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Kurdische Migration in Deutschland - Historisch-politischer Hintergrund und aktuelle Situation
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Kurdische Migration in Deutschland

Kurdische Migration in Deutschland
Autor: Kurdische Migration in Deutschland
AUTOR: RÜSEN CACAN
Erscheinungsort: Deutschland
Verleger: Universität zu Köln (Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften)
Veröffentlichungsdatum: 2014
$Einleitung$
1. Einführung in die kurdische Geschichte
1.1 Ethnogenese
1.2 Geographische Lage
1.3 Geschichtlicher Überblick
1.4 Die Kurdische Sprache
1.5 Religionen
1.6 Soziale Strukturen
1.7 Demographische Entwicklungen
1.8 Die wirtschaftliche Lage

2. Die Situation der Kurden in den Herkunftsländern
2.1 Türkei
2.2 Iran
2.3 Irak
2.4 Syrien
2.5 UdSSR

3. Flucht aus Kurdistan
3.1 Konflikten zwischen Religionen
3.2 Wirtschaftliche Gründe
3.3 Politische Verfolgung

4. Migration
4.1 Definition
4.2 Kurdische Migranten in Deutschland
4.2.1 Kurdische Arbeitsmigranten
4.2.2 Kurdische Flüchtlinge
4.3 Aufenthaltsgesetze
4.4 Asylrechte

5. Allgemeine soziale Situation der Kurden in Deutschland
5.1 Lebensbedingungen der Kurden in Deutschland
5.2 Sozial und kulturelle Rechte
5.3 Politische Rechte
5.4 Die kurdische Frauen
5.5 Kurdische Organisationen
5.6 Die Bildungssituation der Migranten in Deutschland
5.7 Förderung der Muttersprache
5.8 Kurdische Medien

6. Der Bezug Deutschlands zur Kurdenfrage
6.1 Die Beziehung zwischen Deutschland und Türkei
6.2 Einfluss der türkischen Regierung gegenüber Kurden in Deutschland

7. Selbstwahrnehmungen von Kurden
7.1 Bewusstsein der Kurden in Deutschland
7.2 Differenzierungen unter kurdischen Migranten
7.3 Politische Differenzierungen zwischen kurdischen Migranten

8. Integration
8.1 Integrationspolitik
8.2 Integration und Diskriminierung
8.3 Integration und Kurdenspezifische Migrationspolitik

9. Resümee
Literaturverzeichnis
Vorwort
In meiner Arbeit werde ich die historisch-politischen Hintergründe der kurdischen Frage in den vier Herkunftsstaaten (Türkei, Iran, Irak und Syrien) der kurdischen Migranten darstellen, so dass man die Möglichkeit hat, die Geschichte kurdischer Zuwanderung nachzuvollziehen und die Situation der kurdischen Migranten einzuordnen.
Zur Erleichterung des Leseflusses wurde in meiner Arbeit nur die männliche Geschlechtsform verwendet, wobei selbstverständlich diese Form die weibliche mit einschließt.

Einleitung
Die kurdische Frage rückte in den 90er Jahren durch den zweiten Golfkrieg, den Krieg zwischen der kurdischen Widerstandsbewegung und dem türkischen Militär in der Türkei sowie durch die vehementen Proteste von Angehörigen der kurdischen Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Diese Arbeit geht der Frage nach, wie sich die Tatsache auswirkt, dass kurdische Einwanderer im Unterschied zu vergleichbar großen Migrantengruppen nicht über die institutionalisierte Lobby eines Herkunftsstaates verfügen.

In meiner Arbeit werden die sozioökonomischen und politischen Hintergründe von Kurden betreffenden Fragen nachgegangen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei dem türkisch-kurdischen Konflikt in der Türkei, bei den Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit kurdischen Demonstrationen in der Bundesrepublik sowie der grundsätzlichen Frage des Umgangs mit Minderheiten in erster Linie um ein Problem handelt, das politisch zu lösen wäre. Umgekehrt gehen aber politische Interpretationen der kurdischen Frage und gesellschaftliche Diskurse über Kurden in die pädagogische Theorie und Praxis ein. Um dem auf die Spur zu kommen, ist ein interdisziplinärer Ansatz notwendig, der übergeordnete Zusammenhänge mit einbezieht. Es ist notwendig, auf den historisch-politischen Hintergrund der kurdischen Frage, wie sie sich in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien stellt, einzugehen sowie die Interessen zu hinterfragen, die den Entscheidungen der deutschen Politik in Bezug auf die kurdische Frage zugrunde liegen.

Im Laufe der Geschichte wurde der Name Kurdistan im unterschiedlichen geografischen und politischen Sinn verwendet und bezeichnete dabei jeweils Gebiete unterschiedlicher Lage und Ausdehnung. Der Begriff „Kurdistan“ entstand erstmals im elften Jahrhundert, ohne geographisch eingegrenzt zu werden. Die Kurden wurden durch die staatlichen Grenzen zuerst in zwei Teile zwischen Perser und Osmanen geteilt. Im Vertrag von Lausanne (24. Juli 1923) wurden die neuen Machtverhältnisse zwischen der Türkei und den Besatzungsmächten Vereinigtes Königreich, Frankreich und Italien festgesetzt sowie vertraglich niedergeschrieben. Das Siedlungsgebiet der Kurden befand sich von da an in vier Staaten, nämlich der Türkei, im Iran, Irak sowie in Syrien. Diese Grenzen jedoch definierten keineswegs Barrieren innerhalb des kurdischen Volkes.

Die Kurden leben meistens in der Türkei, im Irak, im Iran, in Syrien und in der Ex-Sowjetunion. Dabei gibt es nur wenige Zugeständnisse von offizieller Seite, wie die fehlende amtlich anerkannte Sprache und Schrift. Oft werden sie durch eine strikte und unnachgiebige Assimilierungspolitik schon in ihrer Heimat „zu Fremden“ gemacht. Sie leben im eigenen Land unter mangelhaften Versorgungsbedingungen in den Bereichen Kultur, Sprache, Bildung, Gesundheit sowie unter allgemein sehr eingeschränkten wirtschaftlichen Bedingungen, bis hin zur tiefsten Armut. Die Entwicklung der kurdischen Potentiale wird in den kurdischen Landsteilen durch die politischen Bedingungen unterdrückt, bzw. schon deren Entstehung verhindert.

In Deutschland ist die Frage nach der Integration als Bedarf der rechtlichen und demokratischen Klärung der Ausländersituation entstanden. Nach fast 50-jähriger Immigration leben inzwischen etwa eine Million Kurden in Europa. Sie sind als Arbeitsimmigranten aus der Türkei, dem Iran, Irak und aus Syrien, Armenien und Aserbaidschan gekommen oder mussten ihre Heimat als Flüchtlinge verlassen. Seit kurdische Gastarbeiter mit ihren Familien nach Deutschland gekommen sind, gibt es eine Frage nach deren Lebensbedingungen und Integration. Das Thema der kurdischen Integration in Deutschland bedarf einer Aufstellung von weiteren Daten und Fakten über ihre Lebenssituation, einer Darstellung über Deutsche sowie des kurdischen Integrationsprozesses in seiner chronologischen Reihenfolge. Dabei sind auch Faktoren wie die Einflüsse politischer Ideen und Kräfte zu berücksichtigen.

Nach der rechtlichen Situation lassen sich die kurdischen Migranten in der Bundesrepublik wie folgt einteilen: in Arbeitsmigranten, Flüchtlinge sowie Asylbewerber und Asylberechtigte. Kurden werden in Deutschland vorwiegend als Türken, Araber, und Iraner definiert, obwohl sie privat an der Pflege kurdischer Traditionen und Sprache festhalten.
Oft werden Kurden in den deutschen Medien mit Unterdrückung, Verfolgung oder Vernichtung und anderen Meldungen in Zusammenhang gebracht. Dabei geht es meistens um Themen wie Krieg, Demonstrationen, Ehrenmord oder PKK-Verbot.
Ein ethisch motiviertes Handeln in den Medienberichten über Kurden ist somit kaum zu erkennen.

