Von #Dastan Jasim# und Pedram Zarei
Welche Rolle spielt die Kurd*innenfrage in dem Aufstand in Iran, der seinen Anfang mit dem Mord an der Kurdin Jîna (Mahsa) Amini nahm?
Lediglich vom gelben Licht der Straßenlaternen erhellt, machen sich Demonstrant*innen in der Stadt Şino im Nordwesten Irans am Abend des 23. September auf den Weg durch die Straßen. Wenig später verbreitet sich eine Nachricht auf verschiedenen kurdischen Social-Media-Accounts, die vor kurzem noch niemand möglich gehalten hätte: Eine kurdische Stadt in Iran hat sich der Kontrolle des Staates entzogen. Der Slogan »Jin, Jiyan, Azadî« (Frauen, Leben, Freiheit) ertönt im befreiten Şino; Gebäude der Sicherheitskräfte stehen in Brand, die Bevölkerung beginnt damit, Kontrollen und Barrikaden an Verkehrsknotenpunkten zu anderen größeren benachbarten Städte wie Urmia (kurdisch: Wurmê) aufzubauen. Derselbe Anblick wiederholt sich über Tage hinweg immer wieder, in Sanandaj, Kermanshah und Saqqez: Der Staat rückt vor, die Bevölkerung leistet Widerstand, der Staat muss sich zurückziehen. Am 3. Oktober ein weiterer Paukenschlag: In der Sharif-Universität in Teheran protestieren Studierende, und Sicherheitskräfte umzingeln sie, schießen in die Menge, töten Dutzende. Erst die Familien, dann Hunderte andere Zivilist*innen brechen daraufhin zum Campus und dem nahegelegenen Azadi-Platz, dem Zentrum der Stadt, auf, versperren die Straßen über Stunden, kämpfen mit den Kräften des Regimes. Genauso kämpfen in Belutschistan Zivilist*innen um die Kontrolle ihrer Städte. Ihnen wird dabei mit roher Gewalt begegnet. Diese wiederholten Momente der Stadtkontrolle, seien sie auch nur vorübergehend, bereiten dem Mythos der Unbesiegbarkeit des iranischen Regimes ein Ende.
Die Ursprünge des Autonomiewillens …
Wer den Widerstand im iranisch besetzten Kurdistan kennt, ist vielleicht überrascht vom Zeitpunkt, kaum aber von der Stringenz dieser Autonomiemaßnahmen, die in Şino in Anfang nehmen. Die erste kurdische Republik wurde immerhin 1947 im nur 95 Kilometer von Şino entfernten Mahabad ausgerufen, und auch wenn diese kein Jahr hielt, lehrte sie die Bevölkerung, ein autonomes Kurdistan als realisierbar, nicht als bloße Utopie zu sehen.
Über die folgenden Jahrzehnte organisierte die Bevölkerung sich in kurdischen Parteien. Die Demokratische Partei Kurdistan Iran (KDP-I) gründete sich sogar noch vor der bekannteren Schwesterpartei in Irak im Jahre 1945. Mit der kommunistischen Komalah-Partei kam 1969 zur eher sozialdemokratischen KDP-I auch eine dezidiert marxistische Partei hinzu. Die kurdische Bevölkerung bewegte sich damals nach links und trat wiederholt gemeinsam mit der iranischen Linken in den Widerstand gegen den immer autokratischer herrschenden König Reza Pahlavi, der vom Westen bis an die Zähne bewaffnet wurde.
Die wiederholten Momente der Stadtkontrolle, seien sie auch nur vorübergehend, bereiten dem Mythos der Unbesiegbarkeit des iranischen Regimes ein Ende.
Mit der Revolution 1979 verschlimmerte sich die Lage. Aus der bereits autokratischen Monarchie wurde nun ein klerikal-faschistischer Staat unter der Kontrolle des aus Paris zurückgekehrten Ayatollah Khomeini. Khomeini ließ in einer seiner ersten Amtshandlungen sämtliche kurdische Parteien verbieten und erklärte den kurdischen Kampf zur antiislamischen Verschwörung. Große Teile der kurdischen Bevölkerung leisteten erbitterten Widerstand während des blutigen Iran-Irak-Krieges von 1980 bis 1988, den zwei Besatzer Kurdistans zu einem großen Teil auf kurdischem Boden führten, während auf beiden Seiten Kurd*innen ihre Besatzer zurückzudrängen versuchten.
… und des antipatriarchalen Kampfes in Rojhelat
Eine Besonderheit dieser Zeit war die erstmalige Bewaffnung von Frauen in den Reihen der marxistisch orientierten Komalah-Partei: Tausende Guerillakämpferinnen bildeten die ersten Fraueneinheiten und kämpften für eine feministische, antipatriarchale Zukunft. Währenddessen gründeten sich im Rahmen der demokratischen Selbstverwaltung die ersten sogenannten Volksräte, in denen der Versuch unternommen wurde, die gesellschaftlichen Probleme unter Berücksichtigung der Gleichberechtigung aller Geschlechter und ethnischer Gruppen zu lösen.
