#Thomas Schmidinger#
Kobanê. Vergangene Woche erhielten die kurdischen Kämpfer und Kämpferinnen in Kobanê unerwartete Unterstützung: Ausbildner der US-Army kamen in die Stadt, um die Soldaten der Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Soldatinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) zu unterstützen. Die Ausbildner aus den USA sollen nun hier die Kurden und ihre Verbündeten von der Freien Syrischen Armee (FSA) für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) vorbereiten. Damit verbünden sich die USA erneut mit jenen Kurden, deren Mutterpartei sowohl in der Ejavascript:__doPostBack('buttonSave','')U als auch in den USA als terroristische Organisation gilt. Das Nato-Mitglied Türkei hat noch vor Kurzem offen mit Luftschlägen auf der Seite des IS gegen die kurdischen Kämpfer und ihre Verbündeten von der FSA eingegriffen, als Letztere versuchten, die westlich von Kobanê gelegene Stadt Jarablus einzunehmen.
Von Kobanê ist die Frontlinie zum IS nur 50 Kilometer entfernt. Dort geht der Kampf gegen die Dschihadisten weiter, doch hinter der Front wird am Wiederaufbau jener Stadt gearbeitet, die vor einem Jahr vom IS verwüstet wurde. Nur wenige Gebäude hatten den Gefechten standgehalten, geschätzte 80 Prozent wurden zerstört. Auch die Infrastruktur war so gut wie ausgelöscht.
Eigener Lehrplan in Schulen
Seit Anfang Oktober gehen rund 5000 Kinder in Kobanê wieder zur Schule. 118 Schulen wurden seit der Rückeroberung des kurdischen Kantons im Norden Syriens wieder errichtet, von kleinen, einklassigen Dorfschulen bis zu mehrklassigen Volks- und Sekundarschulen in der Stadt. 264 Schulen sollen es am Ende werden, geht es nach den Plänen von Premierminister Enwer Muslim. Er führt die politischen Institutionen des Kantons seit dessen Ausrufung durch die Demokratische Unionspartei PYD im Jänner vergangenen Jahres.
Muslim und seine Regierungsmitglieder waren auch während der Belagerung Kobanês in der Stadt geblieben. Selbst als nur noch wenige Straßenzüge in der Hand kurdischer Kämpfer waren und bereits zwei Drittel der Stadt von den Dschihadisten des IS kontrolliert wurden, hatten sich die Regierungsmitglieder geweigert, aufzugeben. Heute gibt ihnen das die Glaubwürdigkeit, den Wiederaufbau der Stadt zu leiten.
Die Schulen, die der nächsten Generation eine Zukunft geben sollen, sind dabei eine zentrale Säule. Während in den anderen beiden kurdischen Kantonen bis heute nach dem Curriculum der syrischen Regierung auf Arabisch unterrichtet wird und Lehrer ihr Gehalt aus Damaskus beziehen, waren hier alle Schulen des Regimes zerstört worden. Mit dem Wiederaufbau in Eigenregie haben die Kurden nun die Möglichkeit, die Schulbildung selbst zu übernehmen. Im Gegensatz zu den Kantonen Efrin und Cizire werden Lehrende hier von kurdischen Behörden bezahlt, unterrichtet wird nach einem eigenen Curriculum: die ersten drei Jahre ausschließlich auf Kurdisch, danach auf Kurdisch, Arabisch und Englisch. Für die Tafelklassler sind bereits kurdische Schulbücher vorhanden, mit denen sie im Bedirxan-Alphabet alphabetisiert werden. Es ist auch in der Türkei gebräuchlich und basiert auf lateinischen Buchstaben.
Besuch aus Europa
Am 5. November war in einer der Schulen Kobanês ein besonderer Gast angesagt. Mit dem österreichischen SPÖ-Europaabgeordneten Josef Weidenholzer besuchte erstmals ein Mitglied des Europäischen Parlaments jene kurdische Stadt, die von Herbst 2014 bis Februar 2015 zum Symbol des Widerstands gegen den Islamischen Staat wurde. Ihr habt hier nicht nur für Euch gekämpft, sondern letztlich für uns alle!, weiß der aus Oberösterreich stammende Vizefraktionsvorsitzende der S&D-Fraktion den Kampf in Kobanê zu würdigen. Nun hätte Europa die Verpflichtung, den Wiederaufbau der Stadt zu unterstützen.
Dabei geht es nicht nur um materielle, sondern auch um politische Unterstützung: Sowohl Premierminister Enwer Muslim als auch sein Außenminister Ibrahim Kurdo betonen, dass die Grenze zur Türkei immer noch eines der größten Probleme für den Wiederaufbau darstellt. Seit es den Kämpfern der kurdischen Verteidigungseinheiten YPG und YPJ im Juni gelang, Tal Abyad zu befreien und damit zugleich einen der wichtigsten Nachschubwege des IS aus der Türkei abzuschneiden, steht der Stadt zwar auch ein umständlicher Zufahrtsweg über den Irak zur Verfügung. Die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Kurdenparteien führen allerdings immer wieder zu Unterbrechungen dieses Versorgungswegs. Ausschlaggebend dafür ist der Streit zwischen der in Syrisch-Kurdistan regierenden Demokratischen Unionspartei PYD - einer Schwesterpartei der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans PKK - und der in Irakisch-Kurdistan regierenden Demokratischen Partei Kurdistans PDK.