Minderheiten wurden in der deutschen Geschichte in der Regel immer dann zur Kenntnis genommen, wenn befürchtet wurde, dass sie zu einem Problem werden könnten. Auch die Wahrnehmung kurdischer Migranten steht in dieser Tradition. Von der bundesdeutschen Öffentlichkeit werden sie vor allem als Störfaktor empfunden. Vorherrschend ist die Sichtweise, ein Konflikt zwischen Kurden und Türken sei in die Bundesrepublik „importiert“ worden. Die kurdische Frage, wie sie sich in der Bundesrepublik stellt, ist aber kein Konfliktimport. Aus politisch-ideologischen Gründen verweigert die Politik die Anerkennung der Tatsache, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist und zollt deswegen der offiziellen Kulturideologie der Herkunftsländer weit mehr Anerkennung, als dem nationalen bzw. ethnischen Selbstverständnis der Zugewanderten. Aus außenpolitischen Machtinteressen nimmt die Bundesrepublik Rücksicht auf die Forderungen der offiziellen türkischen Politik. Demgegenüber hatte die deutsche Regierung nie Probleme, Maßnahmen zu treffen, die im Widerspruch zur offiziellen Politik des früheren Jugoslawiens standen, wie die frühzeitige Anerkennung kroatischer Institutionen zeigt. Im Gegensatz zu anderen Minderheiten, die in der deutschen Geschichte immer wieder für außenpolitische Interessen funktionalisiert wurden, steht die kurdische Minderheit deutschen, politischen Interessen aber im Weg.

Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten zwischen türkischen und kurdischen Migranten aus der Türkei bezüglich der rechtlichen und sozialen Situation, gibt es erhebliche, Kurden diskriminierende Unterschiede im institutionellen Bereich. Einen großen Aspekt dieser Diskriminierung stellt die mangelhafte Anerkennung und Förderung der kurdischen Sprache im Rahmen der Schule im Unterschied zu vergleichbaren Migrantenminderheiten dar.

1. Einführung in die kurdische Geschichte
Die Herkunft der Kurden liegt im vorgeschichtlichen Dunkeln, weil die meisten Informationen über die Kurden vor dem Mittelalter, genauer; vor der Annahme des Islams und der damit einsetzenden Erwähnung in muslimischen Quellen, bruchstückhaft und umstritten sind. Vermutlich sind die Vorfahren der Kurden um die Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert v. Chr. im Zuge von Einwanderungswellen indogermanischer Arier nach West-Iran gekommen (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 25f). Diese Region, Mesopotamien, war die Wiege der menschlichen Zivilisation. In unterem Teil lebten u.a die Babylonier, Assyrern, Sumerer, Akader. In oberen Teil Kartuner, Meder, Urartäer und andere Völker. Von den Zivilisationen dieser Völker sind viele Fragmente zurückgeblieben. Aber von den damaligen Völkern leben heute nur noch wenige darunter Kurden, Armenier und eine kleine Minderheit von Assyrer (vgl. Demirkol 1997, 9).

1.1 Ethnogenese
Es gibt keinem der Länder, in denen Kurden leben, verlässliche Schätzungen über ihre Zahl. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen. Einer ist der jeweiligen Regierungspolitik zu suchen: Die betroffenen Regierungen spezifizieren die verschiedenen linguistischem und religiösen Gruppen innerhalb ihrer Grenzen aus Gründen der nationalen Integration gewöhnlich nicht oder sind, wenn sie es tun, sehr zurückhaltend mit der Veröffentlichung der Ergebnisse. Ein anderer Grund ist, dass es vom politischen und sozialen Kontext abhängt, ob sich eine Person als Kurde bezeichnet oder nicht (vgl. Bruinessen 1997, 186).

Unter den Kurden finden wir einen Kern, dessen ethnische Identität unzweideutig kurdisch ist und der umgeben ist von einer fließenden Masse mit verschiedenen Graden von „Kurdischheit“, Menschen, die außer kurdisch auch noch etwas anderes sind und die ihre kurdische Identität betonen können oder auch nicht (vgl. Bruinessen 1997, 187). Nach Erhard gelten diejenigen als Kurden, die sich zum ersten als solche identifizieren und die zum zweiten von anderen Volksgruppen und Kurden als Angehörige des kurdischen Volkes anerkannt werden. Über diese Zugehörigkeit aufgrund der eigenen Identifikation und der Anerkennung von außen hinaus, gibt es einige weitere identitätsstiftende Merkmale, welche jedoch nicht auf alle Kurden angewendet werden können. Hierzu gehören Sprache, Religion, Abstammung und auch das verbreitete Zusammengehörigkeitsgefühl (vgl. Dogan u.a. 2008, 7).

Die Kurden sind nicht Türken und Araber. Der Narrativ, Kurden als Türken darzustellen, lässt sich auf die rigide kemalistische Praxis zurückführen. Kurden stellen neben Arabern und Türken eines der größten Völker im Nahen Osten. Mit Blick auf die Geschichte dieses alten Volks ist zu bemerken, dass sich Kurden in ihrer Geschichte immer im Einflussbereich verschiedener, sich abwechselnder Großreiche befanden. Typischerweise ist jedoch nicht ganz klar, ab wann man von den Kurden sprechen kann. Assyrische und sumerische Schriften aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. belegen die Existenz eines „Qurti“-Volks, das im nördlichen Zagros-Gebirge (im heutigen Iran) gelebt haben soll (vgl. Yildiz 1992, 5). Auf den beiden sumerischen Steinschwellen wird das Land „Kardaka“, das nordöstlich von Mesopotamien liegen soll (vgl. Senol 1992, 28).

Das Wort Kurde wurde schon in der Antike von Xenophon verwendet. Aber über ihre Herkunft gibt es wenige Informationen. Es wird angenommen, dass die Kurden von Meder oder Skythen abstammen (vgl. Demirkol 1997, 9). Der griechische Historiker Xenophon berichtet in seinem wohlbekannten Werk „Anabasis“ über die Vorfälle der griechischen Soldaten, nördlich von Mesopotamien beim „Rückzug der Zehntausend“ in den Jahren 401-400 v. Chr., mit einer Volksgruppe namens „Karduch“ (vgl. Senol 1992, 28). Die Mythologie von Newroz wurde vor dieser Zeit überliefert. Das kurdische Newroz-Fest lässt sich auf das Jahr 612 v. Chr. zurückverfolgen, dem gleichen Jahr in dem das Medische Reich errichtet wurde: „Nach einer alten kurdischen Legende befreite der Schmied Kawa am 21 März 612 v. Chr. die Völker des Mittleren Ostens aus der Tyrannei des Fürsten Dahak. Seitdem wird der 21. März […] als Symbol für Befreiung, Widerstand und Freiheit gefeiert. Dieser Tag wird Newroz genannt und heißt ‚ neuer Tag“ (Yildiz 1994, 6).

Die Kurden sind eines der ältesten Völker der Erde. Dennoch sind sie, bei einer Gesamtpopulation von geschätzten 30 - 40 Millionen Menschen bis heute das zahlenmäßig größte Volk der Erde ohne eigenen Staat. Die Bezeichnung Kurdistan findet zum ersten Mal nach der Auflösung des Groß- Seldschukenreiches gegen Ende des 11. Jahrhunderts Erwähnung (vgl. Dogan u.a. 2008, 6). Zum ersten Mal stießen die Kurden mit den Türken zusammen. Die Seldschuken drangen aus Zentralasien nach Anatolien vor. Mit der siegreichen Schlacht von Manziker im Jahr 1071 gegen das byzantinische Reich wurden die kurdischen Gebiete dem Seldschukenreich einverleibt (vgl. Yildiz 1994, 7). Unter dem langjährigen Herrscher Sultan Sanschar (1118-1157) entstand im Staat Chorsan (Ost-Persien) eine Provinz mit dem Namen Kurdistan, was soviel bedeutete wie Land der Kurden. Im Osmanischen Reich gab es gleichfalls eine Provinz mit Namen Kurdistan (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 20). Im heutigen Sprachgebrauch wird der Begriff Kurdistan offiziell nur noch für die Provinz Sanandaj im Iran verwendet (vgl. Dogan u.a. 2008, 6).

1.2 Geographische Lage
Eine allgemein akzeptierte geographische Definition Kurdistans gibt es nicht. Das ist nicht überraschend, weil mit dem Begriff ganz verschiedene Vorstellungen verbunden werden. Kurdische Nationalisten verwenden ihn mit Nachdruck, während die Staaten, auf deren Territorien Kurdistan liegt, ihn leugnen oder ignorieren. Kurdistan ist auf der einen Seite (z.B. in der Türkei) ein verpöntes zuweilen auch verbotenes Wort, auf der anderen Seite ein politischer Kampfbegriff, der das Ziel eines beträchtlichen Teils der Kurden benennt (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 20).

Es gibt heute kein exaktes geographisches Territorium Kurdistan und es ist auch nicht fixiert, und so lässt sich Kurdistan auch nicht genau in festgelegten Grenzen definieren. Je nachdem, auf welches internationale Abkommen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts man sich bezieht, können die kurdischen Gebiete ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen. Die Kurden selbst sind sozusagen ein Volk ohne einen Staat. Die meisten Kurden leben in einem zusammenhängenden Siedlungsgebiet, das weite Teile der Türkei, des Iran, des Irak und Syrien umfasst. Weder existierende noch antizipierte Nationalstaaten weisen ethnische Homogenität auf (vgl. Amman 2001, 64).

