Im Jahr 1988 verschleppte die irakische Armee in der Anfal-Operation mehr als 100.000 Kurdinnen und Kurden. Zum 20. Jahrestag veranstalteten der medico-Partner Haukari und das Zentrum Moderner Orient in Berlin die Tagung „Gewalt, Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit im Irak“. Shazada Hussein Mohammed, die ihre Angehörigen während der Deportationen verlor, und Gulnaz Aziz Qadir, die während Anfal 17 Jahre alt war und heute Abgeordnete im kurdischen Regionalparlament ist, nahmen daran teil. Mit ihnen sprach Martin Glasenapp.
Sie wurden selbst ein Opfer der Anfal-Operationen. Wie erging es ihnen?
Shazada Hussein: Wir waren Bauern in der Region Germian und hatten bis 1988 ein schönes Leben, wir hatten viel Vieh, über 800 Tiere. Der Tag, an dem die Soldaten kamen, veränderte alles. Unser Haus wurde bombardiert, sie trieben uns zusammen und brachten uns mit Lastwagen in ein Militärcamp in Tikrit im Zentralirak. Unsere Männer mussten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, dann wurden sie weggebracht. Wir Frauen wurden auf verschiedene Lager verteilt. Mich deportierten sie nach Nura Salam im Süden. Zwei Tage sperrten sie uns in den Lastwagen ein, ohne Wasser, Nahrung und Toilette. In Nura Salam sah ich das letzte Mal einige unserer Männer, aber wir durften keinen Kontakt aufnehmen. Das Lager lag inmitten einer Sandwüste. Am Tag gab es nur zwei, drei Stücke hartes Brot, dazu bitteres Wasser, das viele von uns umbrachte. Einmal starben bis zum Abend über 200 Menschen. Sie warfen die Toten über den Stacheldraht, bedeckten sie nur mit wenigen Schippen Sand. Nachts kamen die ums Lager streunenden Hunde, ich sah, wie sie die Körper ausgruben und fraßen. Bis heute verfolgt mich die Erinnerung an eine Kinderhand, die die Hunde im Sand zurückgelassen hatten. Erst nach drei Tagen brachten sie die Überreste der Toten weg. Das Lagerleben war sehr grausam. Manchmal mussten wir bei den täglichen Appellen vier Stunden in der brütenden Hitze stehen. Kinder und ältere Menschen fielen in Ohnmacht und wurden häufig ohne Hilfe liegengelassen, bis sie starben. Die Wächter schlugen uns mit Schläuchen. Niemals vergesse ich die Geschichte von Massun, die drei kleine Kinder hatte. Als ihr jüngstes Kind immer schwächer wurde, weinte sie ununterbrochen. Da band man sie mit ihrem Haar an ein Fensterkreuz und zwang sie, hilflos mit anzusehen wie ihre kleine Tochter vor ihr im Sand langsam verstarb.
Wie konnten Sie nach Kurdistan zurückkehren?
Nach sieben Monaten, in denen wir in überfüllten und verdreckten Baracken zusammengepfercht verharrten, sagten uns die Soldaten, dass wir freikommen würden. Wir glaubten ihnen nicht. Wir waren so dreckig, hungrig und hoffnungslos. Viele von uns hatten bereits Würmer oder Maden in ihren offenen Wunden. Aber dann gaben sie uns Wasser und Nahrung. Wir konnten uns erstmals wieder waschen. In Gruppen von 250 verfrachteten sie uns in Transporter und brachten uns in zwei Tagen und Nächten zurück nach Suleymania, danach in die Lagerstadt Smout. Die Soldaten verteilten uns an die Dorfbewohner, die für uns bürgen mussten. Monatlich mussten wir uns melden und einen Fingerabdruck abgeben. Jedes Mal fragten wir nach unseren Söhnen und Männern und bekamen nie eine Antwort.
Was bedeutete es, eine „Anfal-Witwe“ zu sein?