Der Krieg endete 1988 mit katastrophalen Folgen: Die iranischen Revolutionsgarden hatten weit in das kurdische Kernland vordringen können, während Saddam Hussein seinen antikurdischen Krieg mit Giftgasangriffen auf das iranisch-kurdische Sardascht 1987 und auf das irakisch-kurdische Halabja 1988 beendete.
In den 1980er Jahren kam es zur erstmaligen Bewaffnung von Frauen in den Reihen der kurdischen marxistisch orientierten Komalah-Partei. Foto: Komalah
Wesentliche Teile der iranisch-kurdischen Opposition mussten daraufhin in die Diaspora verlegt werden, was diese Bewegungen schwächte. Der ehemalige Chef der KDP-I, Abdul Rahman Ghassemlou, wurde in Wien am Verhandlungstisch mit Iran von seinem »Verhandlungspartner« erschossen. Nur drei Jahre später ereilte seinen Nachfolger Sadegh Sharafkandi und dessen Gefolgschaft in Berlin dasselbe Schicksal, diesmal schossen iranische und libanesische Attentäter. Österreich und Deutschland torpedierten die Aufklärung beider Attentate, denn entgegen der häufig auch von Linken verbreiteten Behauptung, die Islamische Republik Iran sei eine Art anti-westliche Bastion, war Deutschland zu dieser Zeit der wichtigste Handelspartner Irans und ein Freund unter vielen. Auch heute noch ist Deutschland Irans wichtigster Handelspartner in der EU.
Der Mut der Familie Amini
Durch geheimdienstliche, gewaltsame und koloniale Repression bekämpft Iran Rojhelat (Ostkurdistan) seit Jahrzehnten. Auch im Fall von Jîna Amini versuchte der iranische Präsident Ebrahim Raisi, die Familie zu erpressen: Sie sollten sich ruhig verhalten, und der Staat werde sie unterstützen. Es war vor diesem Hintergrund unglaublich mutig von der Familie Amini, sich dem zu widersetzen, aus der Geschichte des kurdischen Widerstands heraus diesen Phrasen nicht zu glauben, offen über Jînas Ermordung zu reden und so die Herzen der Kurd*innen in ihrer Heimatstadt Seqîz (iranisch Saqqez), die Herzen der Menschen in ganz Rojhelat und schließlich in ganz Iran zu entflammen.
Keine Frage: Jetzt wird im ganzen Land protestiert, aber es ist der mehrschichtige Charakter der Unterdrückung der Kurd*innen, der so viel zusammengebracht hat, dass diese Proteste zum Flächenbrand werden konnten: Ethnische Unterdrückung, geschlechtliche Unterdrückung, religiöse Unterdrückung und nicht zuletzt eine extreme wirtschaftliche Ausbeutung, im Fall Kurdistans oder Belutschistans auch kolonial-wirtschaftliche Ausbeutung: Alle diese Quellen der Wut kamen zusammen, insofern spielt Jînas Herkunft durchaus eine Rolle, um die Ursachen des Aufstands zu verstehen. Die verschiedenen Unterdrückungsmechanismen, die die Person Jîna in sich trug, machten ihren Tod – wie es auf ihrem Grabstein steht – zu einem Symbol. Mehrfachdiskriminierung anzuerkennen, die Intersektion zwischen Geschlecht, Klasse und Nation zu begreifen, ist dabei nicht nur in Bezug auf Iran wichtig.
Die künftigen Protestbewegungen dieser Welt müssen diesem mehrschichtigen Bewusstsein folgen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Auch wenn sogar Linke anfangs die Geschehnisse in Rojhelat und Iran ignorieren wollten, weil diese auf vielen Ebenen nicht ihrem kulturalistischen und essenzialistischen Bild entsprachen, demzufolge ein jedes islamisches Land als Teil des globalen Südens als Opfer, aber nie als Täter zu sehen sei, wird gerade Geschichte geschrieben. Sowohl die Konstitution der kurdischen Autonomie in Irak 1991 als auch in Syrien 2012 entstand aus Momenten, in denen sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung und der Untergrundorganisierung ein Möglichkeitsfenster öffnete, Menschen dies erkannten und blitzschnell reagierten. Ob dies nun auch im iranisch besetzten Teil Kurdistans gelingen kann, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen. Doch schon jetzt zeigt die zeitweise Vertreibung der Sicherheitskräfte aus Ostkurdistan, aus Belutschistan und Iran der ganzen Welt den brennenden Wunsch danach.
Dastan Jasim
ist Politikwissenschaftlerin und Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies. Gerade ist sie in Sulaimaniya in der Kurdistan-Region Irak, wo sie Feldforschung zu ihrem Dissertationsprojekt über die politische Kultur von Kurd*innen durchführt.
Pedram Zarei
ist mehrsprachiger Übersetzter, Journalist und politischer Aktivist aus Rojhelat (Ostkurdistan). Er lebt seit vier Jahren als politischer Geflüchteter in Deutschland. Zu seinen Interessengebieten gehören die kurdische Frage, Kritische Psychologie und Kultursoziologie.[1]