Vom Gast aus Europa wünscht man sich hier folglich, Europa möge Druck auf die Türkei ausüben, damit diese die Grenze für Hilfslieferungen, Waren und Menschen öffnen möge. Dabei war es schon erstaunlich, dass Weidenholzer und seine Begleiter überhaupt die Genehmigung der Türkei erhielten, die Grenze in Richtung Kobanê zu überschreiten. In den Monaten vor den türkischen Parlamentswahlen war dies weder Journalisten noch Politikern gelungen. Auch bei Weidenholzer hatte schließlich die türkische Parlamentsabgeordnete Feleknas Uca mitgeholfen. Die in Deutschland aufgewachsene Abgeordnete der linken und prokurdischen Demokratischen Partei der Völker HDP wurde im Frühling erstmals in das türkische Parlament gewählt. Die ehemalige EU-Abgeordnete der Deutschen Linken war zudem die erste Jesidin, die es jemals ins türkische Parlament schaffte. Im November wurde sie trotz Bedrohungen im Wahlkampf wieder gewählt.
In Kobanê selbst gibt es - anders als in den beiden anderen kurdischen Kantonen Syriens - keine jesidische Minderheit. Die Stadt hatte allerdings früher eine große armenische Minderheit. Bis in die 1960er Jahre existierten hier drei armenische Kirchen.
1915 waren rund 15.000 Armenier aus Sivas in ein Lager in der Nähe der späteren Stadt deportiert worden. In den politisch unruhigen 1960er Jahren mit der Hochphase des arabischen Nationalismus in Syrien wanderten die meisten davon in die Armenische Sowjetrepublik aus. In den 1950er Jahren hatte es noch zwei armenische Schulen gegeben. Die Avedis-Sarafian-Schule, die letzte armenische Schule der Stadt, schloss 1975 endgültig ihre Tore.
Im Herbst 2014 soll noch ein einziger Armenier in der Stadt gelebt haben. Wahrend der Kämpfe sollen dschihadistische Angreifer ihn erschossen haben.
Wiener Spital braucht Hilfe
Während Weidenholzers Besuch in Kobanê wurde auch das Wiener Spital des in Wien lebenden Chirurgen Ezzat Afandi besichtigt. Afandi, der 1979 zum Studium nach Wien gekommen war, hatte im Frühling 2014 all sein Geld, das er im Wilhelminenspital verdient hatte, zusammengeklaubt, um in seiner Heimatstadt ein Spital mit 34 Betten zu errichten. Nachdem der IS das Spital erobert hatte, mussten er und seine Mitarbeiter fliehen. Nach der Befreiung der Stadt war zwar das Haus noch weitgehend intakt, allerdings fehlten alle Geräte sowie die Inneneinrichtung. Nun erhofft sich Afandi Unterstützung aus Europa. Ihm selbst sind vom Spital lediglich Schulden geblieben.
Mittlerweile zeichnet sich ein Konflikt mit den kurdischen Behörden ab, die das Haus gerne selbst übernehmen würden. Als Kobanê im Februar 2015 endgültig befreit wurde, lagen große Teile der Stadt in Trümmern. Von den 450.000 kurdischen Bewohnern des Kantons waren außer einigen hundert Kämpfern fast alle in die Türkei geflohen. Die Meisten wurden in kleinen Lagern der kurdischen Gemeinden auf der anderen Seite der Grenze aufgenommen. Nun kehren sie nach Kobanê zurück. 180.000 Menschen sollen nach Angaben der Regierung bereits wieder in der Gegend leben. Jede Woche kehren 1500 bis 2500 Menschen nach Kobanê zurück. Jeden Dienstag und Donnerstag öffnet die Türkei die Grenze für Rückkehrer.
Schwer bepackte Rückkehrer
Doch die Rückkehr nach Kobanê ist eine Einwegstraße: Wer einmal zurückgekehrt ist, darf nicht mehr in die Türkei. Dementsprechend schwer bepackt sind die Kleinbusse und Kleinlastwagen, die sich die Rückkehrer für diesen Zweck in der Türkei geliehen haben. Alles, woran es in Kobanê mangelt, wird aus der Türkei mitgenommen. Ganze Wohnungseinrichtungen werden so über die Grenze gebracht.
Auf der anderen Seite herrscht geschäftiges Treiben, Kobanê ist keine leise Stadt. Überall wird gearbeitet. Schutt wird weggeräumt, Mauern zusammengeflickt und überall werden kleine Geschäfte und Werkstätten gegründet. Sogar ein Hotel gibt es mittlerweile in der Stadt. Schließlich will man Gäste beherbergen können, wenn es Journalisten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen einmal nach Kobanê schaffen.
Die seelischen Verletzungen der Bewohner werden derzeit noch von einer aktiven Geschäftigkeit verdeckt. Was diese Stadt in Zukunft noch zu bewältigen hat, wird vor allem an einem Ort sichtbar. Etwas außerhalb des zerstörten Stadtzentrums befindet sich ein ganz besonderer Friedhof, ein Ort der Trauer, nicht nur um die Toten, die hier begraben liegen: Es sind jene Menschen, die am 25. Juni ermordet wurden. Damals war der IS noch einmal zurück gekehrt. Ein Selbstmordkommando schaffte seinen Weg in die Stadt und tötete jeden, der ihm über den Weg lief. Die Botschaft der Dschihadisten: Der Terror kann jederzeit wiederkommen! Die Rückkehrer hoffen, dass es das letzte Mal war.[1]