„Wir sind eine Guerillabewegung und kämpfen in den Bergen. Wir befinden uns im Kriegszustand und halten Waffen in den Händen. Aber als Bewegung haben wir uns nie auf den bewaffneten Kampf beschränkt.“ Interview mit Çiğdem Doğu (KJK), Teil 1
Çiğdem Doğu, Koordinationsmitglied der KJK (Gemeinschaft der Frauen Kurdistans), hat in einem von Arjîn Baysal geführten Interview im Fernsehsender Jin TV über Ethik und Ästhetik in der kurdischen Frauenbefreiungsideologie gesprochen. Wir veröffentlichen den ersten Teil des Interviews in deutscher Übersetzung.
Wie können Ethik und Ästhetik definiert werden, angefangen mit dem Begriff?
Rêber Apo [Abdullah Öcalan] formulierte die Ideologie der Frauenbefreiung als fünf Prinzipien, um die herum eine Frauenpartei, ein konföderales Frauensystem und eine Frauenrevolution entstanden. Aus diesem Grund ist die Frauenbefreiungsideologie von strategischer Bedeutung für unsere Bewegung.
Eines ihrer grundlegenden Prinzipien betrifft Ethik und Ästhetik. Natürlich sind wir nicht die ersten, die sich mit diesem Thema befassen. Diese Begriffe haben einen Ausgangspunkt in der Geschichte der Menschheit. Sie haben eine tiefe historische Realität in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft oder im sozialen Leben, wenn wir sie als Moral betrachten. Wir handeln mit dem Anspruch, eine Frauenrevolution zu verwirklichen. Unser Ziel ist eine gesellschaftliche Revolution durchzuführen, indem wir eine Frauenrevolution durchführen. Darauf basiert unsere Strategie. Aus diesem Grund sind Ethik als die Wissenschaft der Moral und Ästhetik als Wissenschaft der Schönheit Themen, die uns sehr am Herzen liegen.
Wir sind als Frauenbewegung innerhalb der PKK entstanden
Wir sind eine Guerillabewegung und kämpfen in den Bergen. Wir befinden uns im Kriegszustand und halten Waffen in den Händen. Aber als Bewegung haben wir uns nie auf den bewaffneten Kampf beschränkt. Genauso wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger, ist es, ein ideologisches Verständnis und die kulturell-moralische Struktur einer Freiheitsrevolution zu erschaffen und einen Mentalitätswandel herbeizuführen. Für uns ist das ein Problem und eine Aufgabe, die wir zu lösen haben. Deshalb ist die Frage der Ethik ein Thema, mit dem wir uns als Bewegung immer wieder beschäftigen. Ein Individuum mag revolutionär sein, aber inwieweit entspricht seine revolutionäre Identität und Persönlichkeit der Ethik der Freiheit? Das ist eine Frage, die uns seit unserer Gründung im Rahmen der auch von Rêber Apo aufgestellten Kriterien immer beschäftigt hat. In Hinsicht von Ästhetik ist es dasselbe. Wir haben nie Moral unabhängig von Schönheit oder Schönheit unabhängig von Moral betrachtet. Das entspricht auch der PKK-Tradition. Wir sind eine Frauenbewegung, die sich innerhalb der PKK entwickelt hat. Wenn wir also von Frauenkampf und Frauenrevolution sprechen, betrachten wir es auch aus dieser Sicht. Frauen führen einen Kampf für ihre Befreiung, sie träumen von Freiheit und kämpfen dafür. Aber das ist nicht nur ein plumper Krieg gegen männliche Vorherrschaft. Es ist auch nicht nur der bewaffnete Kampf gegen den Feind. Aus diesem Grund haben wir uns intensiv mit der Frage beschäftigt, was die Ethik von Frauen ausmacht, wie sie mit der Gesellschaft zusammenhängt und warum Ästhetik und Schönheit ein grundlegendes Prinzip sind.
Wie soll eine Gemeinschaft zusammenleben?
