Die Situation in der syrischen Grenzstadt Kobane ist dramatisch. Trotz der Luftschläge sind die Kämpfer des Islamischen Staats auf dem Vormarsch. Auf der türkischen Seite der Grenze wächst indes unter kurdischen Aktivisten der Ärger.
Es ist ein tiefes, lautes Rauschen, das den nächsten Angriff eines Kampfflugzeuges ankündigt. Am blauen Himmel ist die Maschine deutlich zu erkennen, sie zieht einen weiten Kreis. Dann ist es nur mehr eine Frage von Sekunden, bis die Bombe mit einem tiefen Knall einschlägt. Es folgt ein riesiger schwarzer Rauchpilz, der weit nach oben aufsteigt.
Der Luftangriff hat eine Stellung oder einen Panzer des Islamischen Staats (IS) getroffen. Beinahe im Minutentakt fallen die Bomben auf die Terrormiliz, die die syrische Grenzstadt Kobane mit allen Mitteln erobern will. Am 15. September starteten die Jihadisten eine Offensive. Sie sind nun ins Stadtzentrum vorgerückt. Der IS kontrolliert bereits etwa 40 Prozent des Ortes, der sich direkt an der türkischen Grenze entlangzieht. „Ohne die Luftunterstützung der internationalen Koalition könnten wir die Stadt nicht halten“, gibt Mahmud Beschar, der Regierungssprecher der autonomen Regierung der Region Kobane, zu. So bedrohlich die Lage auch ist, von einem Fall der Stadt an die Islamisten will der Regierungssprecher nichts wissen: „Kobane wird nie in die Hände der Terroristen fallen.“ Sollte es trotzdem passieren, wäre ein unvorstellbares Blutbad die Folge. „Abgesehen von den kurdischen Kämpfern gibt es noch 700 Zivilisten in der Stadt sowie 12.000 Menschen, die am Grenzzaun kampieren“, sagte Staffan de Mistura, der UN-Gesandte für Syrien. „Sie alle würden sehr wahrscheinlich massakriert werden.“
Von der Grenze aus kann man deutlich die Wohnhäuser und Straßen der seit Wochen umkämpften Stadt sehen. An manchen Stellen sind es nicht einmal 250 Meter, die die Todeszone in Syrien von der sicheren türkischen Seite trennen. Man hört verzweifelte Schreie, das unaufhörliche Knattern von Maschinengewehren, das dumpfe Grollen von Panzergranaten und kann das Mündungsfeuer von Flugabwehrgeschützen erkennen. Nach den Bombenangriffen der Kampfjets bebt der Boden unter den Füßen. Danach kommt der Rauch und der Gestank von verbranntem Material.
Müde liegen türkische Soldaten in einem Weiler an der Grenze im Gras und ziehen gelangweilt an ihren Zigaretten. Die Schutzwesten und Helme haben die jungen Männer bei knapp 30 Grad im Schatten längst abgelegt. Vom Kampfgetümmel auf der anderen Seite lassen sie sich nicht im Geringsten stören. Dösend schlagen die Soldaten einfach die Zeit tot bis zur nächsten Wachablöse. „Das ist völlig krass hier“, meint Servan, ein deutscher Sympathisant der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), deren Milizen in Kobane gegen die radikalen Islamisten kämpfen. „Statt zu helfen, liegen die Türken hier herum, während auf der anderen Seite die Menschen abgeschlachtet werden.“ Servan ist mit seinen zwei Freunden, Cesur und Bercin, aus Münster und Bielefeld ins Grenzgebiet gereist. Sie haben eine Woche Urlaub genommen, um mit Spenden aus Deutschland kurdischen Flüchtlingen zu helfen. „Die Türken machen ohnehin gemeinsame Sache mit dem IS“, fügen Bercin und Cesur überzeugt an. Diesen Vorwurf bekommt man von kurdischer Seite immer wieder zu hören. „Der IS und die Türkei sind ein Synonym“, sagt die kurdische Volksseele.
