Kamal Sido
Göttingen, Bozen, 2. November 2017
Viele Grenzen im Nahen Osten zogen Franzosen und Briten mit dem Lineal. Das gilt auch für die heutige syrisch-türkische Grenze. Städte und Dörfer wurden zwischen dem von Franzosen beherrschten Mandatsterritorium Syrien (1918-1943) und der neu gegründeten Republik Türkei (1923) aufgeteilt. Ein Teil der 1.600 Kilometer langen Bagdadbahn bildete nun die Grenze. Ländereien, Olivenhaine und Weideflächen Hunderttausender kurdischer Familien, aber auch Assyrer/ Aramäer, Armenier, Turkmenen oder Araber, kamen über Nacht unter den politischen Einfluss zweier Staaten. So entstanden Begriffe wie Oberhalbder-Linie und Unterhalb-der-Linie.
Bis heute antworten viele Kurden aus Syrien, wenn sie von türkischen Kurden nach ihrer Herkunft gefragt werden: Ich komme aus Binxetê, auf Deutsch von Unterhalb-derLinie. Der Kurde aus der Türke antwortet: Ich komme aus Serxetê, auf Deutsch von Oberhalb-der-Linie. Menschen auf beiden Seiten der syrisch-türkischen Grenze haben sie deshalb jahrzehntelang nicht anerkannt, hatte man doch auf beiden Seiten Verwandte. Man heiratete und besuchte Hochzeiten, mal in Serxetê, mal in Binxetê. Die Situation änderte sich, als kurdische Rebellen Anfang der 1980er türkische Militärposten von Syrien aus überfielen und angriffen. Die PKK propagierte damals die Idee eines vereinigten und unabhängigen Kurdistans.
Als Reaktion auf die wiederholten Angriffe auf das türkische Militär, begann die Türkei, die Grenze zu Syrien, aber auch zum Irak und Iran unpassierbar zu machen. Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges besetzt die Türkei zunehmend syrisches Staatsterritorium, an manchen Stellen bis zu 150 Meter ins Land hinein, um Grenzanlagen mit Wachtürmen, Betonblöcken und Stacheldraht zu bauen. Entlang der 822 Kilometer langen syrisch-türkischen Grenze soll eine unüberwindbare, drei Meter hohe Mauer mit modernen Warnsystemen entstehen. So sollen Syrisch-Kurdistan und TürkischKurdistan, wie die Kurden sagen, endgültig voneinander getrennt werden.
Wie alles begann
Wer ist dieser Sykes-Picot? Ich will ihn zur Sau machen!, fragte mich 2015 ein Kurde in einem Süßigkeitenladen in der türkisch-kurdischen Metropole Diyarbakir. Dort nahm ich teil an der internationalen Konferenz Sykes-Picot-Abkommen - 100 Jahre danach. Der Kurde wollte mit diesem Ausspruch seine Wut zum Ausdruck bringen. Denn bereits 2015, im Vorfeld des 100. Jahrestages (2016) dieses Abkommens, sprachen kurdische Medien nahezu jeden Tag über dieses für Kurden, aber auch für andere Völker des Nahen Ostens historische Ereignis. Dem Kurden antwortete ich: Onkel, bei Sykes-Picot handelt es sich um zwei Personen, um den Briten Mark Sykes und den Französen François Georges-Picot. Die beiden Diplomaten haben die Heimat der Kurden, Assyrer/Aramäer/Chaldäer und unter Frankreich sowie Großbritannien aufgeteilt und die Grenzen ohne Rücksicht auf die Menschen und die Völker gezogen. Ich fügte hinzu, dass die Herren Sykes und Picot längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen seien.
Türkische Delegation bei den Verhandlungen über den Vertrag von Lausanne im Jahr 1923, in dem unter anderem die Grenzen der heutigen Türkei festgelegt wurden. Foto: Library of Congress/Public Domain. Türkische Delegation bei den Verhandlungen über den Vertrag von Lausanne im Jahr 1923, in dem unter anderem die Grenzen der heutigen Türkei festgelegt wurden. Foto: Library of Congress/Public Domain.
Die geheimen Gespräche
Tatsächlich legten Sykes und Picot 1915, als der Erste Weltkrieg im Nahen Osten noch im vollen Gang war, ihren Regierungen in London und Paris den Entwurf einer Aufteilung des Erbes vom kranken Mann am Bosporus* vor. Jahrelang trafen sich die beiden erfahrenen Diplomaten und führten geheime Gespräche hinter dem Rücken der nahöstlichen Völker. Kurdische, arabische, assyro-aramäische und andere Siedlungsgebiete, die sich bis dato unter türkisch-osmanischer Herrschaft befanden, wurden unter den Kolonialmächten und Siegern des Ersten Weltkrieges aufgeteilt. Der 16. Mai 1916 gilt als offizielles Datum, an dem das SykesPicot-Abkommen geschlossen wurde. Auch das zaristische Russland war an dieser Aufteilung beteiligt.