Mein Mann kehrte nicht zurück. Ich war allein mit meinem Kind, das damals ein Jahr alt war, hatte nichts mehr, kein Haus, kein Geld, nicht mal einen Löffel. Lange Jahre verdingte ich mich als Tagelöhnerin. Tagsüber waren wir Männer und abends Frauen, waren Väter und Mütter zugleich. Viele von uns mussten sechs bis sieben Kinder ernähren. Ich selbst hatte zwei Kinder. Das eine starb kurz nach der Geburt. Aber meine zweite Tochter studiert heute Geographie und Geschichte. Ich bin sehr stolz auf sie. Auch andere Anfal-Witwen haben sehr darauf geachtet, dass ihre Kinder die Schule besuchen. Bis 2003 hoffte ich, dass mein Mann doch zurückkehren würde. Aber als das Regime gestürzt wurde, sahen wir die kurdischen Kleidungsreste, die die Bagger aus den Massengräbern holten. Viele von uns sind seelisch sehr belastet, weil sie nicht wissen, wie und wo ihre Angehörigen umgebracht wurden. Als Anfal-Witwen sind wir nur locker organisiert, aber wir treffen uns regelmäßig und sprechen uns Mut zu. Wir fordern, dass Anfal als Genozid anerkannt wird und alle Massengräber geöffnet werden. Wir möchten auch, dass in unseren Dörfern und Regionen Orte des Gedenkens entstehen.
Was empfanden Sie, als Sie im Verfahren gegen Saddam Hussein aussagten?
Große Genugtuung. Saddam ließ meinen Mann ohne Gerichtsverfahren umbringen, so wie er mich deportieren ließ. Für mich war es sehr wichtig, ihm gegenüberzusitzen und ihm zu sagen: Du, warum verlangst du ein Gerichtsverfahren, nachdem du uns das alles angetan hast? Saddam verlor seine Paläste und musste miterleben, wie seine Söhne starben. Als ihm selbst die Schlinge um den Hals gelegt wurde, fragte ich mich, ob er in diesem Moment daran dachte, wie er alle unsere Männer und Söhne umbringen ließ. Wir begrüßten die Hinrichtung, aber wünschten uns, er wäre auch wegen Anfal angeklagt worden.
Sollte damit die europäische Beteiligung an Anfal verschwiegen werden? Saddam Hussein trat vor Gericht ja sehr selbstbewusst auf…
Gulnaz Aziz Qadir: Sicher war das der Grund. Er sollte keine Namen, keine Verantwortlichen mehr nennen. Anfal hat eine internationale Dimension: Die Technik für das Giftgas kam aus Deutschland.
Das US-Außenministerium riet 1988 dem Kurdenführer Talabani, er möge sein „Auskommen“ mit Saddam Hussein suchen, ehemals ein „Partner“.
Gulnaz Aziz Qadir: Auf Tonbandaufnahmen der Verhandlungen zwischen der irakischen Regierung und den Kurden gibt es einen berühmten Wortwechsel. Chemical Ali, der Verantwortliche für Anfal, sagt zu Talabani, als dieser die Zahl von 182.000 Toten anspricht: ‚Na ja, übertreib mal nicht, es waren nur 100.000.’ Wir wissen auch, dass die Amerikaner Bilder von allen Anfal-Dörfern vor und nach der Zerstörung haben.
Gulnaz Aziz Qadir: Als ich 2005 ins Parlament kam, war dort niemand aus den Anfal-Regionen. Heute haben wir einen Gedenktag und ein spezielles Ministerium. Am Gedenktag 2008 forderten wir im irakischen Parlament die Anerkennung von Anfal als Genozid und finanzielle Entschädigungen. Beides wurde akzeptiert, aber die Umsetzung wird noch dauern. Noch bekommen die Überlebenden nur eine kleine Rente. Die größte Last neben der Armut ist das ungeklärte Schicksal unserer Angehörigen. Viele Massengräber sind noch ungeöffnet. Die Regierung bevorzugt ein zentrales Mahnmal, die Opfer selbst möchten symbolische Gräber oder Gedenkstellen an den Orten des Geschehens.
Shazada Hussein: Wir wollen dort trauern, wo wir leben. Die Diskussion um die Frage, wie wir uns erinnern, beginnt bei uns gerade. Ihr in Deutschland habt Erfahrungen mit dem Gedenken. Vielleicht können wir voneinander etwas lernen.
Projektstichwort
Erinnerung, Gegenwart, Zukunft in Kurdistan: Unsere Partnerorganisation Haukari setzt sich für die Rechte und Interessen der Anfal-Witwen gegenüber der kurdischen Regionalregierung, der irakischen und auch der deutschen Regierung ein. Das Spendenstichwort lautet: Kurdistan.[1]