Autor: Jasberg, Jennifer
Erscheinungsort: Deutschland
Verleger: Göttingen University
Veröffentlichungsdatum: 2009
In der vorliegenden Arbeit werden Prozesse, die auf die kurdischen Gruppen und ihre Zusammensetzungen in der Region Irakisch-Kurdistan gewirkt haben, erfasst, nachgezeichnet und untersucht. Der Blick fällt dabei auf die Kurden im Irak, da diese in den letzten beiden Jahrzehnten einen bis dahin unerreichten Grad an politischer Eigenständigkeit erlangt haben, der Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit umfasst. Aber ungeachtet dessen, dass sich der Irak als demokratischer, föderaler Staat zu etablieren scheint, sagt das noch nichts über die regionale Verfasstheit, politische Struktur oder Norm und Zugehörigkeitsempfinden der Betroffenen aus. Bei der konstruktivistischen Betrachtung kurdischer Ethnizität wird hier deutlich, dass Kurden keineswegs als Kollektiv wahrgenommen nur Bewohner von Kurdistan sein können oder über zuverlässige, überregional bindende Marker verfügen. Anders als die Situation der Kurden in Syrien, Iran oder der Türkei fasst die Autonomieregion Irakisch-Kurdistan aktuell, mit einem ethnischen Stempel versehen, Fuß als wahrnehmbarer Teil in der internationalen Staatengemeinschaft. Zentral ist dabei die Frage welche Aussagen über Gemeinschaftsorganisation und -repräsentation im Aufeinandertreffen von moderner Nationalstaatlichkeit und praktisch gelebter Gruppenorganisation an ihrem Beispiel getroffen werden können. Das Erleben der ethnischen Identität hing für Kurden vielfach mit gesellschaftlicher Unterdrückung und mit Verfolgung zusammen. Im Zuge der Assimilierungsversuche und des Ethnozids wurde die ethnische Identität der Kurden vor allem von den zentralen Regierungsinstanzen in den Vordergrund gedrängt, ohne dass ein positives Bekenntnis zu dieser hätte eingefordert werden müssen.Es hat sich bei der Analyse gezeigt, dass die traditionellen Bindungen der Stämme an die Aghas und Scheichs, die Religiosität und die räumliche Abtrennung voneinander bewirkten, dass nationalistische Vorstellungen kaum Bedeutung erlangen konnten. Allerdings stützt insbesondere die starke Orientierung an der Bundesstaatlichkeit Irakisch-Kurdistans seitens der politischen Parteien die These, dass im Ringen um eine allgemein akzeptierte ethnische Identität aus zweckrationalen Überlegungen an der nationalstaatlich verstandenen Konzeption Irakisch-Kurdistans festgehalten wird.Dass sich überhaupt eine absolute Präferenz und Akzeptanz von politischen Parteien als alleinige Interessensvertreter durchsetzte, verwundert wenig, wenn man bemerkt, dass altbekannte Strukturen darin enthalten geblieben sind und auf die Weise das nötige demokratische Vokabular im Umgang mit internationalen Akteuren angeboten werden kann. Das Verstehen der Tatsache, dass sich durchgehend traditionelle Stammes- und Scheichdynastien auf der politischen Bühne prominent bewegten, bedarf der Kenntnis dieser vorstaatlichen Strukturen. Die Verbindung zwischen Klans und religiösen Bruderschaften bleibt nämlich politisch bestimmend. Entweder der Klan gehört insgesamt einer Bruderschaft an oder deren Mitglieder haben sich ihm angeschlossen. Scheichs und Aghas sind zunehmend deckungsgleich, was sich allerdings erst in den vergangen zwei Jahrhunderten entwickelt hat. Bei genauer Betrachtung dieser modernen Staatlichkeit zeigt sich also ein Gemisch aus verschiedenen Herrschaftslegitimationen der derzeit politisch Aktiven, hinter denen jeweils gesellschaftlich tragende Gruppen stehen, die der Identifikation dienen.[1]