Zur etymologischen Definition: Ethik ist ein griechischer Begriff, der sich auf die Wissenschaft der Moral bezieht. Moral ist ein Konzept, das sich herausgebildet hat, seit die Gesellschaften sich als Gesellschaft verstehen. Ganz allgemein können wir Moral als die Regeln, das Verständnis und die Traditionen definieren, die für die Organisation, das Verhalten und die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens gelten. Man könnte auch sagen, dass es sich nicht um eine Regel im engeren Sinne handelt, sondern um ein Maß für das Leben. Im gesellschaftlichen Leben ist es notwendig, die Beziehungen zwischen den Menschen zu organisieren. Die menschliche Gemeinschaft agiert auf verschiedenen Ebenen, wie wirtschaftliche Aktivitäten, Bildung, Gesundheit, Soziales, Kultur und Kunst. Letztlich ist der Mensch ein Wesen, das mit anderen Menschen interagiert. Wie soll diese menschliche Gemeinschaft zusammenleben? Wie werden sie gemeinsam wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, wie werden sie ihre Kunst entwickeln, wie werden sie Bildung erhalten, wie ist das Verhältnis innerhalb der Familie, zwischen Frauen und Männern, Kindern und Erwachsenen, von Sippe zu Sippe, Stamm zu Stamm, Nation zu Nation? Wird diese Interaktion im Chaos verlaufen oder werden die Menschen nach bestimmten Maßstäben miteinander leben? Das alles wird in den Grundzügen durch die jeweilige Moral bestimmt.
Moral ist unverzichtbar
Wenn wir die Entstehung der ersten Menschen betrachten, wie hat die Gesellschaft das Zusammenleben bewältigt? Sie tat es durch Moral. Wie entstand eine Ebene, auf der sich die Menschen in Form von Sippen miteinander bewegten, im Laufe der Zeit zu sprechen begannen und einander verstanden, arbeitsteilig wirtschafteten und Liebe und Toleranz entwickelten? Aus diesem Grund behandeln wir in unserer eigenen Literatur Moral nie getrennt von der Gemeinschaft. Moral ist sozial, und Frauen haben hier eine führende Rolle gespielt. Wenn wir über Moral sprechen, sprechen wir in gewisser Weise auch über Frauen. Frauen haben eine führende Rolle bei der Herausbildung von Gemeinschaft. Was ist richtig und falsch im Leben? Was ist gut und was ist schlecht? Was ist hässlich und was ist schön? Es gibt eine gesellschaftliche Moral, die sich um Frauen herum entwickelt hat. Diese wiederum hat eine Gemeinsamkeit hervorgebracht. Moral ist unverzichtbar für das Leben der Gesellschaft und für das Individuum. Der heutige Individualismus und die Loslösung des Individuums von seiner Gesellschaft die größte Unmoral.
Es gibt metaphysische Aspekte bei der Entstehung von Moral
Wenn wir das ein wenig näher erläutern; es gibt ja auch heute noch natürliche Gemeinschaften. Was waren die von Ihnen erwähnten Werte und Maßstäbe in unzerstörten Gesellschaften, und wie sind sie zustande gekommen?
Der Mensch ist im Angesicht der Natur ein schwaches Wesen. Das hat nicht nur mit Angst zu tun. Es gibt Theorien wie: Es hat gedonnert, geblitzt, es gab Überschwemmungen und so weiter. Natürlich gibt es auch das, es wäre nicht möglich, es völlig zu verwerfen. Aber eine Definition, die sich nur darauf bezieht, ist vielleicht zu physikalisch. Es gibt metaphysische Aspekte bei der Entstehung der moralischen Realität der Gesellschaft. Menschen sind in vielerlei Hinsicht hilflos gegenüber der Natur und können allein nicht überleben. Das erzwingt ein Zusammenleben und Zusammenarbeit. Das gilt natürlich nicht nur für den Menschen, aber es hat beim Menschen die höchste Stufe erreicht. Natürlich gibt es auch im Pflanzenreich, im Tierreich oder im Universum Lebensformen, die in Gemeinschaften agieren. Auch in der Natur gibt es eine solche Tendenz. Der Mensch kann die Dinge in der Natur und im Universum nicht in einer sehr wissenschaftlichen Sprache ausdrücken, und das wird immer eine Realität sein, zu der die Menschheit Fragen stellen wird. An diesem Punkt kann man nicht fragen, warum das so ist, aber es gibt diese Tendenz zur Vergesellschaftung im Universum.
Zusammenleben ist ein Bedürfnis
Es gibt ein Bedürfnis, zusammenzuleben. Ohne ein Zusammenleben ist es nicht möglich, als Individuen zu leben. So ist es auch heute. Weder in geistiger noch in körperlicher Hinsicht kann es sich der Mensch leisten, allein zu leben. Wissenschaft und Technik sind sehr weit fortgeschritten, stellen wir uns vor, dass ein einzelner Mensch alles tun kann. Aber spirituell, metaphysisch gesehen, kann dieser Mensch allein leben? Er kann es nicht. Davon ausgehend ist es notwendig, das Zusammenleben mit Maßnahmen und Regeln zu bestimmen. Was kommt dabei heraus? Die Liebe zwischen Menschen ist ein sehr wichtiger Aspekt der Moral. Können Menschen zusammenleben, wenn es in einer Umgebung keine Liebe gibt? Aus einer solchen Umgebung würden sie immer fliehen wollen. Moral ist eine lebendige Sache. Liebe, Toleranz, gegenseitiges Verständnis, Zuhören, Respekt und heilige Werte sind unabdingbare Voraussetzungen für Moral. Respekt kommt von Heiligkeit. Vor etwas Achtung zu empfinden, ist ein bisschen wie Anbetung. Wenn wir einen Menschen sehen, der sich Wertmaßstäbe setzt und liebevoll, respektvoll, tolerant und sorgfältig in seiner Arbeit ist, dann sagen wir, was für ein moralischer Mensch. Oder wenn wir eine solche Gesellschaft sehen, sagen wir, das ist eine ethische Gesellschaft. Auch damit lässt sich Moral bewerten.
