In Berlin lebt ein Mann, der in Ankara für das Pogrom in #Sivas# verurteilt wurde. Nun soll der Generalbundesanwalt ermitteln – die Hinterbliebenen hoffen.
Von Hannes Heine
Seine Kunden kannten Vahit K. als Betreiber eines Ladens für Mobiltelefone, später wegen der flachen gefüllten Fladenbrote, Gözleme, die er in seinem Lokal in Berlin-Wedding verkaufte. Der Berliner Justiz fiel er wegen Lappalien auf, in einem Fall von Körperverletzung wurde er freigesprochen. Yeter Gültekin dagegen kennt ihn, weil er dabei war, als ihr Mann zusammen mit 34 anderen in einem brennenden Hotel eingekesselt und qualvoll getötet wurde.
Vahit K. ist ein Mörder – in der Türkei verurteilt, für ein Massaker am Freitag, dem 02-07-1993, in der zentralanatolischen Stadt Sivas. Die Opfer waren Künstler – und Aleviten, eine spirituelle Gemeinschaft, die von vielen Muslimen abgelehnt wird. Vahit K., der sich seiner Haftstrafe entzog, lebt als freier Mann in Berlin.
Auch Yeter Gültekin wohnt heute hier, 1993 lebte sie in Köln. Ihr Mann, der Vater ihres Sohnes, erstickte in den Flammen, die ein islamischer Mob entfacht hatte. Vahit K. sei für den Massenmord in Sivas mitverantwortlich, sagt Gültekin. „Und dafür muss er bestraft werden.“
In der Türkei herrschte zu jener Zeit Aufbruchstimmung. Die Militärs standen in der Tradition von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und verteidigten dessen Laizismus. Sie hatten das Land geöffnet – einige glaubten, die Türkei werde in die Europäische Union aufgenommen. Doch sunnitische Islamisten und rechtsradikale Nationalisten riefen zur Jagd auf Liberale, Kurden, Aleviten auf. In Sivas trafen sich damals Künstler, auf die gleich alles drei zutraf: alevitische, liberale kurdische Sänger, Karikaturisten, Dichter. Auf einem nichtkommerziellen Festival wollten sie sich austauschen, Kunst und Politik verbinden.
Verdacht von Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert danach in Berlin, hat Gültekin endlich wieder Hoffnung, dass der Tod ihres Mannes doch noch gesühnt wird. Zwei Berliner Abgeordnete haben Vahit K. am Dienstag angezeigt. Ihn und acht weitere Männer, die beim Sivas-Pogrom dabei waren und danach in Deutschland auftauchten. Die Grünen-Politikerin Fatos Topac stammt selbst aus einer alevitischen Familie, sie und Benedikt Lux, der Rechtsexperte der Fraktion, fordern den Generalbundesanwalt in einem Schreiben auf, wegen des „Verdachts von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „aller in Betracht kommenden Delikte, insbesondere Mordes und Totschlags“, zu ermitteln.
Im Juli hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags erklärt, die deutsche Justiz könne die in Ankara verurteilten Männer an die Türkei ausliefern – oder das Massaker nach dem Weltrechtsprinzip selbst ahnden. Aus Sicht der Hinterbliebenen spricht vieles dafür, dass sich die deutsche Justiz des Falls annehmen sollte.
Yeter Gültekin sitzt im Café des Abgeordnetenhauses, gerade hat sie Topac und Lux berichtet, was sie über das Massaker weiß. Wenn Gültekin, eine resolute, schnelle Frau Anfang 50, über den Tod ihres Mannes spricht, füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Das geht nicht weg“, sagt Gültekin, hebt den Kopf, holt tief Luft: „Diese Verbrecher gehören vor Gericht und ins Gefängnis – in der Türkei, aber auch in Deutschland.“
Aus drei Moschen strömen Fanatiker zum Hotel
Ihr Mann, Hasret Gültekin, stammt aus einem Dorf nahe Sivas und war damals 22 Jahre alt, er lebte als Musiker in Istanbul und Köln. In der Türkei hatte er ein Album mit kurdischen Volksliedern veröffentlicht, als Kurdisch in der Öffentlichkeit noch verboten war. Hasret Gültekin brachte die Lieder als Instrumentalversion heraus. Er bekannte sich auch zur Obrigkeitskritik der Aleviten, als viele von ihnen sie nur im Verborgenen lebten. Aleviten wurden schon im Osmanischen Reich als Ketzer verfolgt.
Viele Aleviten sind Kurden, die von nationalistischen Türken ohnehin bedrängt werden. In Dersim, östlich von Sivas, wurden im Jahr 1938 Zehntausende alevitische Kurden ermordet. Wie viele Aleviten in der Türkei leben, ist unbekannt. Geschätzt sollen es 13 Millionen Menschen sein, in Deutschland 500.000.