In der Literatur tauchte die Bezeichnung „Kurdistan“ erstmals im elften Jahrhundert auf. Geographisch gesehen ist Kurdistan eine ausgedehnte Gebirgslandschaft in Vorderasien und wird heute auf sechs verschiedene Staaten verteilt, nämlich Irak, Iran, Aserbaidschan, Armenien, Türkei und Syrien. Eine von allen Völkern der Region akzeptierte einheitliche Karte Kurdistan gibt es nicht (vgl. Ibrahim 1983, 109). Die gesamte Fläche Kurdistans beträgt über 500.000 qkm, davon liegen in Ost-Kurdistan 175.000 qkm, in Süd-Kurdistan 75.000 qkm, in Süd-West-Kurdistan 15.000 qkm und in Nord-West Kurdistan 235.000 qkm (vgl. Kizilhan 1995, 17).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Kurdische Siedlungsgebiete (Quelle: NAVEND - Zentrum für Kurdische Studien e.V., Bonn, 2013a)

Im Norden bilden Erzurum, Kars und der Urmiye See die Grenze von Kurdistans; die östliche Grenze verläuft vom Urmiye See aus entlang den Zagros-Ketten bis zum Persischen Golf; „im Süden verläuft die Grenze vom Persischen Golf bis hin zum westlichen Teil der Zagros-Ketten, vorbei am alten Babylon und an Bagdad, weiter östlich des Tigris und dann stromaufwärts auch westlich von diesem. Dann folgt das von Suleymania, Mossul und Kirkuk umschlossene Gebiet und in einer westwärts gerichteten Linie der nordöstliche Teil Syriens von Aleppo bis Iskenderum; westlich von Iskenderum verläuft dann die Grenze über Maras, Malatya, Sivas, Erzincan und Dersim bis nach Erzurum. Das ist das Land, auf dem die Kurden gelebt haben und leben (vgl. Kizilhan 1995, 17f).

1.3 Geschichtlicher Überblick
Im Altertum kämpften die Kurden gegen alle Könige Assyriens. Sie schlossen sich später den Chaldäern an, eroberten mit ihnen 612 v. Chr. Ninive und gründeten das Medische Reich. Im Jahr 550 v. Chr. wurde das Medische Reich durch Achämeniden zerstört. Danach begann die Zeit der verschiedenen Herrschaften über Kurdistan (vgl. Kizilhan 1995, 19).

Mit dem Aufbruch des Islams nach Norden versuchten die Araber im Jahr 637 erst die Kurden zu unterwerfen und zu islamisieren. Dass die Kurden gegen Araber einen großen Widerstand leisteten, konnten die Araber erst im 8. Jahrhundert sie zwangsislamisieren (vgl. Demirkol 1997, 9). Bis zu diesem Zeitpunkt waren fast alle Kurden von ihrer Religion her Angehörige Zarathustras, der iranischer, kurdischer Prophet und der 600 v. Chr. lebte (vgl. Kizilhan 1995, 19).

Im 11 Jahrhundert mussten sich die Kurden gegen die Byzantiner und die Seldschuken wehren, da Byzantiner nach Osten drängten und die Seldschuken von Zentralasien nach Westen marschierten (vgl. Kizilhan 1995, 20). Nach dem Sieg der Seldschuken gegen Byzantiner im Jahr 1071 geriet Kurdistan nach und nach unter die Herrschaft der Seldschuken. Im 13. und 14. Jahrhundert herrschten die Mongolen in Kurdistan. Dann kamen die türkischen Stämme (Akkoyunlu und Karakoyunlu) aus Mittelasien nach Anatolien. Ihre Herrschaft dauerte bis zum Überfall der Osmanen im Jahre 1514 (vgl. Demirkol, 1997, 9).

Im späten Mittelalter konnten die Kurden unter wechselnden Dynastien ihre Eigenständigkeit wahren. Sie hatten innerhalb des osmanischen Reiches zahlreiche Fürstentümer und erlebten in dieser Zeit eine bedeutende Blütezeit. Bis Ende des 17. Jahrhunderts wurde diese Zeit von Kurden als kurdische Renaissance in materieller und kultureller Hinsicht bezeichnet (vgl. Kizilhan 1995, 20).

Im Jahr 1689 wurde Kurdistan erstmals mit dem Vertrag von Qasr-i Shirin, der einen jahrhundertlangen Frieden in der Region zufolge hatte, zwischen dem persischen und dem osmanischen Reich aufgeteilt (vgl. Özdemir 2006, 29). Diese Frieden Vertrag wurde von Kurden die „Erste kurdische Teilung“ genant (vgl. Deschner 2003, 11). Dies war auch zugleich die erste große Teilung des kurdischen Volkes als Sunniten und Schiiten, deren Überwindung immer noch ein großes Problem darstellt. Der schiitische und alevitische Glaube wird hier gleichgesetzt und wird in ihre Unterschiede hier nicht eingegangen (vgl. Demirkol 1997, 10). „Die verschiedenen Fürstentümer verhandelten mit den Türken und Persern und konnten so ihre Selbständigkeit bewahren, mussten aber als Gegenleistung Soldaten für die Heere dieser Großmächte bereithalten. In dieser Zeit fällt der Höhepunkt der kurdischen Literatur und Kultur“ (Kizilhan 1995, 20).

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts begann die Neidergang des Osmanischen Reiches und verlor seinen Einfluss über die kurdische Region. Vom Jahr 1876 an häuften sich die kurdischen Revolten gegen das osmanischen Reich (1879-80, 1886-89, 1923) Dieser Aufstände wurden von den Osmanen grausam unterdrückt (vgl. Kizilhan 1995, 21). Nachdem französische Revolution entwickelt sich eine panislamische bzw. pantürkische Bewegungen im Osmanischen Reich. Auch die Kurden entdeckten ihre ethnische Identität und somit ihr Nationalbewusstsein. Nach dem 1. Weltkrieg legten die Alliierten im Vertrag von Sèvres im Jahr 1920 die Aufsplitterung des geschlagenen Osmanischen Reichs fest und stellten den Kurden eine autonome Region mit Potential zum Staat in Aussicht. Unter der Führung Mustafa Kemals erwirkte die türkische Nationalbewegung durch den Unabhängigkeitskrieg einen neuen Vertrag. den Vertrag von Lausanne. der im Jahr 1923 unterzeichnet wurde Dieser Vertrag sprach große Teile des geplanten Kurdistans der kommenden Republik Türkei zu und wurde die Gründung eines kurdischen Staates nicht mehr vorgesehen (vgl. McDowall 1996, 137f). „Der Lausanner Vertrag berücksichtigte die ethnischen, wirtschaftlichen und historischen Gegebenheiten nicht. Er teilte das kurdische Volk in vier Teile auf“ (Kizilhan 1995, 21).

Die vereinbarten Vorgaben im Vertrag von Lausanne wurden durch den türkischen Nationalstaat nicht eingehalten. Die Kurden wurden Bergtürken genant und ihre distinkte kulturelle Existenz geleugnet. Die Ortsnamen, in dem die Kurden Leben wurden in ihrem Gebiet türkisiert (vgl. Ammann 2001, 79). Viele Kurden setzten sich gegen nationalistische Politik Mustafa Kemals wider und übten Aufstände (1925, 1929, 1937). Reaktionen der türkischen Regierung waren extrem repressiv und wurde im Laufe der Jahre die kurdische Sprache und Kultur gänzlich verboten und führten sie auch Zwangsumsiedlungen durch (vgl. Özdemir 2006, 73). Als bewiesen gilt zudem, dass im Rahmen dieser Assimilationsbestrebungen der türkischen Regierung der Gebrauch kurdischer Sprachen verboten und die Umsiedlung (auf Grundlage des Deportationsgesetzes vom 14. Juni 1930) von Teilen der kurdischen Bevölkerung in den Westen der Türkei angeordnet wurde. Im Anschluss an die Niederschlagung der lokalen Aufstände herrschte von 1938 bis 1960 in den kurdischen Provinzen der Türkei nahezu ununterbrochen Ausnahmezustand (Brieden 1996, 52).