Über den Dächern Sanliurfas: 1983 erhielt die Stadt und Region Urfa den Titel 'sanli' (ruhmreich). Der Namenszusatz soll an den großen Sieg gegen die französische Besatzung im Jahr 1919 erinnern. Foto: J.C./Flickr BY-NC-SA 2.0. Über den Dächern Sanliurfas: 1983 erhielt die Stadt und Region Urfa den Titel sanli (ruhmreich). Der Namenszusatz soll an den großen Sieg gegen die französische Besatzung im Jahr 1919 erinnern. Foto: J.C./Flickr BY-NC-SA 2.0.
Atatürk, Peperoni und die Kurden
Kurdistan, das Siedlungsgebiet der Kurden im Osmanischen Reich, war von diesem Geheimvertrag ebenfalls betroffen. Noch vor Ende des Ersten Weltkrieges deportierten die Türken-Osmanen mehr als 700.000 Kurden nach Westanatolien, vor allem diejenigen, die dem Osmanischen Reich gegenüber nicht loyal waren und sich nicht an dem Völkermord an Armeniern, Assyrern/Chaldäern/Aramäern, Aleviten und Yeziden beteiligt hatten. Am 30. Oktober 1918 kapitulierte die türkisch-osmanische Armee und das Osmanische Reich wurde auf das Gebiet der heutigen Türkei reduziert. Am 10. August 1920 wurde die Kurdenfrage im Vertrag von Sèvres, in den Artikeln 62-64 behandelt und erstmals wurde von einem autonomen Kurdenstaat gesprochen. Dieser Vertrag wurde jedoch am 24. Juli 1923 durch den Vertrag von Lausanne faktisch annulliert. Von einem kurdischen Nationalstaat war nicht mehr die Rede.
Das Schicksal der Kurden nahm eine neue Wende und es kam zu einer neuen Aufteilung Kurdistans in vier verschiedene Staatsgebiete: Türkei, Irak, Iran und Syrien. Kemal Atatürk, Gründer der türkischen Republik, verwendete die gleiche Waffe gegen die Kurden, die bereits osmanische Sultane benutzt hatten: den Islam. Viele sunnitische Kurden beteiligten sich an der Seite der Türkei, um Pogrome zu verüben gegen die christliche Bevölkerung sowie die kurdischen Aleviten und Yeziden. Mit der Instrumentalisierung des Islam als Religion gelang es Atatürk, die mehrheitlich sunnitischen Kurden gegen die Ungläubigen, also Frankreich, Großbritannien, Italien und Griechenland, die die Gebiete in West- und Ostanatolien besetzten, aufzustacheln. Gleichzeitig versprach Atatürk den Kurden Autonomie für Türkisch-Kurdistan.
Später wollten Atatürk und seine Nachfolger von diesen Versprechungen nichts mehr wissen. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum Kurden nicht überall mit der gleichen Begeisterung an der Seite Atatürks gegen die Ungläubigen kämpfen wollten. Eine Legende besagt, dass Kurden in Urfa keine große Lust hatten, an der Seite Atatürks zu kämpfen, um Franzosen aus der Stadt zu vertreiben. Im Herbst 1919 besetzten französische Truppen Urfa. Anhänger Atatürks setzten das Gerücht in die Welt, die Französen wollten alle Peperoni-Felder in Urfa zerstören. Erst dann hätten sich Tausende Kurden der Armee Atatürks angeschlossen und vertrieben sehr rasch die Franzosen aus Urfa. Bis hierher und nicht weiter, diese ehrenlose Franzosen dürfen unsere Peperoni-Felder nicht besudeln, sollen damals viele Kurden gerufen haben. Tatsache ist, dass der Sieg über Frankreich bei Urfa gewaltig war. 1983 wurde der Region und der Stadt Urfa der Titel sanli (ruhmreich) verliehen. Der Namenszusatz soll nach offizieller Lesart an den großen Sieg gegen die französische Besatzung erinnern.
Der Brite Henry McMahon und der Araber Hussein ibn Ali
Noch vor dem Ersten Weltkrieg versuchte Großbritannien, die Araber gegen die Osmanen aufzuwiegeln. Mit einem Massenaufstand gegen die türkische Herrschaft hätten die Araber den Briten in die Hände gespielt. Der britische Diplomat Henry McMahon und Hochkommissar in Ägypten, wo die Briten bereits 1882 die Machthoheit Kontrolle hatten, verfügte bereits zu Beginn des Krieges über gute Kontakte zu Hussein ibn Ali, Führer der Araber von Hedschas, einer Region im heutigen westlichen Saudi-Arabien. Die Briten versprachen den Arabern, insbesondere der haschemitischen Dynastie in Mekka und Medina, sie bei der Errichtung eines arabischen Königreichs unter der Herrschaft der Haschemiten zu unterstützen. Hierbei dürfte der britische Offizier, Archäologe, Geheimagent und Autor Thomas Edward Lawrence (1888-1935) eine wichtige Rolle gespielt haben. Er wurde bekannt unter dem Namen Lawrence von Arabien. Während des Ersten Weltkriegs kämpfte er an der Seite der Araber gegen die Türken. Von einer Aufteilung der arabischen Regionen unter Frankreich und Großbritannien hinter ihrem Rücken erfuhren die Araber erst im Oktober 1917.