Zwei Tage vor dem Pogrom reiste Yeter Gültekins Mann aus Köln in die Türkei. „Hasret wollte unbedingt an dem Festival teilnehmen“, sagt Gültekin. „Es war ihm nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch wichtig.“ Und so habe er einen Flug nach Ankara gebucht, von dort ging es mit Freunden im Auto nach Sivas, Treffpunkt war der Festivalort, das Madimak-Hotel.
Es lebe die Scharia!
Yeter Gültekin blieb in Köln. Sie musste sich schonen, war mit ihrem Sohn schwanger. Nach seiner Ankunft meldete sich ihr Mann. Am Donnerstag, dem 1. Juli, hieß es in einer türkischen Nachrichtsendung im WDR dann, dass es Proteste gegen das Festival gegeben habe. Am Freitag – Hasret hatte sein Solokonzert hinter sich – wartete Yeter Gültekin in ihrer Wohnung vergeblich auf einen Anruf.
Sunnitische Islamisten und die rechtsradikalen Grauen Wölfe waren ebenfalls nach Sivas gekommen: Tausende von ihnen belegten die Pensionen, bevölkerten die Straßen der damals 250.000 Einwohner zählenden Stadt. Nach dem Freitagsgebet zogen aus drei Moscheen 15.000 Fanatiker vor das Madimak-Hotel.
Aus Tausenden Kehlen hallte es: „Es lebe die Scharia! Nieder mit dem Laizismus!“ Die Menge kesselte die Festivalteilnehmer im Hotel ein. Die Belagerten riefen in der Zentrale der Sozialdemokraten an – die kemalistische Partei regierte in Ankara. Sie baten Vize-Regierungschef Erdal Inönü, er möge die Eingeschlossenen befreien. Doch die eingesetzten Polizisten und herbeigerufene Soldaten konnten oder wollten das Hotel nicht schützen. Auf Bildern jenes Tages ist zu sehen, wie Uniformierte in kleinen Kolonnen durch die krakeelende Menge liefen. Bald drangen die Islamisten in das Gebäude ein, vergossen Benzin, steckten es in Brand, die Flammen schlugen bis zur dritten Etage. Im Tumult erschossen Beamte zwei Angreifer.
Weshalb konnten die Verurteilten das Land verlassen?
In Köln saß Yeter Gültekin, die damals Elektrotechnik studierte, vor dem Fernseher. In den Nachrichten hieß es, in Sivas habe ein Hotel gebrannt, zahlreiche Menschen seien ums Leben gekommen. Schließlich fiel der Name ihres Mannes. Gültekin sei zusammengebrochen, sagt sie. Und doch organisierte sie später in der Nacht einen Flug in die Türkei. Passkontrollen, Durchsuchungen – das Land war in Aufruhr. Mit dem Bus habe sie für die 450 Kilometer vom Flughafen Ankara bis zum Heimatdorf ihrer Schwiegereltern nahe Sivas fast neun Stunden gebraucht. Die Leiche ihres Mannes wurde im Beisein seiner Familie aufgebahrt, Hasret Gültekin am 4. Juli im Dorf seiner Eltern beerdigt.
Sicherheitskräfte nahmen 190 mutmaßliche Angreifer fest. Die Prozesse dauerten Jahre, 130 Angeklagte wurden verurteilt. Dutzende von ihnen erhielten lebenslange Freiheitsstrafen – dennoch gelang es mindestens neun Männern, unter ihnen Vahit K., vor Haftantritt zu fliehen. Inzwischen war Necmettin Erbakan türkischer Regierungschef, ein Islamist. Dass erzkonservative Beamte mit dem sunnitischen Mob sympathisierten, war bekannt. Doch konnten die Verurteilten deshalb das Land verlassen?
Einige Monate nach seiner Verurteilung tauchte Vahit K. 1997 in der Erstaufnahmestelle für Asylbewerber im märkischen Eisenhüttenstadt auf. Seitdem lebt er in Deutschland. Die Zeitung „Cumhuriyet“ meldete, dass das Urteil gegen K. 2006 bestätigt und 2010 ein internationaler Haftbefehl ausgestellt wurde. Deutschland vollstreckte den nicht. Bislang erklärten die Behörden das damit, dass Militärrichter an den Urteilen beteiligt, die Verfahren nicht fair und die konkrete Tatbeteiligung unklar gewesen sei. Tatsächlich werden viele Haftbefehle – nicht nur aus der Türkei – wegen Zweifeln am rechtsstaatlichen Zustandekommen nicht vollstreckt.