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Irak vom Osmanischen Reich abgespalten und bis 1932 stand unter britischer Verwaltung. Die Idee eines kurdischen Staates wurde aus strategischen Gründen abgelehnt (vgl. McDowall 1996, 168). Ähnlich wie auch Mustafa Kemal verfolgte der Iran unter Reza Schah zu dieser Zeit die Politik einer ,,Iranisierung der Bevölkerung und zielte auch im Namen einer Zentralisierung des Staates auf die Auflösung der Stammesstrukturen ab. So waren die Kurden im größten Teil ihres Siedlungsgebietes (mit Ausnahme des syrischen) massiver Unterdrückung ausgesetzt und ein kurdischer Staat lag in weiter Ferne. Im Jahre 1946 jedoch wurde unter dem Schutz der Sowjets in Mahabad (kurdische Stadt im Westiran) die gleichnamige kurdische Republik ins Leben gerufen. Die Existenz des ersten und bisher auch einzigen kurdischen Staats war allerdings nicht von langer Dauer, da die sowjetische Besatzungsmacht auf Druck der Amerikaner wieder abzog und die Region vom Iran nach nur elf Monaten zurückerobert werden konnte (vgl. McDowall 1996, 222f).

Es ist zu sehen, dass das gesamte 19. Jahrhundert von kurdischen Aufständen geprägt war. Diese Aufstände erfolgten bereits ein kurdisch-nationalistisches Motiv und wurden oft blutig niedergeschlagen. Die bis heute erhaltene Vierteilung Kurdistans wurde im Vertrag von Lausanne festgelegt, der zwischen den Alliierten und den Türken unter Ausschluss kurdischer Vertreter am 27.07.1923 geschlossen wurde (vgl. Özdemir 2006, 73). Seit dem Inkrafttreten dieses Vertrages sind Kurden auf dem Papier, also in ihren Pässen und allen anderen offiziellen Dokumenten Türken, Syrer, Iraker oder Iraner (vgl. Kizilhan 1995, 20f).

Über die Staatsgrenzen, die sich durch das kurdische Gebiet ziehen, schreibt Deschner (2003, 14): „Die Grenzen, die Kurdistan teilen, sind weder natürliche, wirtschaftliche noch kulturelle Grenzen. Es sind künstliche Grenzen, die gegen den Willen des kurdischen Volkes nach den Interessen der Teilungsmächte und eines von den Westmächten definierten, Gleichgewichts‘ gezogen wurden. Sie haben ganze Landschaften, ja Städte und Dörfer, ganze Stämme und sogar Sippen und Familien voneinander getrennt.“

1.4 Die Kurdische Sprache
Die Sprache ist die wichtigste kurdische Identifikation. Dieser Umstand bleibt unberührt von der Tatsache, dass nicht alle, die Kurden sind, auch die kurdische Sprache beherrschen. Kurdisch wird den westiranischen Sprachen zugerechnet, die zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören (vgl. Ammann 2001, 69). Die Kurden sehen ihre kulturellen Wurzeln in den iranischen und indischen Hochkulturen der vergangenen Jahrtausende. Es gibt heute keine standardisierte einheitliche kurdische Sprache. Die kurdische Sprache unterteilt sich in mehrere Dialekte und Mundarten, die stark voneinander abweichen und daher wechselseitig nur schwer verständlich sind und ist nirgendwo Hauptsprache des jeweiligen Nationalstaates. Zu den Dialekten zählt man für gewöhnlich Kurmandschi, Sorani, Zazaki und Gorani. Diese Differenzierungen und die fehlende politische Einheit unter den Kurden haben dazu beitragen, dass die Kommunikation unter ihnen beeinträchtigt ist (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 31; Kizilhan 1995, 19).

In der Literatur werden Kurmandschi und Sorani als wichtigste kurdische Dialekte benennt. Kurmandschi wird in den meisten kurdischen Gebieten der Türkei, in den nördlichen Gebieten des Irak und Iran, in der Enklave Khorasan (Iran), den kurdischen Gebiete Syriens und von Kurden der ehemaligen Sowjetunion gesprochen. Sorani wird im Großteil der kurdischen Gebiete des Iran und Irak gesprochen. Zazaki oder Zaza, regional auch als Dimili oder Kurmancki bezeichnet, nimmt eine Sonderstellung ein. Zazaki wird in dem Gebiet zwischen Diyarbakir, Sivas und Erzurum in der Türkei gesprochen. Gorani wird um Kermanshah im Iran gesprochen (vgl. Ammann 2001, 69f). Von Kurdischer Seite wird die Zahl der Kurmandschi-Sprecher auf 15 Millionen, jene der Sorani-Sprecher auf 6 und die der Zaza-Spprecher auf 4 Millionen geschätzt (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 32). In den Ländern, in denen die Kurden leben, hat sich kurdische Sprache unter ganz verschiedenen Bedingungen entwickelt. Die besondere Situation war bis vor kurzem in der Türkei. Vor der Niederschlagung der kurdischen Aufstände in den zwanziger und dreißiger Jahren bis zum Beginn der 1990er Jahre war die kurdische Sprache hinweg verboten. Zwar wurden ab und zu kurzfristig die Gesetze wieder gelockert, dann wurde der Gebrauch kurdischer Sprache sogar unter Strafe gestellt, danach wieder legalisiert. Bezüglich der „Legalität‘‘ des Kurdischen herrscht also in der Türkei vielfach eine widersprüchliche, durchwachsene und unübersichtliche Situation. Im Irak unterlag die kurdische Sprache (Sorani) keinen derartigen Beschränkungen, ähnlich ist die Situation im Iran. Den kurdischen Minderheiten in Syrien und dem Kaukasus räumt man häufig eine untergeordnete Rolle in Bezug auf die Erhaltung und Pflege der kurdischen Sprache ein (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 32ff). Obwohl die kurdische Sprache in den Siedlungsgebieten bis hin zu ihrem gesetzlichen Verbot unterdrückt und bekämpft wurde und noch immer wird, ist sie doch nicht ausgestorben. Dafür sorgen nicht nur die Kurden in den Siedlungsgebieten, sondern auch zahlreiche kurdische Intellektuelle im Exil, beispielsweise in Deutschland, Frankreich und Schweden. Als Publizisten und Literaten engagieren sie sich für den Erhalt der kurdischen Sprache und pflegen diese (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 30f).

1.5 Religionen
Es gibt kaum ein historisches Ereignis, das das Leben der Kurden so nachhältig beeinflusst wie die Ausbreitung des Islams im 7. Jahrhundert. Seine strikten Sitten und Gebote fassten unter der Bauern und Nomaden Fuß, seine Weltordnung konnte die alten heidnischen Kosmologien und Gebräuche, den Feuerkult und die blühenden Mythologien fast vollständig ersetzen (vgl. Aziz 1992, 78).

Religion hat trotz oberflächlicher Säkularisierung ihren zentralen Platz in der Identität behalten oder sogar verstärkt, besonders im Fall der Minderheiten. Religionsgemeinschaften wie die der Aleviten (in der Türkei), Yeziden (Türkei, Irak, Syrien), Ahl-i Haqq oder Kaka’i (Iran-Irak), Zwölfer-Schiiten (Iran-Irak) sowie die christliche Minderheiten haben den Charakter von Ethnien angenommen, die sich stark von den sunnitischen Muslimen abgrenzen und in bestimmter Hinsicht weniger kurdisch als Letztere sind, indem für sie die eigene religiöse Identität die wichtigste ist und sie außer dem kurdischen auch noch aus anderen möglichen übergreifenden Identitäten wählen können (vgl. Bruinessen 2003, 9).

In kurdischen Gebieten des Vorderen Orients sind durch Jahrtausend hindurch Religionen entstanden und untergegangen. Die kulturellen Wurzeln der Vorfahren der Kurden liegen überwiegend in den altiranischen und altindischen Zivilisationen begründet. Ihre religiösen Anschauungen umfassten die Verehrung von Naturalelementen wie Wasser und Feuer und die Einteilung der Gesellschaft in eine Priesterkaste und Laien. Daraus entwickelte sich der Zoroastrismus, gestiftet durch den Propheten Zarathustra um 1000 v. Chr., dessen Kern sich um dualistische Pole wie die von Gut und Böse, Anfang und Ende usw. dreht. Ein weiterer religiöser Einfluss ist der Manichäismus des religiösen Stifters Mani (216-277 n. Chr.) (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 42).

