Enishke angekommen: Vor allem jesidische, christliche und syrische Flüchtlinge erhielten Lebensmittelpakete und Brennstoff. „Die Heilige Familie war auch auf der Flucht“, erinnert Samir an die biblische Weihnachtsgeschichte, „ich wünsche Euch diese Hoffnung der Weihnacht!“[1]