Das kommunistische Blatt Prawda und das Sykes-Picot-Abkommen
Das zaristische Russland hat sich im Ersten Weltkrieg mit Großbritannien und Frankreichs gegen Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich verbündet. Um den Zaren zufrieden zu stellen, erhielt Russland durch das Sykes-PicotAbkommen Teile von Armenien und Kurdistan in Ostanatolien sowie andere osmanische Gebiete. Allerdings schied Russland bereits im Oktober 1917 nach der kommunistischen Revolution aus dem Ersten Weltkrieg aus. Deshalb verlor Russland seine Ansprüche vollständig. Das durch den Bürgerkrieg (1917-1922) geschwächte Russland musste sogar noch einige Gebiete in Transkaukasien und in Ostanatolien an die Republik Türkei abtreten. Um Araber, Türken, Armenier, Kurden, Assyrer/Aramäer/Chaldäer und andere Völker auf der Seite des jungen kommunistischen Staates zu haben, wurde auf Lenins Befehl der Inhalt des Sykes-Picot-Abkommens am 23. November 1917 in dem kommunistischen Blatt Prawdaveröffentlicht. Das verärgerte Großbritannien und Frankreich immens. Und auch die Araber zeigten sich über die Veröffentlichung nicht gerade erfreut. Sie fühlten sich von den Kolonialmächten verraten.
Die neuen Grenzziehungen im Nahen Osten dauerten bis in die 1930er Jahre. Damals wurden die Grenzen der Region weitgehend festgelegt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Siedlungsgebiete der Araber, Kurden, Assyrer/Chaldäer/Aramäer, Armenier und anderer Volksgruppen mit dem Lineal und hinter dem Rücken der Menschen aufgeteilt und festgelegt. Diese willkürliche Aufteilung von Völkern und Religionsgemeinschaften legte den Grundstein für zukünftige ethnische und religiöse Konflikte, wie der israelisch-arabischen Dauerkonflikt oder die Kurdenfrage. Diese flammen immer wieder auf und fordern viele Opfer. Eine Demokratisierung der nahöstlichen Staaten, Menschen- und Minderheitenrechte, vollständige Glaubensfreiheit sowie föderale Strukturen könnten viele Konflikte lösen oder mindestens entschärfen. Das vor mehr als 100 Jahren begangene Unrecht an den nahöstlichen Völkern könnte so wieder gutgemacht werden.
16. Mai 1916: Sykes-Picot-Abkommen
Aufteilung des Osmanischen Reiches zwischen Großbritannien und Frankreich: Frankreich wird der Südosten der Türkei, der Libanon, Syrien sowie der nördliche Irak zugesprochen. Großbritannien erhält die Kontrolle über Jordanien, das heutige Israel und Palästina und den südlichen Irak.
30. Oktober 1918: Waffenstillstand von Mudros
Waffenstillstand zwischen dem Osmanischen Reich und den Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan). Osmanen geben ihre verbleibenden Stellungen außerhalb Anatoliens auf.
26. April 1920: Vertrag von Sanremo
Beschluss von verschiedenen Mandaten (Syrien und Libanon, Kurdistan, Mesopotamien und Palästina), die genaue Grenzziehung bleibt zunächst offen.
10. August 1920: Vertrag von Sèvres
Grenzziehung des Osmanischen Reiches: Osmanisches Reich in Zentralanatolien, Autonomie für Kurdistan und Armenien, griechische Gebiete in Ostthrakien und Teile der Ägäis-Küste um Izmir, Gebiete um Istanbul, Canakkale und Bursa gehören einer Internationalen Zone an, italienische Zone um Antalya.
11. Oktober 1922: Waffenstillstand von Mudanya
Die Kampfhandlungen zwischen türkischen Truppen und Frankreich, Italien und Großbritannien werden beeendet.
24. Juli 1923: Vertrag von Lausanne
Neuer Friedensvertrag, in dem der Vertrag von Sèvres teilweise revidiert wird. Die Türkei erhält Ost- und Südostanatolien, Ostthrakien, Izmir. Griechenland behält Westthrakien, französische und italienische Zonen wurden revidiert, Umsiedlung (= Bevölkerungsaustausch).
5. Juni 1926: Vilâyet Mossul
Das Gebiet um Mossul wurde im Sykes-PicotAbkommen von 1916 Frankreich zugesprochen. 1926 entschied der Völkerbund, Mossul an den Irak anzuschließen, mit dem Ziel, den Kurden Autonomie und kulturelle Rechte zuzusprechen.
23. Juli 1939: Frankreich schenkt der Türkei das heutige Gebiet Hatay
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde das syrische Alexandrette (Iskenderun/Hatay) am 23. Juli 1939 von Frankreich der Türkei überlassen, um diese zur Neutralität während des Krieges zu bewegen.[1]