Heute sind die meisten Kurden orthodoxe sunnitische Moslems, die der Schafi’i-Tradition, einer der vier islamischen Rechtschulen, folgen (vgl. Aziz 1992, 78). Im Unterschied zu ihren türkischen Nachbarn sind die Mehrzahl der Kurden Anhänger der schafiitischen Rechtsschule. Die kurdische Sunna hat zahlreiche mystische Elemente und ist stark mit verbunden (vgl. Ibrahim 1983, 105). Die andere Konfession des Islams, die Schia, folgt insoweit der Sunna. Als Schiiten (der Name leitet sich her von dem Begriff schiat Ali, Partei Alis) lassen sich ganz allgemein jene Muslime bezeichnen. Im Westen und im Südosten des kurdischen Siedlungsgebietes sind schiitische Kurden sind im anzutreffen. Der Kern der schiitischen Lehre beruht – neben dem Koran und den Lehren Mohammeds - auf den Überlieferungen der historischen zwölf Imame (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 43). Diese schiitischen Kurden sollten nicht mit den alevitischen Kurden im nordwestlichen Kurdistan verwechselt werden. Obwohl die Aleviten ebenfalls Ali und die anderen elf Imame der Schiiten verehren, akzeptieren sie nicht generell die kanonischen Verpflichtungen des orthodoxen Islam, und sie haben ihre eigenen religiöse Rituale, verschiedenen sowohl von denen der Schiiten als auch der Sunniten (vgl. Bruinessen 1997, 191).

Aleviten ist eine Sammelbezeichnung für Anhänger verschiedener, teilweise schiitisch geprägter Glaubensvorstellungen, zu denen auch große kurdische Bevölkerungsgruppen der Türkei gehören (vgl. Engin 1996, 691f). Auch die Anhänger des Bektasi-Ordens und die in der Türkei unter der arabischen Minderheit in der Hatay-Provinz und in der Region Adana vertretenen Nusairier werden zumeist zu den Aleviten gerechnet. Unter den Kurden in der Türkei macht der Anteil der Aleviten etwa 25% aus (ungefähr vier Millionen). Alevitische Kurden leben vor allem in den Provinzen Maras, Malatya, Xarput und Dersim (vgl. NAVEND 2013b). Eine ähnliche Religion ist die der Ahl-e Haqq oder, wie sie im Irak genant werden, Kaka’i. die meisten Ahl-e Haqq behaupten, eine esoterische Sekte innerhalb des schiitischen Islam zu sein, doch einige betrachten ihren Glauben als eine völlig separate Religion (vgl. Bruinessen 1997, 191).

Die Yeziden sind eine uralte kurdische Religionsgemeinschaft, die unter der muslimischen Mehrheit ihren Glaube, ihre Tradition und ihre Gebrauche in der Geschichte bis heute bewahrt hat und noch immer pflegt. Die Yezidi-Religion ist eine synkretische Religion, die in ihrer lehre Elemente aus der zoroastrischen, manichaestischen, jüdischen, christlichen und islamischen Religionen aufweist (vgl. Ibrahim 1983, 105). Die Herkunft der Bezeichnung Yeziden ist umstritten: „Die Mehrzahl der Historiker leitet den Namen Yezidi von dem alten Gott Ezda und seiner kurdischen Bedeutung ‚Der mich erschaffen hat’ ab“ (Ammann 2001, 262).

Im Zentrum des yezidischen Glauben steht Melek Ta’us, der „Engel Pfau“. Nachdem Gott die Welt erschaffen hat, hat er sich nach yezidischem Glaubens aus der Welt zurückgezogen und dem Engel die Herrschaft über die Welt überlassen. 90% der Yeziden leben außerhalb ihrer Heimat in Europa, in Armenien und in Georgien. Derzeit wird ihre Zahl zwischen 100.000 bis 500.000 geschätzt. Im Kurdistan leben Yezidi in den Provinzen Urfa, Mardin und Siirt, Batman und in Irakisch-Kurdistan wohnen Scheichan- Bezirk zwischen den Flüssen Tigris und Zab (vgl. Aziz 1992, 78f). Und leben sie auch in einer kleinen Gegend in Syrien-Kurdistan (vgl. Bruinessen 1997, 191) In der Bundesrepublik Deutschland leben ca. 45.000 bis 60.000 Yeziden. Sie leben vorwiegend in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo sie häufig größere Gemeinden bilden (vgl. Issa 2007, 19).

Die heute schwindenden christlichen und jüdischen Gemeinden in der Region werden im Allgemeinen nicht als kurdisch betrachtet, obwohl die Muttersprache einiger Mitglieder Kurdisch ist (vgl. Bruinessen 1997, 191).

1.6 Soziale Strukturen
Die Situation der kurdischen Gesellschaft beschreibt Aziz (1992, 41): „Kurdistan ist ein zerrissenes Land und ein Land voller Widersprüche. Nicht nur geopolitische Grenzen trennen Kurden von Kurden, sondern auch ethnographiesche, religiöse, ökonomische und allgemein politische.“ Das Spektrum sozialer und politischer Organisationsformen in Kurdistan ist relativ weit. Eine typisch kurdische Sozialorganisation gibt es nicht; von Region zu Region, von Stamm zu Stamm sind die Unterschiede sehr groß (vgl. Aziz 1992, 41). Die Organisationsformen der kurdischen Stämme sind höchst komplex und werden mit verschiedensten Bezeichnungen wiedergegeben. Manche europäische Autoren geben die Organisationsformen „Il“, „Ashirat“, „Taife“ und „Ghabile“ als Synonym für Stamm wieder (vgl. Özdemir 2006, 24).

Die Gesellschaftsstruktur im Nahen und Mittleren Osten ist vielfach geprägt von solidarischen Gemeinschaften mit patriarchalischen Vorstellungen und Lebensweisen. Die kurdische Gesellschaft gehört auch zu diesen Solidargemeinschaften. Insgesamt ist die Gesellschaftsstruktur der Kurden als die einer typischen vorderorientalischen Agrargesellschaft anzusehen. Die Industrialisierung ist in den kurdischen Gebieten wenig fortgeschritten. Bestimmte Organisationsmuster des Vorderen Orients sind bei den Kurden bis heute zentral. Hierzu zählen traditionelle Familien-, Abstammungs-, Sippen- und Stammesbindungen (vgl. Kizilhan 2006, 28f). Es ist aus der Geschichte kurdischer Gebiete auch zu sehen, dass Stämme und Stammesstrukturen eine dominante Rolle in der sozialen Organisation dieser Gebiete hatten (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 205f). Der Zweck dieser Stammeszusammenschlüsse liegt in der sozialen, ökonomischen und politischen Sicherheit ihrer Mitglieder. In der Regel gliedert sich ein Stamm in mehrere Unterstämme, welche sich wiederum in kleinere Clans aufteilen. Die Stammesstrukturen sind ebenso wie die Familien bis heute patrilinear aufgebaut (vgl. Bruinessen 1989, 60). Die Führer der Stämme wurden „Agha“ oder „Khan“ genannt. Die Loyalität der Mitglieder eines Stammes gegenüber ihren Führern war sehr stark, demgegenüber bestand zwischen den Mitgliedern keine hierarchische Abstufung. Die Mitglieder folgten ihren Führern, aber sonst war jeder sein eigener Herr und nahm sein recht in eigene Hand (vgl. Özdemir 2006, 24). Theoretisch wird das Amt des Führers durch Vererbung in der Familie weitergegeben. In der Praxis jedoch sind Bestechung und mit Gewalt verbundene Machtkämpfe zwischen verschiedenen Dynastien und einzelnen Stammesmitgliedern durchaus üblich. In früheren Zeiten waren die Aghas meist Großgrundbesitzer, die die Bauern hemmungslos ausbeuteten (vgl. Bruinessen 1989, 60). Im Prinzip gibt es eine erhebliche Position, manche Stammesführer werden jedoch auch gewählt. Eine traditionelle Einrichtung ist die Versammlung der „Rih Spi“, eine Art Ältestenrat, die der Führerschaft beratend zur Seite stehen (vgl. Ammann 2001, 108).

