Zusammen mit Michael Meyen hat #Kerem Schamberger# das Buch „Die Kurden“ geschrieben, es ist seit September im Westend Verlag erhältlich. Das Buch handelt von Menschen, die die kurdische Frage in Deutschland stellen. Im Interview erzählt Kerem an wen sich das Buch richtet, und was die kurdische Befreiungsbewegung mit anderen Befreiungsbewegungen gemeinsam hat.
Euer Buch kam Anfang September raus. Spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei auf den Kanton Afrin am Anfang des Jahres war Rojava in aller Munde. War das ein Grund für euch, dass euer Buch jetzt kommt?
Wenn man über kurdische Themen schreibt, dann hat man im Jahrestakt – wenn nicht sogar im Monatstakt – irgendwelche dramatischen Ereignisse, die es rechtfertigen würden so ein Buch zu schreiben. Aber der Entschluss dieses Buch zu schreiben ist im Januar 2017 gefallen. Also genau ein Jahr vor dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei und dessen dschihadistischen Unterstützer.
An wen richtet sich das Buch?
Das Buch richtet sich vor allem an Leute, die auf die kurdische Frage oder auch nur den Begriff Kurde oder Kurdistan in den Medien immer mal wieder stoßen und darüber mehr erfahren wollen. Es richtet sich schon eher an Leute, die sich noch nicht mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Es ist nicht ein Buch, das auf einen speziellen Aspekt der kurdischen Freiheitsbewegung detailiert eingeht, sondern einen generellen Überblick liefert.
Einige Protagonisten, die im Buch auftauchen, sind Deutsche. War es euch wichtig zu betonen, dass Deutschland auch eine Rolle spielt in dem ganzen Konflikt?
Die kurdische Frage ist eine Frage der Demokratie: Wie wollen wir gesellschaftliches Zusammenleben organisieren? Soll es sich um Profitstreben drehen oder soll es um Kooperation und Solidarität gehen? Und deshalb ist die kurdische Frage immer auch eine Frage gewesen an der sich viele Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen beteiligt haben. Nur als kleines Beispiel: Viele der Gründungsmitglieder der PKK waren Türken. Wir gehen auf den deutschen Zusammenhang ein, weil dieser auch ein Auslöser dafür war, warum wir dieses Buch geschrieben haben. Wenn ich auf kurdische Demontrationen gehe, dann trifft man immer wieder Leute, die einen zurufen: „Löst doch eure Probleme da unten, und bringt die nicht mit zu uns!“. Wir wollten mit dem Buch zeigen, dass die kurdische Frage auch deshalb exisitert, weil die Türkei sich der Unterstützung des Westens insbesondere der BRD seit Jahrzehnten sicher sein kann. Der Angriffskrieg auf Afrin wäre nicht möglich gewesen, wenn in den letzten 13 Jahren die Bundesregierung nicht mehr als 350 Leopard-Panzer an die türkische Armee geliefert hätte. Dadurch ist die kurdische Frage nicht alleine auf den Nahen und Mittleren Osten beschränkt sondern eben eine allgemeine Frage.
Du beteiligst dich an einer Veranstaltung auf dem 68/18 Kongress in Berlin. Der Titel lautet „Von Vietnam bis Kurdistan: Grenzen Nationaler Befreiungsbewegungen.“ Ist die kurdische Freiheitsbewegung eine nationale Befreiungsbewegung?
Die kurdische Bewegung hat sich als nationale Befreiungsbewegung gegründet mit dem Ziel einen sozialistischen kurdischen Nationalstaat zu etablieren und zu gründen. Das waren die ersten Ziele der PKK. Doch mit Beginn der 90er Jahre – aber vor allem nach der Inhaftierung von Abdullah Öcalan 1999 – hat sich das stark geändert und zu einem Paradigmenwechsel geführt. Weg vom Streben nach einem Nationalstaat und hin zu einer Organisierung des Lebens im Nahen und Mittleren Osten jenseits nationalstaatlicher Grenzen. Es werden drei grundsätzliche Probleme festgemacht: 1. Der Kapitalismus als Wirtschaftsform 2. Der Nationalstaat, der Ideengeschichtlich aus Europa kommt. Die nationalstaatliche Ideologie führt immer wieder dazu, dass irgendwelche Menschengruppen unterdrückt werden und ausgebeutet werden. 3. Die Frage der Unterdrückung der Frau, die noch älter ist als Nationalstaat und Kapitalismus. Deshalb wird auf Grundlage dieser Analyse das Streben nach einem kurdischen Nationalstaat abgelehnt, weil gesagt wird: „Ok, dann hätten wir einen kurdischen Nationalstaat aber die Unterdrückung von arbeitenden Menschen oder von Frauen würde weiter gehen.“
Deshalb ist die kurdische Befreiungsbewegung keine klassische nationale Befreiungsbewegung. Sie strebt über den Nationalstaat hinaus. Das macht sie auch besonders im Vergleich zu Befreiungsbewegungen aus der Vergangenheit.
Und hat dennoch Gemeinsamkeiten zur Befreiungsbewegung in Vietnam?
Die Gemeinsamtkeit ist, dass beide Bewegungen eine große Unterstützung des Volkes hatten und haben. Ohne die tiefe Verankerung in den Dörfern, in den Bergen oder in den Wäldern – sei es in Vietnam oder in kurdischen Gebieten – wäre ein Kampf nicht möglich gewesen. Die kurdische Befreiungsbewegung kämpft seit 1984 bewaffnet nicht nur gegen den türkischen Staat sondern auch gegen eine Vielzahl anderer Angriffe. In ihrer Analyse spricht die kurdische Befreiungsbeweung davon, dass sich im Nahen und Mittleren Osten gerade ein sogenannter Dritter Weltkrieg abspielt. Hier ringen verschiedene herrschende Kräfte (Russland, die USA bzw der Westen, Iran, Türkei) um Hegemonie. Die Angriffe richten sich gegen die kurdische Befreiungsbewegung, weil diese einen dritten Weg geht, jenseits von Osten oder Westen. So versucht sie eine Möglichkeit der Emanzipation anzubieten und an dieser Möglichkeit hat keine der hegemonialen Kräfte ein Interesse.
Zweite Gemeinsamkeit ist die Romantisierung der Revolution der deutschen Linken. Damals in Vietnam, heute in Rojava?
Wenn die Linke in Europa, in einem Zentrum des Kapitalismus, es nicht schafft eigene Ausbrüche aus dem kapitalistischen Alltag zu realisieren, dann schaut man sich natürlich um. Wo gibt es sowas und wie können wir es unterstützen? Das war Vietnam in den 60er/70er Jahren und das ist heute eben Rojava. Das führt manchmal zu einer romantischen Verklärung des Alltags und man muss sich immer bewusst sein: in Rojava genauso wie in Vietnam war und ist Krieg. Eine ganze Gesellschaft ist massiv Angriffen ausgesetzt, das hat Auswirkungen auf die Sozialstrukturen und auf die Beziehungen zwischen den Menschen. Aber inmitten dieser Schwierigkeit versuchen die Menschen etwas anderes aufzubauen. Eine Rätedemokratie bzw. Rätestrukturen, die sich organisieren. Das fängt bei Kommunen von 30 bis 150 Haushalten an und geht über verschiedenen Ebenen bis ganz nach oben zum Zentralrat. Die Realisierung einer konkreten Utopie, das ist ein Hoffnungspol für viele Menschen. Deshalb sage ich: Lieber etwas romantisieren als daneben stehen und sagen: „Das schaffen die eh nicht.“
Die Fragen stellte Martin Wähler[1]