Die verbotene kurdische Arbeiterpartei #PKK# verübt wieder verstärkt Angriffe, die türkische Regierung antwortet kompromisslos. Dies geschieht in einer Zeit des politischen Umbruchs, da im Juni Parlamentswahlen anstehen, deren Ausgang maßgeblich die zukünftige Verfassung der Türkei beeinflussen wird.
Die politischen Parteien beobachten das gewalttätige Scharmützel und treiben mittendrin Wahlkampf. Die den Kurden nahestehende Partei BDP schlägt vermeintlich Kapital aus den Kämpfen, indem sie klarstellt, dass jede von der Regierung auf Kurden abgefeuerte Kugel eine weitere Stimme für die Partei bedeute. Für die rechtsextreme MHP und die Kemalisten der CHP sind die erneut aufkommenden Gewalttaten eine willkommene Gelegenheit, um die Nationale-Einheits-Öffnung, früher bekannt als „kurdische Öffnung“ oder auch „demokratische Öffnung“, zu diskreditieren, die von der Regierungspartei AKP um Erdoğan angetrieben wurde und seit Monaten scheinbar planlos vor sich hin dümpelt.
Geht es nach der MHP und der CHP, sind es gerade die demokratischen Zugeständnisse für die Kurden, die die Gewalt aufkommen lassen. Darüber hinaus predigen sie Gewalt und Härte gegenüber der PKK und all ihren Sympathisanten und fordern somit jene Einsatzmittel, die in den letzten 27 Jahren, seit die PKK ihren bewaffneten Kampf gegen das türkische Regime aufnahm, zu keinem Erfolg geführt haben. Und die AKP ist hin- und hergerissen zwischen Öffnung und Schließung, zwischen Plänen und Ratlosigkeit, zwischen Zukunft und Vergangenheit.
Aber wie kommt es, dass die PKK, die unter anderem von der EU und der Türkei als terroristische Vereinigung eingestuft wird, in Zeiten von pro-kurdischen Demokratisierungsprozessen – egal, wie stagnierend sie teilweise verlaufen – so radikal reagiert und die Waffenruhe kündigt?
Eine Antwortmöglichkeit: die Demokratisierung, die von der AKP vorangetrieben wird, ist in den Augen der PKK-Führung nicht ausreichend genug. Diese in deren Augen „Pseudo“-Demokratisierung sorgt somit lediglich für eine Verwässerung der Kurdenproblematik, und keine Lösung.
Eine andere Antwortmöglichkeit: die Demokratisierung, die von der AKP vorangetrieben wird, ist in den Augen der PKK-Führung nicht erwünscht. Die kurdische Arbeiterpartei, die in der letzten Dekade von ihrem ursprünglichen Ziel der Sezession weg sich hin zur Autonomie innerhalb der türkischen Grenzen positionierte, schützt den Status Quo, der vor allem eine Hegemonie der kurdischen Interessenvertretung und der damit verbundenen Loyalität auf finanzieller sowie militärischer Ebene bedeutet.
Wenn man unterdessen beobachtet, wie die AKP in den letzten Wahlen auch in den kurdisch dominierten Bezirken Wähler mobilisieren konnte oder wie der Zuspruch für eine Verfassungsänderung in jenen Regionen ausfiel, lässt sich sagen, dass die Regierungspartei als Alternative zur PKK wahrgenommen wird, dass die gemachten Versprechen Erdoğans nicht nur als Worthülsen aufgefasst werden. Hier ist die Hegemonie der PKK als alleiniger Interessensvertreter der „kurdischen Sache“ durchbrochen, und zwar vordergründig durch demokratische Maßnahmen. Doch dass dieser Durchbruch, der für die Mehrheit der Kurden in der Türkei spürbare Veränderungen bedeutet, nicht wohlwollend von der PKK bewertet wird, sondern im Gegenteil eher eine radikalisierende Wirkung hervorruft, ist erstaunlich. Die PKK versucht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihre Hegemonie zu etablieren, sei es nun vordergründig durch Waffengewalt oder auch durch öffentliche Diffamierung von Kurden, die pro-AKP tendieren.
Es geht der kurdischen Arbeiterpartei ums nackte Überleben. Es ist daher spannend zu beobachten, wie die Scharmützel zwischen dem türkischen Regime und der PKK in einer Zeit geschehen können, in der der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan noch vor ein paar Tagen betonte, dass ein Deal zwischen den beiden Gruppen nur eine Frage der Zeit ist. Der neuen PKK-Führung um Murat Karayilan scheint die Meinung des Inhaftierten, dessen Einflusskraft von Politologen weiterhin hoch eingeschätzt wird, eher ein Klotz am Bein zu sein.
Nun verhält es sich keineswegs so, dass immer nur die PKK agiert und die türkische Regierung und Opposition lediglich reagieren. Vielmehr ist hier ein Kreislauf von Auge-um-Auge-Justiz und Dickköpfigkeit am Durchdrehen, der nun seit fast drei Jahrzehnten immer weiter angetrieben wird. Erdoğan, der mit dem Perspektive des EU-Beitritts Reformen beim Volk und Parlament durchsetzen konnte, muss eines hoch angesehen werden: er hat die Kurdenproblematik angesprochen, und auf die Agenda gesetzt. Dass er sich durch diese Positionierung auf ein politisches Minenfeld begibt, ist ihm sehr wohl bewusst. Und dass man dieses politische Minenfeld in einer polarisierten Gesellschaft wie der Türkei kaum schadenlos durchstehen kann, ist eine realpolitische Tatsache.
Zu kritisieren ist allerdings, dass Erdoğan in Reformvorhaben nach starkem Beginn schnell schwächelt und innenpolitisch klein bei gibt – exemplarisch schon an der Namensänderung der „Kurdischen Öffnung“ erkennbar. Aber es ist Fakt, dass der Weg zur EU über Diyarbakir führt, und es ist Fakt, dass der Weg zum Frieden in der Region nur über fortschreitende Demokratisierung, Öffnung und Anerkennung von autonomen Rechten läuft. Beide Wege sind Erdoğan bewusst, und beide Wege müssen in der neuen Verfassung deutlich erkennbar konstituiert werden.
Die Parlamentswahlen stehen an – die PKK wird ihre Anschläge fortsetzen. Doch das Volk, sowohl kurdischer als auch türkischer Herkunft, entscheidet, wie die Zukunft der Türkei mit all ihren Ethnien verfasst sein wird.[1]