Zwischen den Bauern und den Aghas besteht ein klassisches feudales Ausbeutungsverhältnis. Das Land, das die Stammesführer als ihr rechtmäßiges Eigentum ansehen, wird von den Bauern bestellt, die für ihr Nutzungsrecht eine Steuer entrichten müssen. Manche Aghas können auch Tribut in Form unbezahlter Arbeit fordern. Der Agha ist in jeder Beziehung die zentrale Person im Leben eines kurdischen Dorfes oder Stammes. Er richtet, schlichtet, verteilt Ämter und Funktionen und entscheidet in allen wichtigen öffentlichen Angelegenheiten (vgl. Aziz 1992, 44f). Diese Herrschaft ist ein oberstes Organisationsprinzip typischer vorderorientalischer Gesellschaften, die eine grundsätzliche Ungleichheit der Menschen annimmt. Einer hat immer die Macht über den anderen, wobei die vorrangige Ungleichheitsbeziehung in diesen Solidargruppen zwischen Mann und Frau besteht, denn Frauen haben nur eingeschränkte Rechte. Aber das Ungleichheitsprinzip betrifft auch alle anderen familiären Beziehungen, z.B. die zwischen Vater und Sohn oder zwischen älterem und jüngerem Bruder, wobei jeweils der Letztere dem ersteren bedingungslos zu gehorchen hat. Wenn konsequent umgesetzt, steht die Familie in diesem System unter der Befehlsgewalt des ältesten männlichen Erwachsenen. Die vorderorientalische Definition von Familie funktioniert weniger über eine emotionale Verbundenheit, „sondern als Produktions- und Konsumgemeinschaft, die allen Mitgliedern dar Überleben‘‘ erleichtert die der Sicherheit der Familienmitglieder dient und die Kindern bestimmte Werte weitervermittelt. Der historisch gewachsene enge und bedingungslose Familienzusammenhalt ist nicht nur in den islamischen Glauben integriert worden, sondern auch in vorderorientalische Rechtsvorstellungen eingegangen. Im Osmanischen Reich wurde bis 1923 noch die Sippenhaft praktiziert, im Irak sogar noch bis unter Saddam Hussein (vgl. Kizilhan 2006, 30f).

In den letzten dreißig Jahren haben sich die traditionellen Lebensformen mehr und mehr aufgelöst, ohne dass sich jedoch etwas an dem klassischen Abhängigkeitsverhältnis den Stammesführern und den Bauern geändert hätte. Verantwortlich für die Veränderungen sind zum einen die Zentralisierungsbestrebungen der jeweiligen Regierungen, zum anderen ökonomische Faktoren, wie die mit dem Vordringen des Kapitalismus einhergehende Mechanisierung der Landwirtschaft und die Auflösung selbstgenügsamer Wirtschaftsformen durch das Eindringen industrieller Waren auch in die letzten Winkel des Landes (vgl. Aziz 1992, 41f). Heutzutage haben nicht alle Kurden eine Stammeszugehörigkeit. Die traditionellen Stammesstrukturen zerfallen jedoch heute zunehmend. Insbesondere in Städten bilden die Nichtstammesangehörigen sogar die Mehrheit der Bevölkerung (vgl. Bruinessen 1989, 659).

Für die kurdischen Gesellschaften sind Haushalt und Familie sehr bedeutsame Begriffe wie für andere nahöstliche Gesellschaften. In der kurdischen Gesellschaft „ist das gemeinsame Wohnen im Haushalt die erwünschte und ideale Form des Zusammenlebens. Nach der Heirat bleiben die Söhne oft zuerst mit ihren Ehefrauen im Haushalt des Vaters. Dies kann solange andauern, bis die Paare mehrere Kinder haben. So entwickeln sich die Haushalte zu Drei Generationen-Familien. Diese Merkmale bilden auch die Kriterien für die soziologische Definition eines Haushalts und seiner Größe. Beispielsweise sind türkisch-kurdische Familien im Durchschnitt größer als türkische Familien. Die durchschnittliche Haushaltsgröße in der Türkei beträgt 4,8 Personen, in kurdischen Gebieten ist die Zahl deutlich höher. Fast der Hälfte Haushalte der kurdischen Gebieten leben sieben oder mehr als 8 Personen (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 200f).

Ein weiterer innerer Konflikt resultiert aus dem Ehrverständnis der Kurden. Für Kurden ist ihre Ehre ein wichtiges und die gesellschaftlichen Verhältnisse prägendes Element. „Ehre ist ein moralisches Kapital, das mit Mut, Großzügigkeit und Beherrschung der weiblichen Sexualität aufgebaut wird und immer gefährdet ist. Ehrenmorde und Blutfehden gehören zum Komplex tribaler Werte, und in ihnen zeigt sich die tribale Struktur am deutlichsten“ (Bruinessen 2003, 10). Ebenso wie auch in vielen anderen Volksgruppen ist die Ehre kein individuelles, sondern ein kollektives Gut. Die Ehre einer kurdischen Familie wird ausschließlich durch männliche Familienoberhäupter repräsentiert und auch verteidigt. Hingegen findet die Verkörperung der Ehre durch die Frau statt. Ausweis der Frauenehre und der Familienehre ist die sexuelle Unversehrtheit der Frau, d.h. die Keuschheit vor der Ehe und die Treue in der Ehe. Die Bewahrung der Ehre der Frau liegt in der Verantwortung der gesamten Familie. Wird sie verletzt, gleicht dies einem Ehrverlust der gesamten Familie (vgl. Bruinessen 1989, 59ff und Kizilhan 2002, 4). Nach wie vor kann eine solche Verletzung durch den Ehrenmord geahndet werden. In Familien, welche diesem archaischen System noch immer anhängen, stehen Mädchen und Frauen bis zur ihrer Heirat unter der Aufsicht der Vaters. Ihre Verheiratung ist eine Familienentscheidung und wird nach deren Interessenausgerichtet (vgl. Dogan u.a. 2008, 14).

Seitdem die Kurden im Irak ihre eigenen Gebiete verwalten, so Bruinessen, hat die Zahl der Ehrenmorde in den Städten zugenommen, insbesondere gegenüber Frauen. Diese Zunahme lasse sich teilweise durch die Wanderung von Stammes-angehörigen in die Städte erklären, welche ihre archaischen Gebräuche mitnahmen. Es sei aber auch Ausdruck des Verlustes von allem, was die Kurden besessen haben, mit Ausnahme ihrer Ehre, welche sie nun in der städtischen Kultur, die sie als unmoralisch empfinden, hoch halten (vgl. Bruinessen 2003, 13). Bruinessen lässt an dieser Stelle bewusst offen, ob es sich um eine tatsächlich zahlenmäßige Zunahme von Ehrenmorden handelt, oder ob diese, dadurch dass sie nun vermehrt in Städten vorkommen, lediglich an Aufmerksamkeit gewinnen. Die Vereinten Nationen registrieren jährlich fünftausend Ehrenmorde innerhalb unterschiedlicher Kulturen in der ganzen Welt. Es muss jedoch von einer Dunkelziffer unbekannter Größe ausgegangen werden, denn viele solcher Ehrenmorde, insbesondere in ländlichen Gebieten, werden nicht zur Anzeige gebracht und erscheinen damit auch in keiner Statistik (vgl. Dogan u.a. 2008, 15).

1.7 Demographische Entwicklungen
Zuverlässige Angaben über die Bevölkerungszahl der Kurden gibt es nicht. Die Staaten, in denen die Kurden leben, haben kein Interesse, deren Zahl zu ermitteln. Eine Ausnahme ist die Völkerzählung in der Türkei im Jahr 1965, bei der die Muttersprache gefragt wurde (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 205). Die Schätzungen über die Bevölkerungszahl der Kurden gehen weit auseinander. Behrendt hält wenig davon, Angaben über die Gesamtzahl aller Kurden zu machen. Die Zahlen beruhen allesamt auf Annahmen, Schätzungen oder Hochrechnungen noch älterer Schätzungen, wobei das Ergebnis je nach politischem Standpunkt mal höher mal niedriger ausfällt (vgl. Behrendt 1993, 51). Bruinessen und Vanly begründen ihre demographischen Berechnungen ausführlich. Die beiden Autoren berufen sich auf offizielle Volkszählungsergebnisse und eigene Recher¬chen. Bruinessen schätzt den Anteil der Kurden in der Türkei für 1975 auf 19%. Vanly schätzt den kurdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahre 1983 auf 24% (vgl. Skubsch 2000, 110).

Tabelle 1: Quelle: Türkische Statistikamt (TÜIK) 2013

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach Angaben im Jahr 2002 schätzt Pawlowsky die Bevölkerungszahl der Kurden in der Türkei 13 bis 14 Millionen. Der größte Teil der kurdischen Siedlungsgebiete liegt mit etwa 194.000 qkm. Etwa 3 Mio. Kurden leben in Istanbul, 2 bis 3 Mio. an der Südküste, 1 Mio. an der Ägäisküste, 1 Mio. in Zentralanatolien und etwa 6 Mio. in kurdischen Gebieten in der Türkei. Im Nordirak leben 3, 7 Mio. Kurden und diese Region umfasst ca. 437.000. Im Iran leben auf eine Fläche von etwa 125.000 qkm schätzungsweise über 7 Mio. Kurden vorwiegend im Grenzgebiet zur Türkei und zum Irak. Im Syrien leben über Mio. Kurden, von denen die überwiegende Anzahl syrische Staatsbürger mit allen bürgerlichen Rechten und Pflichten sind (vgl. Pawlowsky 2005, 188ff) Nach Angaben NAVEND – Zentrum für Kurdische Studien e.V. im Jahr 1997 leben ca. 34-40 Millionen Kurden weltweit. Der große Anteil der Kurden (ca. 18-20 Millionen) lebt In der Türkei (vgl. NAVEND 2002a).

