Die Christen hier-, die Muslime dahin: Vor 100 Jahren wurden Hunderttausende Griechen und Türkinnen umgesiedelt. Der Grund ist ein Friedensdeal – und der Brand einer heute vergessenen Weltmetropole.
Christiane Schlötzer
An der Küste zwischen Athen und dem Kap Sounion, dort, wo die Sonne den felsigen Boden ausdörrt, in einem baumlosen Land zwischen Berg und Meer, da kamen sie an. Ausgestossene, Frauen, Kinder, Alte. «Unfähig, ihr Schicksal noch länger zu ertragen», liessen sie sich auf dem harten Boden nieder. «Was haben wir getan», riefen sie, «um das zu verdienen?»
Ilias Venezis, einer der grossen griechischen Dichter, geboren 1904 im heute türkischen Ayvalik, hat die Form eines Romans gewählt, um von seinem eigenen Schicksal und von einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren griechisch-türkischen Geschichte zu erzählen: von der «Kleinasiatischen Katastrophe» 1922 und dem grossen «Bevölkerungsaustausch» zwischen Griechenland und der Türkei. Mindestens 1,6 Millionen Menschen wurden damals ihrer Heimat beraubt.
Ernest Hemingway hat als junger Reporter vor 100 Jahren die schier endlosen Trecks der Zwangsumgesiedelten für den Toronto Daily Star beschrieben: «Männer, Frauen, Kinder, Decken über den Köpfen, blindlings im Regen (…) eine stille Prozession (…) alles, was sie tun können, ist weiterlaufen.»
Idee in Lausanne entworfen
Die Staatenlenker, die sich diesen Menschentransfer ausdachten, trafen sich im Herbst 1922 im beschaulichen Lausanne, in der neutralen Schweiz. Dort entwarfen sie in monatelangem Ringen einen Vertrag, der Frieden bringen sollte, indem er Nationalstaaten schuf, in denen es keine bedeutenden Minderheiten mehr geben sollte. Für die «Konvention über den Bevölkerungsaustausch» galt daher nur ein Kriterium: die Religion. Nicht die Sprache, nicht der Geburtsort.
Für mindestens 1,2 Millionen anatolische Christen, egal, ob sie Türkisch sprachen oder Griechisch, hiess das: Sie mussten ihre seit Generationen vertraute Heimat aufgeben und nach Griechenland umsiedeln. Mehr als 400’000 Muslime mussten den umgekehrten Weg nehmen, von Griechenland in die Türkei. Auch sie liessen Dörfer, Städte, Äcker, Friedhöfe hinter sich. Diese massenhafte Zwangsumsiedlung, durch einen internationalen Vertrag legitimiert, war ein weltpolitisches Novum.
Neben den Regierungen von Griechenland und der Türkei, der Nachfolgerin des multiethnischen Osmanischen Reichs, unterschrieben am Ende der Konferenz im Juli 1923 auch Grossbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Rumänien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen diesen «Vertrag von Lausanne». Er beendete für immer griechische Grossmachtträume von einem neuen christlich-byzantinischen Reich und legte die bis heute gültigen Grenzen der Türkischen Republik fest – die einhundert Jahre später deren Präsident Recep Tayyip Erdogan nun infrage stellt, mit Ansprüchen auf griechische Inseln.
Nach «Lausanne» gab es in internationalen Konflikten öfter die Versuchung, auf das griechisch-türkische Beispiel zu verweisen. «Ethnic engineering» sei zu einer «vorstellbaren und verführerischen Option» für Machtpolitiker geworden, schreibt der aus Nordirland stammende Autor Bruce Clark in «Twice a Stranger» (Doppelt Fremd), einem Standardwerk über den Lausanne-Vertrag. Zweifel gab es auch schon zu Beginn.
«Eine durch und durch schlechte und bösartige Lösung, für die die Welt noch 100 Jahre lang büssen wird».
George Curzon, damaliger britische Aussenminister
Der britische Aussenminister George Curzon, massgeblich an den Verhandlungen beteiligt, nannte den Bevölkerungsaustausch «eine durch und durch schlechte und bösartige Lösung, für die die Welt noch einhundert Jahre lang büssen» müsse. Doch Curzon sah auch keine andere Option, nach mehr als einem Jahrzehnt der Kriege zwischen den Nachbarn.
Türkische Truppen in einem Lager bei Smyrna (heute Izmir) während des Griechisch-Türkischen Kriegs 1921-22.
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Aber wie sehen das die Erben von Lausanne heute? Was ist geblieben von den Fragen nach Identität, Heimat und Zugehörigkeit nach einem Jahrhundert?
