Seit Jahren fordert Nord- und Ostsyrien die internationale Gemeinschaft zur Einrichtung eines Sondergerichts für #IS# -Gefangene auf – bisher vergeblich. Als Ausweg hat die AANES nun beschlossen, ausländische Mitglieder der Miliz selbst anzuklagen.
In den Gefängnissen der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) sitzen mehr als zehntausend ehemalige „Kämpfer“ der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) aus über sechzig Ländern ein – und etwa 60.000 IS-Familienangehörige in Lagern wie dem Camp Al-Hol. Das ist eine Mine, die jederzeit explodieren kann. Dennoch appelliert die Selbstverwaltung seit Jahren vergeblich an die Staatengemeinschaft, ihre Verantwortung zu schultern und ihre Staatsangehörigen zurückzuholen. Auch die Forderung nach einem internationalen Tribunal zur strafrechtlichen Verfolgung der IS-Terroristen in der Region bleibt bis heute unerhört. Als Ausweg hat die AANES nun beschlossen, ausländische Mitglieder der Dschihadistenmiliz selbst anzuklagen.
„Wir unternehmen diesen Schritt, weil die internationale Gemeinschaft ihren Pflichten bei der Strafverfolgung von Terroristen und der Schaffung von Gerechtigkeit nicht nachgekommen ist”, erklärt Bedran Çiya Kurd, der Ko-Vorsitzende der AANES-Abteilung für Außenbeziehungen. Es müsse verhindert werden, dass der IS wiederbelebt wird. Gleichwohl bleibe der Wunsch zur Einrichtung eines Sondergerichtshofs in der Region mit den hohen Standards der Vereinten Nationen bestehen. Als Partner der internationalen Anti-IS-Koalition erwartet Kurd von der Staatengemeinschaft zudem Unterstützung hinsichtlich der juristischen Verfolgung von IS-Mitgliedern. Terrorismus sei eine internationale Bewegung, daher sollte auch in der Justiz international darauf geantwortet werden.
Stattfinden sollen die Verfahren gegen Angehörige des IS vor den Volksgerichten von Nord- und Ostsyrien, erklärte die AANES in einer Mitteilung. „Es kann keine Rede davon sein, dass der Status quo aufrechterhalten bleibt. Das Versäumnis, IS-Täter vor Gericht zu stellen, verstößt gegen das Völkerrecht, und ihre fortgesetzte Präsenz erhöht die Bedrohung der regionalen Sicherheit”, betont die Autonomieverwaltung. Die Prozesse sollen transparent und öffentlich sein, sodass grundsätzlich alle Interessierten – ganz gleich ob Privatpersonen oder Offizielle, Zugang zu den Verhandlungen an den Volksgerichten haben. „Wir sind der Einhaltung aller Menschenrechtsstandards verpflichtet und werden die Rechte aller Angeklagten sowie umfassende Garantien eines ordnungsgemäßen Verfahrens sicherstellen. Wir erwarten auch, dass sich alle Parteien, die sich an öffentlichen Diskussionen zur Frage beteiligen, inwieweit internationale Menschenrechtsstandards und -mechanismen auf Terroristen Anwendung finden, auch über die Rechte der Opfer und die Notwendigkeit sprechen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Die AANES ist mit diesem Problem allein gelassen worden.”
Dabei hat Nord- und Ostsyrien die größte Last im Kampf gegen den IS getragen. Über elftausend Gefallene, etwa doppelt so viele Verletzte beziehungsweise Kriegsversehrte und eine zerstörte Infrastruktur kostete der Widerstand gegen die Terrormiliz, die sich teils mit beflissener Unterstützung aus Ankara zahlreicher Kriegsverbrechen, Gräueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat, unter anderem in Raqqa und Kobanê. Seit der territorialen Zerschlagung der letzten IS-Enklave Baghuz im März 2019, aus der sich allein in der letzten Woche vor dem Ende der finalen Befreiungsoffensive über 10.000 Frauen, Kinder und Männer den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) ergaben, sucht die AANES nach Lösungen für das IS-Problem und bemüht sich um die Einrichtung eines internationalen Tribunals. Doch in den Herkunftsstaaten der IS-Gefangenen stößt dieses Anliegen auf taube Ohren, das Gewicht zehntausender Anhänger:innen der Miliz und ihrer Familienmitglieder liegt allein auf den Schultern Nord- und Ostsyriens.
„Wir sind entschlossen, die schwierige Aufgabe einer juristischen Lösung mit all unseren Fähigkeiten und unserer Hingabe zu erfüllen”, zeigt sich die AANES zuversichtlich. Weiter heißt es: „Unsere laufenden Bemühungen in dieser Hinsicht spiegeln unser unerschütterliches Bekenntnis zu den Grundsätzen der Menschenrechte und der uneingeschränkten Gerechtigkeit wider. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Ahndung der IS-Verbrecher der richtige Schritt zum Aufbau einer sicheren und stabilen Zukunft und Garant für Gerechtigkeit ist. Wir sind willens, uns allen Herausforderungen zu stellen und die Geißel des Terrorismus zu beseitigen. Wir hoffen, dass sich Organisationen wie die UN, die Anti-IS-Koalition sowie die Herkunftsländer dieser Gefangenen unseren Bemühungen anschließen und uns bei dieser anspruchsvollen und wichtigen Aufgabe unterstützen werden. Wir wollen die Zusammenarbeit mit regionalen und internationalen Partnern weiter ausbauen, um unseren Kampf fortzusetzen und die Region sowie den Rest der Welt zu verteidigen.”[1]