Tabelle 2: Quelle: NAVEND – Zentrum für Kurdische Studien e.V., Bonn 2002a

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach Thiermann gelten die Kurden heute als weltweit größtes Volk ohne Land. Schätzungsweise wird von einer Zahl von 20 bis 30 Millionen Kurden, von denen etwa die Hälfte in der Türkei ansässig ist, weltweit ausgegangen. An der Gesamtpopulation der Türkei von 74.724.269 Einwohnern im Jahr 2011 (Türkische Statistikamt 2012) stellen Kurden ungefähr 18% dar. Die überwiegende Mehrzahl (70%) der Türken und Kurden in der Türkei sind Muslime sunnitischer Ausrichtung, etwa 15 bis 25 % sind alevitischen Glaubens. Der Islam wird trotz der laizistischen Ausrichtung der Türkei seitens der türkischen Regierung oftmals zur Förderung eines Gemeinschaftssinnes angeführt (vgl. Thiermann 2012, 20).

In der letzten Zeit rückten die Kurden in den türkischen Metropolen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei stärker ins Bewusstsein. Während bisher die Gesamtzahl der Kurden in der Türkei von offizieller Seite – wenn überhaupt von Kurden gesprochen wird – eher niedrig angegeben wurde, wird nun betont, welche große Zahl von Kurden in den Westen migriert sei. Nach der ladläufigen türkischen Formulierung lebt mittlerweile mehr als die Hälfte aller Kurden im Westen der Türkei. Im Jahr 1990 lebten 34,8% der 7 Millionen Kurden im Westen und 1995 höchstens 40% (vgl. Wedel 1997, 155).

1.8 Die wirtschaftliche Lage
Jahrhundertlang waren die Kurden vor allem ein Hirten- und Bauernvolk. Ganze Stämme zogen mit ihren Schaf- oder Ziegenherden nomadisierend umher und lebten dabei fast ausschließlich von den Produkten dieser Tiere. Es gibt kaum Statistiken, die ökonomische Strukturen in Gesamtkurdistan erfassen; zuverlässige Daten sind immer auf die einzelnen Staaten beschränkt (vgl. Aziz 1992, 53f).

Der kurdische Landesteil auf türkischem Staatgebiet stellt den größten Anteil an Kurdistan dar und nimmt etwa 30% des türkischen Gebiets ein. Die kurdische Bevölkerung ist vorwiegend bäuerlich, doch in den letzten Jahren findet eine zunehmende Urbanisierung statt. Diese ist das Ergebnis einerseits des Bevölkerungswachstums, andererseits der Mechanisierung der Landwirtschaft. Die wachsenden kurdischen Städte sind alle von Elendsvierteln umgeben (vgl. Senol 1992, 47ff).

Bis heute ist Türkisch-Kurdistan eine ausgeprägt strukturschwache Region. Die geringe Entwicklung Kurdistans ist vor allem das Resultat der türkischen Politik, die das Niveau der Wirtschaft in den kurdischen Gebieten weit unter dem gesamt-türkischen Durchschnitt hält. Es handelt sich dabei ganz eindeutig um eine Politik gegenüber Kurdistan, die sich immer auf Gewalt stützt. Die Investitionen in Kurdistan stehen in keinerlei Verhältnis zu den Reichtümern an Bodenschätzen wie Erdöl, Vieh und landwirtschaftlichen Produkten, die aus Kurdistan abgezogen werden. Wie die folgende Statistik zeigt, entfallen auf die Türkei 87,5 % des Investitionsvolumens, während Kurdistan mit nur 12,5 % weit dahinter zurückbleibt, und das angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaft der Türkei von diesen Reichtümern abhängig ist (Senol 1992, 49f).

In Türkisch- Kurdistan sind 70% des Landes Staatseigentum und 25% Eigentum der Großgrundbesitzer. Ungefähr 40% der Bevölkerung sind Landlose. Die Agrarreform wurde insbesondere in Kurdistan nicht erwünscht, da die staatliche Macht nur durch Koalieren mir den kurdischen Großgrundbesitzern in Kurdistan behalten werden konnte. Mit diesem Vorgehen haben die Kemalisten ihre Macht in Kurdistan befestigt (Garip 2013, 56f).

Seit 1984, in dem der bewaffneten Kampf der Kurden in der Türkei aufgenommen wurde, wird die Bevölkerung in Kurdistan mehr als je zuvor durch Folter, Mord und Verhaftung systematisch unterdrückt und verfolgt, Menschen verschwinden oder fliehen ins Exil. Dadurch wurde materielle Infrastruktur entweder vernichtet oder ihr Aufbau verhindert. In dieser Zeit hat die Arbeitslosigkeit massiv zugenommen – nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten, in die viele Kurden sich nach der Zerstörung ihrer Dörfer zu flüchten genötigt sahen (vgl. Kizilhan 2002, 28ff).

Noch 1960 verfügten die Großgrundbesitzer in Iranisch- Kurdistan, die nur 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachten, über 64 Prozent des bewirtschafteten Landes. Eine bäuerliche Mittelklasse gab es kaum, dagegen waren 72 Prozent schlechtbezahlte Landarbeiter, die keine Vorräte anlegen konnten und die ärmste Bevölkerungsgruppe darstellen. Iranisch-Kurdistan ist auch reich an Bodenschätzen, die zum Teil noch nicht einmal erschlossen sind. Der Gutteil der Bevölkerung arbeitet im landwirtschaftlichen Sektor, dieser ist auch hier die wichtigste Einkommensquelle. Außer der Erdölförderung sind in diesem Teilgebiet keine nennenswerten Industriezweige ansässig. Insgesamt kann der Lebensstandard in Iranisch-Kurdistan als niedrig beschrieben werden (vgl. Aziz 1992, 58).

Die syrischen Kurden sind hauptsächlich Bauern. Die Landwirtschaft in Syrisch-Kurdisan ist intensiv in den Bergen des Kurd-Dagh, extensiv in den beiden anderen Regionen (Ain al-Arab und Djazira). Zur Landwirtschaft kommen andere Wirtschaftszweige hinzu. Diese sind Ziegen- und Schafszucht, Milchproduktion, Weben von Kelim und die Herstellung von Olivenöl und Holzkohle. Das städtische Element, das meist von Kleinhandel und Handwerk lebt, stellt nur 20% der Bevölkerung (vgl. Nazdar 1984, 401).

Die ökonomische Situation in Irakisch-Kurdistan unterscheidet sich wie zu erwarten kaum von der in den anderen besprochenen Ländern. Erwähnenswert sind jedoch die großen Erdölvorkommen im Nordirak, die nach dem Ersten Weltkrieg das Interesse der Westmächte auf sich zogen und bei Vertragabschlüssen zu einer Sonderbehandlung der Provinzen Mossul und Kirkuk geführt haben. Die Regierung in Bagdad hat immer wieder versucht, die Bevölkerungszahl der Kurden in diesen Gebieten möglichst gering erscheinen zu lassen, sei es durch Fälschung der Statistiken oder strenge Maßnahmen wie Zwangsumsiedlungen. Zweck der Übung war es, die Kurden durch Gewährung einer begrenzten Autonomie zu befrieden, ohne die Kontrolle über die großen Ölreserven zu verlieren. Auch im Irak also ist die wirtschaftliche Situation der Kurden ist katastrophal (vgl. Aziz 1992, 64f). Ein weiteres Problem im Irak stellt die Situation der Dorfbevölkerung dar. Die wirtschaftliche Lage der Kurden in Irak ist elend. Nach der Veränderung, so werde der Sturz des Saddam-Regimes im Irak bezeichnet, ist die Arbeitslosigkeit auch bedingt durch die Auflösung der Armee auf 80% gestiegen. In dieser Notlage sei der eine oder andere bereit, sich für ein- oder zweihundert Dollar von Terroristen für Anschläge anwerben zu lassen (vgl. Dogan u.a. 2008, 12).

2. Die Situation der Kurden in den Herkunftsländern
Zur Zeit des Osmanischen Reichs und Persiens bildete die Kurdenregion über einen Zeitraum von dreihundert Jahren eine Art Puffer zwischen Osmanen und Persern. Die Grenzen waren durchlässig und konnten von kurdischen Nomaden unbehelligt passiert werden. Auf beiden Seiten bestanden von den jeweiligen Herrschern anerkannte kurdische Autonomieregionen. Zu einer wirklichen Grenzziehung kam es erst mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs und den darauf folgenden Nationsbildungen der Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran. Das Siedlungsgebiet und damit das Volk der Kurden wurden auf diese vier Staaten aufgeteilt, in denen die Kurden bis heute als Minderheiten leben (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 75f).

Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen zentralistische Staatssysteme die Plätze der demgegenüber nur lose integrierten Reiche der Perser und Osmanen ein. Wie andere traditionelle, vorindustrielle und vorkapitalistische Staaten waren Osmanische Reich und das Persische Reich nicht in der Lage, über alle Provinzen und ethnische Gruppen eine faktische politische Kontrolle auszuüben. Die Einverleibung der Bevölkerung war nur kollektiv möglich, indem man sich der Loyalität einer religiösen oder ethnischen Gemeinschaft bzw. ihrer Oberhäupter versicherte. Unter diesen Bedingungen fanden Integration oder Assimilation nur in geringem Ausmaß statt. Die modernen Nachkriegsstaaten Türkei, Iran, Irak und Syrien wurden dagegen in allen Aspekten des ökonomischen, politischen, kulturellen und sprachlichen Lebens streng zentral strukturiert. Die Integration ethnischer Minderheiten durch sprachliche und kulturelle Assimilation war ein vorrangiges Ziel dieser Staaten. Sie richteten sich nach dem Modell der Nationenstaaten in Europa mit einer Sprache, einer Kultur und einem Zentrum der politischen Macht (vgl. Skubsch 2000, 67). „Die Bürger sind individuell, nicht kollektiv an den Staat gebunden. Individuen unterschiedlicher ethnischer oder linguistischer Zuschreibung haben gleiche Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat. Die Erfüllung der Gleichheitsrechte hat jedoch die Assimilation zur Folge, da nur die Sprache und Kultur der dominanten Gruppe offiziell anerkannt werden“ (ebd., 2000, 67).

Es ist sehr schwer, den Status der Kurden in der Türkei beschreiben zu können. Wurden sie mit dem Begriff „Minderheit“ hinreichend beschrieben? Für Bozarslan ist der Begriff Minderheit sehr problematisch. Nach ihm ist die kurdische Bevölkerung Minderheit und Mehrheit zugleich. Beide Begriffe werden aufeinander bezogen. Kurden als Individuen hätten zwar den Status als volle Staatsbürger, aber als Mitglied der Gruppe der Kurden könnten sie nicht den gleichen Status in Anspruch nehmen wie die dominante ethnische bzw. nationale Gruppe. Nach Bozarslan können die kurdischen Gebiete in der Türkei sowie im Iran und im Irak als „internal colonies“ beschrieben werden, aus denen die Rohstoffe herausgezogen würden, aber in die wenige ökonomische Mittel zurückfließen würden (Skubsch 2000, 70).

Der türkische Soziologe Besikci behauptet, dass Kurdistan eine Kolonie sei. „Die kurdische Frage ist keine Minderheitenfrage. ... Die Kurden leben in Kurdistan in ihrer eigenen Heimat, in ihrem eigenen Land. Sie sind die Ureinwohner des Landes und sind nicht aus einem anderen Gebiet herzogen“ (Besikci 1991, 21). Mit ihrer Bevölkerungszahl 20 bis 30 Millionen hätte das kurdische Volk mehr Bevölkerung als viele Staaten im Nahen Osten. „Das Grundproblem der kurdischen Frage ist, dass die kurdische Nation und Kurdistan durch die imperialistischen Mächte und durch ihre Kollaborateure im Nahen Osten zersplittert und aufgeteilt wurden und der kurdischen Nation ihr Recht genommen wurde, einen unabhängigen Staat zu gründen“ (ebd., 23).

Also habe Kurdistan den Status einer Kolonie, es sei von der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien besetzt. Während man aber bei den klassischen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent die Identität der kolonialisierten Völker anerkannt, sei es das Ziel der Kurdistan kolonialisierenden Regimes, die Identität der Kurden zu vernichten (vgl. ebd., 23). „Kurdistan ist noch nicht einmal eine Kolonie, das kurdische Volk ist noch nicht einmal kolonialisiert. Der politische Status Kurdistans und des kurdischen Volkes befindet sich sehr weit unter dem einer Kolonie. Kurdistan hat weder einen politischen Status, noch eine politische Identität. Die Kurden sind ein Volk, welches man versklaven und seiner Identität berauben will, klarer ausgedrückt, es soll mit seiner Kultur und Sprache von der Erdoberfläche getilgt werden. Das Ziel ist es, die kurdische Identität vollkommen zu vernichten“ (ebd., 16f).

Nach Besikci ist die wesentliche Ursache, dass andere Staaten ihre Herrschaft über Kurdistan ausüben konnten, in der nach wie vor feudalistischen und tribalistischen Struktur der kurdischen Gesellschaft. Zur Sicherung ihrer eigenen Macht seien die Aghas oft genug bereit gewesen, Bündnisse mit den Kolonialkräften einzugehen. Ebenso ließen sich verschiedene kurdische Stämme von den türkischen Behörden funktionalisieren (vgl. Besikci 1991, 190). Ein wichtiger Beweis für die „Schwäche der kurdischen Gesellschaft“ sind die Dorfschützer, die Kurden genannt werden und mehr oder weniger freiwillig vom türkischen Staat im Kampf gegen die PKK-Guerilla eingesetzt werden (vgl. Thiermann 2012, 23). Dieses Phänomen wurde von Besikci „Teile-und-Hersche-Politik“ genannt. Es sei den Kurdistan beherrschenden Staaten immer wieder gelungen, die kurdische Gesellschaft zu abteilen. Um die kurdischen Frage zu lösen, müssten die Kurden nicht nur um Selbstbestimmung, sondern auch gegen die bestehende autoritär-hierarchische Ordnung innerhalb der eigenen Gesellschaft kämpfen (Besikci 1991, 190).

2.1 Türkei
Der Vertrag von Sèvres (1920) wurde durch den Frieden Vertrag von Lausanne (1923) revidiert und die Kurden, die in der Türkei ansässig sind, verloren ihr Anrecht auf Minderheitenschutz. Von 1925 bis 1938 kam es in der Türkischen Republik zu mehreren kurdischen Aufständen. Die Niederschlagung der kurdischen Aufstände wird in keinem türkischen Schulbuch erwähnt wie genau die Armenierverfolgung. Die Aufstände gelten in der öffentlichen Rezeption als Angriffe feudalistischer, tribaler oder religiöser Strukturen auf die kemalistischen Reformen. „In der kemalistischen Historiographie werden die kurdischen Aufstände gewöhnlich als letzter Widerstand einer rückständigen, reaktionären Bevölkerung gegen die dringend notwendige Modernisierung dargestellt, und ihre Unterdrückung wird als Bestandteil der zivilisationsbringenden Mission des Regimes betrachtet“ (Bruinessen 1984, zit. in Skubsch 2000, 68).

In den folgenden Jahrzehnten beschleunigten Maßnahmen zur Homogenisierung des türkischen Staates (Kemalismus). In einer Rede deklarierte der türkische Premierminister Ismet Inönü im Jahr 1930: „Alleine die türkische Nation hat das Recht, ethnische und rassische Forderungen in diesem Land zu stellen“ (Timar 1998, 33). Der damalige Premierminister Bülent Ecevit äußerte seine Politik über Kurdische Frage: „Reden über Kurden und ihre nationalen Rechte sowie die Behauptung, dass ihnen auch nationale Rechte zustehen, kann nicht im Rahmen der Meinungsfreiheit zugelassen werden“ (Timar 1998, 33). In der Türkei sind die Kurden nicht als eigenes Volk oder Minderheit anerkannt, sie gelten laut der türkischen Verfassung als Türken. Auf der Basis dieser und anderer gesetzlicher Regelungen wurde von fast allen Regierungen der Republik Türkei die Assimilation der Kurden unter dem Euphemismus Zivilisierung vorangetrieben (vgl. Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 92f).

Seit Ende der 60er Jahre im studentischen Milieu verbreiteten linkspolitischen Strömungen führten 1978 zur Gründung der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (Partiya Karkerên Kurdistan / PKK) durch Abdullah Öcalan, der damals Student der Politikwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Ankara war. Zunächst war das Ziel der ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierten Gruppe die Gründung eines unabhängigen kurdischen sozialistischen Nationalstaates in Osten und Südosten der Türkei und seit 1993 die kulturelle und politische Autonomie innerhalb der Türkei (vgl. Demirkol 1997, 35f).[1]

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