«Das Thema ist hochsensibel», sagt George Manginis, Direktor des Athener Benaki-Museums, «das Trauma überspringt oft eine Generation.» Griechenland hat 2022 offiziell dem Gedenken an die «Kleinasiatische Katastrophe» gewidmet. Im angesehenen Benaki-Museum wurde am Donnerstag eine grosse Ausstellung eröffnet, die fünf Monate lang zu sehen sein wird. Kuratorin Evita Arapoglou kann auf 300’000 Seiten mit aufgezeichneten mündlichen Überlieferungen der ersten Generation zurückgreifen. «Diese Menschen haben so vieles verloren, und sie waren oft auch nicht willkommen», sagt die Historikerin. Griechenland mit damals nur 4,5 Millionen Einwohnern – heute sind es 10,7 Millionen – «war kein reiches Land», sagt Arapoglou.
Wie gross die Herausforderung war, zeigt ein griechischer Zensus von 1928. Er zählte 1,2 Millionen Vertriebene, meist aus Kleinasien (Anatolien), der Pontus-Region (am Schwarzen Meer) und Ostthrakien (europäischer Teil der Türkei). Zur Zeit des Zensus waren einige Zuwanderer aber bereits weitergezogen, bis Australien. So war die Zahl der Entwurzelten anfangs gewiss noch höher.
Diese brachten mit, was sie tragen konnten: Familienfotos, Ikonen, Reliquien aus den Kirchen, einige sogar die Gebeine ihrer Toten. «Auch meine Grossmutter und mein Grossvater kamen aus der Gegend von Smyrna», dem heutigen Izmir, sagt die Historikerin Arapoglou: «Diese Geschichten sind hier überall.»
Izmir galt einmal als «zweites Paris»
Sie leben auch in der chaotischen Stadtplanung von Athen fort, in den explosiv gewachsenen Vorstädten, die sich um das Zentrum legen. Zwischen fünf- und zehnstöckigen Apartmentblöcken finden sich noch heute ein paar winzige Häuschen mit kleinen Gärten, die an anatolische Dörfer erinnern. Sie wurden von kleinasiatischen Flüchtlingen gebaut. Inzwischen sind sie oft von syrischen oder nordafrikanischen Flüchtlingen bewohnt.
Auch die Namen vieler Athener Vorstädte bewahren die Erinnerung. Mit dem Wort Nea, griechisch für Neu, sind sie eine Reminiszenz an Orte, aus denen die Zuwanderer kamen: Nea Chalkidona, Nea Filadelfia, Nea Erythrea, Nea Ionia, Nea Smyrni. Nea Smyrni liegt im Süden der Metropole, nicht weit vom Meer.
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Es ist ein Quartier, in das sich Touristen eher selten verlaufen, aber sein Name ist Widerhall einer Welt, die am 13. September 1922 unterging. Der Brand von Smyrna zerstörte in vier Tagen einen grossen Traum und beendete einen langen Krieg.
Die ägäische Hafen- und Handelsmetropole Smyrna galt als «zweites Paris», von schwärmerischen Dichtern der französischen Romantik wurde sie als «Königin unter den Städten Anatoliens» gepriesen. Glanzvoll, reich, kosmopolitisch, multikulturell. 1922 waren gut die Hälfte ihrer etwa 313’000 Einwohner griechischer Herkunft, gefolgt von Türken, Juden, Armeniern und Levantinern, den Nachfahren italienischer und französischer Kaufleute. Der zeitgenössische Autor Lutz C. Kleveman nennt das alte Smyrna «eine globale Stadt», wie heute Dubai oder Singapur. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war man dort stolz auf 17 Kinos, 465 Kaffeehäuser und den ersten Golfplatz.
Am 9. September 1922, wenige Tage vor dem grossen Brand, zogen türkische Truppen in die Stadt ein. Sie vertrieben die letzten griechischen Einheiten, nach drei Jahren Besatzung. Eleftherios Venizelos, ab 1910 griechischer Premierminister, hing der Megali Idea an, der «grossen Idee» von einem Reich, in dem alle seit der Antike griechisch besiedelten Gebiete vereint sein sollten.
Das Osmanische Reich gehörte zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs. Da sah Venizelos seine Chance, seine nationalistisch-expansive Idee zu verwirklichen. Die griechische Offensive gegen Kleinasien hatte im Mai 1919 von Smyrna aus begonnen. Zum Zeitpunkt der griechischen Niederlage war Venizelos schon abgewählt und im Exil in Paris, die meisten Griechen hatten genug vom Krieg.
Anfangs wurde Griechenland von Frankreich und Grossbritannien unterstützt. Ihnen ging es vor allem um die Schwächung des Osmanischen Restreichs, dessen arabische Gebiete im Nahen Osten sie sich untereinander aufteilten. Den Türken sollte nur Zentralanatolien bleiben. So legte es 1920 der «Vertrag von Sèvres» fest. Dagegen mobilisierte Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, seine nationale Widerstandsbewegung.
Im August 1921 versuchten griechische Truppen noch bis Ankara vorzudringen, ein Jahr später wurden sie von den Türken vernichtend geschlagen. Für die Türkei ist der «Befreiungskrieg» bis heute das identitätsstiftende Ereignis. Das «Diktat von Sèvres» war damit vom Tisch. In Lausanne wurde ein neuer Friedensvertrag geschrieben.[1]