Moral und Ehre
Es ist ein Begriff mit sowohl abstrakten als auch konkreten Werten. Wie verwendet das System ihn? Als Frauen wird uns Ehre als einengender moralischer Wertmaßstab auferlegt, der Ehrbegriff bezieht sich auf die Versklavung von Frauen. Aber was Sie über Wertmaßstäbe sagen, hat ein viel emotionales Gewicht.
Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wenn Sie zum Beispiel jemanden als unmoralisch bezeichnen, was fällt Ihnen dann als erstes ein? Es ist Ehrlosigkeit. Sie haben eine Beziehung zu einem Mann aufgebaut, oder wenn Sie ein Mann sind, haben sie eine andere Beziehung zu einer Frau aufgebaut. Moral ist jedoch etwas sehr Umfassendes; es ist ein sehr wichtiges Konzept, das jeden Moment des Lebens betrifft.
Natürlich gibt es auch moralische Maßstäbe und Grundsätze in Bezug auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Auch das gehört dazu. Aber es ist nicht darauf beschränkt. Beispielsweise geht es darum, gute und schöne Arbeit zu tun. Nehmen wir ein Beispiel aus der natürlichen Gesellschaft: Die Gesellschaft braucht Nahrung. Gut bei der Jagd zu sein, Kräuter zu sammeln, gut zu kochen, all das ist eine moralische Sache. Es gibt Arbeiten, die getan werden, um den Fortbestand der Gemeinschaft zu sichern. Diese auf die beste Art und Weise auszuführen, ist moralisch. Zarathustra hat das auch sehr gut ausgedrückt: Gut denken, gut reden, gut handeln.
Dies sind auch einige der Merkmale der natürlichen Gesellschaft. Heldentum, zum Beispiel, ist in den Mythologien sehr verbreitet. Heldentum ist eine moralische Sache sowohl in unserem Kampf als auch in den Kämpfen weltweit. Haben Sie jemals von einer Person gehört, die etwas nur für sich selbst tut und als Heldin oder Held bezeichnet wird? Nein. Vielleicht kann sie gewürdigt werden. Aber sie wird nicht als Held bezeichnet. Anders ist es, wenn sie etwas für die Gesellschaft tut und selbstlos und opferbereit ist. Heldentum, Tapferkeit und Selbstverteidigung sind sehr wichtige Bestandteile der moralischen Struktur.
Es gibt keine schlechte Moral
Wir können auch sagen, es sind Dinge, die die sozial sind ...
Ja, eine positive Sache, die sozial ist und der Gesellschaft dient. Es gibt keine schlechte Moral, ein solcher Begriff ist abwegig. Moral ist positiv. Moral ist gut, schön, richtig, frei. Wir können Moral zum Beispiel nicht mit Versklavung definieren. Die herrschenden Machtsysteme versuchen es, aber die etymologische Wurzel von Moral ist positiv. Sie zu zerstören heißt das Leben zu zerstören. Das ist es, was jetzt zu tun versucht wird. Die Form der Moral zu verändern bedeutet, die Gesellschaft allmählich zu verderben und zu zerstören. Jeder Mensch erlebt Kindheit, Jugend, Wachstum, Reife und Alter in einem bestimmten sozialen Umfeld und kennt die Moral innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft. In unserer Kindheit wird uns gesagt, dies ist gut, das ist schlecht. Oder man sagt uns in der Religion, was verboten oder gut ist. Auch die Philosophie und die Wissenschaft sagen uns, dass dies richtig und jenes falsch ist. Auf der Suche nach Freiheit sagen wir, das ist Sklaverei, dies ist Ausdruck von Freiheit. Es geht dabei um die moralischen Werte einer Gemeinschaft.
In seinen Bewertungen spricht Rêber Apo von Ethik und Ästhetik immer im Zusammenhang mit Freiheit. Inwiefern gibt es einen solchen Zusammenhang?