Der Ärger der Menschen ist verständlich. Das blutigen Drama in Kobane verschärft sich von Tag zu Tag. 200.000 Flüchtlinge leben im Elend, nachdem sie aus Angst vor den mordenden Horden des IS Heim und Herd panikartig verlassen haben. Und an der Grenze stehen die Panzer der türkischen Armee, ihre Rohre nach Syrien gerichtet. Bisher haben sie nicht einen einzigen Schuss abgegeben. IS-Kämpfer und ihre Militärfahrzeuge sind auf der anderen Seite vielfach leicht auszumachen. Das türkische Parlament hatte auch in einer Abstimmung der Regierung die Genehmigung für ein militärisches Eingreifen in Syrien gegeben. „Aber die machen nichts, gar nichts“, sagt Aktivist Cesur. „Die lassen die Kurden einfach untergehen.“
Rückzugsort für IS-Kämpfer? In der Stadt Şanliurfa, die etwa eine Fahrstunde von der Grenze entfernt liegt, soll es mehrere Unterkünfte für IS-Kämpfer geben. „Es sind sieben oder acht Häuser, in denen bis zu 120 Islamisten untergebracht sind“, erklärt Mehmed Kiliç, ein lokaler Journalist. „Das sind sichere Rückzugsorte oder auch Durchgangsstation für neue Kämpfer.“ Alle Gebäude seien streng abgeschirmt. Bisher konnte Kiliç nur die Besitzer von zwei Gebäuden ausmachen. Es sind Moscheenvereine. „Alle Männer in diesen Häusern tragen Islamistenbärte und diese langen pakistanischen oder afghanischen Hemden“, erklärt er. Vor zwei Jahren habe es noch keine große Geheimhaltung gegeben. „Damals liefen die al-Qaida-Leute, die zu Jabhat al-Nusra nach Syrien gingen, offen in der Stadt herum“, erinnert sich der Journalist aus Şanliurfa. „Es waren auch viel mehr.“ Vor einem Jahr habe sich dann alles geändert, als der IS aufgetaucht sei und für Furore sorgte. „Ich gebe Ihnen auch die Adresse eines Krankenhauses, in denen Verwundete der Terrorgruppe behandelt werden“, meint Kiliç und schreibt Straßennamen und Hausnummer auf ein Papier. „Dort sind im Durchschnitt immer zehn bis 15 Kämpfer in Behandlung.“ Das Krankenhaus ist eine staatliche Einrichtung, fährt Kiliç fort. Damit sei doch wohl klar, dass die türkische Regierung mit im Bunde sei. „Jeden Tag gibt es Hilfslieferungen, die über die Grenze bei Tell Abyad gehen“, fügt Kiliç an.
Es sollen Lkw der Organisation Internationale Humanitäre Hilfe (IHH) sein, die über die Grenze direkt in IS-kontrolliertes Gebiet fahren. Er wisse das aus sicherer Quelle, so Kiliç. „Ich habe einen Verwandten, der bei denen arbeitet.“ Die IHH, die in Deutschland seit 1998 verboten ist, wird vom türkischen Staat subventioniert; ihre radikal islamistische Ausrichtung ist kein Geheimnis. Bekannt wurde die Organisation durch die Hilfslieferung an Bord der Mavi Marmara in den Gazastreifen. Das Boot wurde von israelischen Spezialeinheiten geentert. Es gab Tote und Verwundete.
Für die die drei deutschen Kurden-Aktivisten ist das alles „Schnee von gestern“. „Uns muss über die Türkei niemand mehr etwas erzählen“, sagt Servan. „Wir wissen Bescheid, was für eine schmutzige Rolle sie spielt.“ Mit ihren 1100 Euro an Spenden aus Deutschland kaufen die drei Kochtopfsets und Wasser. „Das wird am nötigsten gebraucht, hat man uns gesagt“, meint Cesur, der bald studieren will. Am Montag müssen die drei wieder nach Deutschland zurückfliegen. In Kobane geht die Schlacht weiter.[1]