#Ayoub Barzani#
Übersetzung: Carlotta Caviola-Schucany
Es war, und es war auch nicht. Es waren einmal unter den Kurden ein Yezide und ein Mullah.
In dem Dorf, in dem Yeziden und Muslime gemeinsam le- ben, steht inmitten des Dorfplatzes ein blühender Baum mit präch- tigem Blattwerk.
Jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, schreitet ein Yezide um den Baum und spricht dabei seine Gebete. Ein Mullah, der eben ins Dorf gezogen ist, um der muslimischen Gemeinde vor- zustehen, beobachtet ihn dabei.
Bereits am nächsten Abend nimmt er seine Axt zur Hand und nähert sich dem Yeziden.
Höre, Yezide, der du Bäume vergötterst!, ruft er ihm zu.
,,Weißt du nicht, dass nur Gott anbetungswürdig ist, er allein,
und nichts und niemand neben ihm? Ich werde diesen Baum fäl-len Nichts dergleichen wirst du tun!, antwortet der Yezide.
..Das werden wir ja sehen!
Und schon balgen sie sich auf der Erde herum, bis schliesslich der Mullah den Yeziden am Schlafittchen zu packen bekommt, zu Boden drückt und erklärt: Gleich schlage ich dir
den Kopf ab, und danach haue ich den Baum um! Nein, Mullah, verschone mich! Höre zuerst, was ich dir
zu sagen habe. Jeden Morgen werde ich ein Stück Gold auf dein Fenstersims legen. Bedenke, was du dir entgehen lässt, wenn du mich tötest oder den Baum fällst. ..Sprichst du auch die Wahrheit?, fragt der Mullah nach kurzer Bedenkzeit.,,Du willst mir wirklich jeden Tag ein Goldstück geben?
..Die reine Wahrheit!
Nun gut, steh auf und troll dich. Dem Baum soll nichts geschehen. Am nächsten Morgen findet der Mullah tatsächlich ein glän-
zendes Goldstück auf seinem Fensterbrett. So vergehen die Monate: Jeden Tag legt der Yezide getreulich ein Goldstück bereit, der Mullah seinerseits gewöhnt
sich daran, wird reicher und reicher und führt ein süsses Leben. Nach Ablauf eines Jahres aber, als der Mullah die Hand nach dem morgendlichen Goldstück ausstreckt, findet er das Fens- terbrett leer. Wutentbrannt wartet er die Abenddämmerung ab, greift nach seiner Axt und macht sich auf die Suche nach dem Yeziden, der wie gewohnt seine Kreise um den Baum zieht. Der Yezide indessen unterdrückt ein Lächeln, als er den schnauben- den Mullah kommen sieht. Und als jener die Axt hebt, um sie in den Baum zu schlagen, heisst ihn der Yezide einhalten:,,Du wirst diesen Baum nicht fällen!
,,Aber sicherlich! Zuerst schlage ich den Baum um, danach töte ich dich. Denn du hast es versäumt, mir mein Goldstück aufs Fensterbrett zu legen!
Wieder hebt der Mullah seine Axt, um sie in den Stamm des Baumes zu senken. Doch der Yezide hindert ihn daran und schon nehmen sich die beiden Gegner am Kragen. Doch im Ge- gensatz zum vergangenen Jahr, gewinnt diesmal der Yezide die Oberhand und der Mullah räumt erstaunt seine Niederlage ein.
,,Ich verstehe das nicht, wundert er sich.,,Letztes Jahr war ich dir bei weitem überlegen. Sag mir, bevor du mich tötest, wie du mich jetzt so einfach hast besiegen können!
,,Einfältiger Mullah! Letztes Jahr schlugst du dich für dei- nen Glauben. Aus ihm schöpftest du deine Kraft, dank ihm warfst du mich zu Boden. Doch heute kämpfst du um des Reichtums willen. Wisse, das Gold, das ich dir gab, hat dich schwach wie ein hilfloses Kleinkind gemacht, und ein solches zu besiegen, ist mir gewiss ein Leichtes![1]
1.A.B.Barzani.Erzählungen aus dem Zweistromland.edition Orient-Realites.Geneve.2004.