Moral ist etwas Natürliches, Reines, Klares, Scharfes. Wenn man etwas gegen die moralischen Werte einer Gesellschaft tut, erfolgt daraus die schlimmste Strafe. Man wird isoliert, man wird geächtet. Aus moralischen Gründen ausgegrenzt zu werden, ist eine sehr schwerwiegende Angelegenheit. Das ist der Grund, warum Moral auch scharf ist. Wenn die moralische Struktur des gesellschaftlichen Lebens intakt ist, wenn sie nicht eingeengt wird, dann gibt es dort tatsächlich Freiheit und Demokratie. Innerhalb dieser Gemeinschaft ist es wichtig, dass die Einzelnen sich äußern und an Entscheidungsprozessen teilnehmen. Denn auf diese Weise wird die Stammzelle geformt, auch wenn die Gesellschaft bereits verdorben ist. Das ist Demokratie. In einem demokratischen Leben sind Individuum und Gesellschaft frei. Zweifellos gibt es Themen, die mehr Diskussion erfordern. Das Individuum und die Gesellschaft sind untrennbar miteinander verbunden, aber sie haben auch Widersprüche. Und wenn die moralische Struktur lebendig ist, kann sie diese richtig analysieren und lösen.
Moral als Akt der Freiheit
Rêber Apo spricht von Moral als einem Akt der Freiheit. Wenn es an einem Ort Moral gibt, dann gibt es Freiheit, Schönheit, demokratische Werte, Toleranz und Frieden. Die Menschen respektieren sich gegenseitig, hören zu und versuchen zu verstehen. Widersprüche muss es in jedem Fall geben, denn es gibt Unterschiede. Ganz zu schweigen von Gemeinschaften, jedes Individuum ist einzigartig und besonders. Man kann sie nicht gleich machen. Man kann ihnen nicht aufzwingen, hundertprozentig harmonisch zu sein. Daher ist Moral so ideal. Sie gibt das allgemeine Prinzip und den Maßstab für das Leben einer Gesellschaft vor, und die Individuen versuchen, ihre bestehenden Widersprüche gemäß dieser Moral zu lösen. Man will Gutes tun für diese Gesellschaft, für den Menschen neben sich. Wenn du ein Feld bestellst oder als Handwerkerin, als Kunstschaffender, du willst das Bestmögliche tun. All das ist Ausdruck ethischer Werte.
Respektvoller Umgang mit dem Universum
Hier zeigt sich die Verbindung zwischen den fünf Grundsätzen der Frauenbefreiungsideologie. Um ethisch zu sein, muss du dein Land lieben. Du musst dafür kämpfen, und du musst organisiert sein.
Die Verbundenheit mit dem Land muss auch als Verbindung zur Natur gesehen werden. Das eigene Land zu lieben, die Natur zu lieben, in einer gleichberechtigten Beziehung zur Natur zu stehen, ist ebenfalls moralisch. Ein grundlegendes Merkmal der Moral in natürlichen Gesellschaften ist die Beziehung zur Natur. Einen Baum ohne Grund zu fällen, ist unmoralisch. Schauen wir uns Dorfgemeinschaften an, sie fällen keinen Baum ohne Grund. Sie jagen oder töten Tiere, sie töten sie, um ihre lebenswichtigen Bedürfnisse zu erfüllen. Aber sie gehen hin und entschuldigen sich bei dem Tier. Das ist Moral. Moral heißt, Tiere und die Natur zu respektieren. Es ist ein respektvoller Umgang mit dem Universum. Gleichberechtigte Beziehungen, respektvolle Beziehungen, gegenseitige Ergänzung mit allem, womit der Mensch und die Gesellschaft in Berührung kommen, sind alles Dinge, die Moral beinhalten. Die Beziehung zwischen dem Menschen und der Geschichte, die Beziehung des Menschen zu sich selbst, seine Beziehung zu seinem Körper, zu seinen Gedanken, zu seiner Sprache, seine Beziehung zu den Gedanken anderer, seine Beziehung zu Philosophie und Wissenschaft usw. Das sind metaphysische Dinge und Phänomene, die Moral beinhalten. Xwebûn heißt, du selbst zu sein. Du selbst zu sein, bedeutet in seiner einfachsten Definition, eine moralische Beziehung zu sich selbst zu entwickeln. Es bedeutet, dass ich zu mir selbst und zu dieser Gesellschaft gehöre. Ethik kann in einem sehr breiten Rahmen betrachtet werden, sowohl auf metaphysischer Ebene als auch in Bezug auf materiell-physische Phänomene.[1]