„Sicher, die Standards türkischer Militärrichter genügen unserem Rechtsempfinden oft nicht“, sagt das Berliner Abgeordnetenhausmitglied. „Allerdings gibt es ausreichend Anhaltspunkte, den Fall von Deutschland aus neu aufzurollen.“ Die Lage am 2. Juli 1993 war unübersichtlich, aber nicht unbeobachtet. Es war helllichter Tag, Fernsehreporter waren da. Topac und ihr Fraktionskollege Lux hoffen, dass sich eine neue Generation deutscher Ermittler des Falls annimmt. Akten anfordert, Zeugen befragt, Bilder auswertet, Beschuldigte verhört. Lux bittet Juristen in anderen Staaten, ebenfalls nach Sivas-Attentätern zu suchen.
Den BMW hat er sofort bezahlt
Bald nach seiner Ankunft in Deutschland zog Vahit K. nach Berlin. Er erhielt einen blauen Pass – so werden die deutschen Reiseausweise für Flüchtlinge genannt. Der Inhaber muss sich nicht mehr beim Herkunftsstaat um Papiere bemühen. Alevitische Aktivisten machten auch in Deutschland auf Vahit K. aufmerksam, seinem Aufenthaltsstatus schadete das nicht. Im Gegenteil: Deutschland setzte sich sogar im Ausland für ihn ein.
Als Vahit K. im September 2011 nach Polen reiste, nahmen ihn dortige Beamte fest, schließlich lag aus der Türkei der Haftbefehl vor. Einige Tage danach wandte sich das deutsche Außenministerium an die polnische Regierung – und K. kam frei. Das wunderte Reporter des Senders CNN Türk, der damals als regierungskritisch galt. CNN Türk meldete, dass sich K. ungehindert durch Europa bewege, gerade einen BMW X 6 gekauft habe, die 55.000 Euro habe er sofort bezahlt. Seine Mitschuld am Sivas-Massaker bestritt K. dem Bericht zufolge.
„Wir waren immer wieder entsetzt, dass es die Täter so leicht hatten“, sagt Yeter Gültekin. „Es gab Gerüchte, dass er ein Spitzel, ein V-Mann sei.“ Ist Vahit K. für eine Sicherheitsbehörde tätig? Deutsche Geheimdienste, den türkischen? Die Bundesregierung teilte im April 2019 zu den in Deutschland lebenden Sivas-Männern mit: „Die betroffenen Personen wurden nicht als V-Leute oder Informanten eingesetzt.“
An der Hauswand steht: Verschwinde, Alevit
In Ankara regierte zur Zeit der vorläufigen Festnahme 2011 schon Recep Tayyip Erdogan, der einst sagte: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Nach dem gescheiterten Putsch 2016 versuchte in Istanbul eine Menschenmenge, aus der heraus „Allahu akbar“-Schreie ertönten, ein Alevitenviertel zu stürmen. Vor wenigen Tagen wurde in Izmir das Haus einer alevitischen Familie mit einem „X“ markiert und dem Schriftzug „Verschwinde, Alevit“ beschmiert.
Vahit K. ist heute Mitte 40. Den Handyshop habe er vor zwei Jahren verkauft, sagt der neue Betreiber am Telefon. Im Weddinger Lokal kennen zwei Gastronominnen zwar seinen Namen, sagen aber, er sei nicht erreichbar. Auch für K. gilt die Unschuldsvermutung.
Yeter Gültekin arbeitete nach dem Tod ihres Mann als Lehrerin in Integrationskursen. Islamisten sind ihr noch in vielerlei Gestalt begegnet. Einmal habe ihr ein Achtjähriger gesagt, er lerne die lateinischen, also deutschen Buchstaben nicht – denn bald beginne der Dschihad, danach würden in Europa sowieso alle Arabisch sprechen müssen.
Auch in Deutschland werden Aleviten immer wieder bedroht. Vor ihren Vereinshäusern tauchen häufig türkische Rechtsextreme auf. Dennoch haben Aleviten hierzulande viel erreicht. Einige Schulen bieten alevitischen Religionsunterricht, an der Berliner Humboldt-Universität gibt es einen Lehrstuhl für alevitische Studien, immer wieder demonstrieren Aleviten in Berlin, Hamburg, Köln gegen Erdogans Eroberungspolitik.
Sivas-Massaker in der Türkei Verfolgt Deutschland die islamistischen Täter noch?
Yeter Gültekin wolle nicht, dass die Sivas-Täter aus Deutschland in die Türkei überstellt werden, sagt sie. Die Gefahr sei groß, dass Vahit K. dort erneut freikäme, der internationale Haftbefehl, der ja aus Ankara stammt, also in der heutigen Türkei nicht umgesetzt würde. Sie lebe gern in Deutschland, sagt Gültekin, sie vertraue seinen Institutionen. „Und in einem Rechtsstaat Deutschland sollten diese Mörder nicht herumlaufen dürfen.[1]