SERKAN DEMIREL GENF
Der französische Anthropologe Christian Bromberger sieht in der Losung „#Jin Jiyan Azadî# “ einen globalen feministischen Aufstand gegen die patriarchale Kontrolle über den weiblichen Körper – besonders sichtbar im Kampf gegen den Schleierzwang in Iran
Der französische Anthropologe Christian Bromberger sieht in der Parole „Jin Jiyan Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – weit mehr als nur eine Parole der Protestbewegung in Iran. Für ihn ist sie Ausdruck eines tiefgreifenden Widerstands gegen patriarchale Systeme, die versuchen, über den weiblichen Körper zu herrschen.
Im Gespräch mit ANF erklärt Bromberger, dass insbesondere das Kopftuch und die Kontrolle über das Haar von Frauen seit Jahrhunderten als Mittel patriarchaler Machtausübung dienen. „Die Bedeckung der Haare ist ein Mechanismus, mit dem männliche Herrschaft den Körper und die Freiheit der Frau kontrollieren will“, so der Professor der Universität Aix-Marseille.
In vielen Kulturen seien Frauenhaare sexualisiert worden – und dadurch zu einem Symbol geworden, das reguliert, verborgen oder unterdrückt werden müsse. In muslimischen Gesellschaften wie jene in Iran habe dies staatliche Formen angenommen: „Der Schleier ist dort kein individuelles Bekenntnis, sondern ein Zwangsmittel“, sagt Bromberger.
Kein religiöses Gebot im Koran
Entgegen verbreiteten Vorstellungen finde sich im Koran kein Vers, der Frauen explizit dazu auffordere, ihr Haar zu bedecken. „Das Verbot ist nicht göttlichen Ursprungs, sondern kulturell gewachsen“, betont Bromberger. In anderen Religionen gebe es ähnliche Entwicklungen. So sei es in Teilen der orthodoxen jüdischen Gemeinden Osteuropas ab dem 18. Jahrhundert verbreitet gewesen, dass verheiratete Frauen sich die Haare rasierten und Perücken trugen – als Ausdruck religiöser Schamhaftigkeit. In der christlichen Kunst wurde Maria ab dem 14. Jahrhundert zunehmend mit offenem Haar dargestellt, was Reinheit oder Ideal weiblicher Schönheit symbolisierte.
Widerstand gegen religiös-politische Kontrolle
Bromberger betont, dass der Widerstand gegen diese Formen der Kontrolle ebenso alt sei wie die Kontrolle selbst. Der Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 – nachdem sie von der iranischen Sittenpolizei festgenommen worden war – habe weltweit Empörung ausgelöst und eine neue Protestwelle entfacht.
„Der Schleier wurde zum Symbol der Unterdrückung, das Haar zum Symbol des Widerstands“, sagt Bromberger. Die Losung „Jin Jiyan Azadî“ sei dabei zum internationalen Ausdruck einer feministischen Revolte geworden – getragen von Frauen, die sich der religiösen und politischen Bevormundung widersetzen.
Auch in der Türkei: Politischer Druck auf Frauenkörper
Mit Blick auf andere Länder hebt Bromberger hervor, dass sich patriarchale Kontrollmechanismen in unterschiedlichen Formen zeigten – auch in der Türkei. Dort werde das Tragen des Kopftuchs zunehmend religiös-politisch aufgeladen und gefördert. „Auch hier wird das weibliche Erscheinungsbild zum Gegenstand staatlicher Einflussnahme“, so Bromberger.
Kämpferischer Wandel im kurdischen Kontext
Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Anthropologe der kurdischen Frauenbewegung. Diese habe in den vergangenen Jahrzehnten einen eigenständigen feministischen Weg eingeschlagen. Frauen aus Kurdistan kämpften – nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Ideen – gegen patriarchale Unterdrückung und für gesellschaftliche Veränderung. „Gerade hier hat ‚Jin Jiyan Azadî‘ eine tiefe Bedeutung erhalten“, sagt Bromberger. Dennoch sei auch in kurdischen Gesellschaften die Vorstellung vom weiblichen Haar als Objekt männlicher Begierde nach wie vor präsent. [1]