Der Vertrag von Sèvres besiegelte vor 100 Jahren das Schicksal des Osmanischen Reichs. Schon Atatürk verhandelte neue Grenzen. Doch Erdogan erhebt noch größere Gebietsansprüche – und beruft sich auf das osmanische Erbe. Ist eine Wiedergeburt denkbar?
Kapitel 1: Der Vertrag
10-08- 1920, #Sèvres# bei Versailles. In einem Ausstellungsraum der berühmten Porzellanmanufaktur warten die Vertreter der Siegermächte des ersten Weltkriegs auf die osmanische Delegation aus Istanbul. Fast zwei Jahre waren nach dem Waffenstillstand von Mudros vergangen, der die Kämpfe zwischen dem britischen Empire und dem osmanischen Reich beendete, zwei Jahre Verhandlungsmarathon in Versailles und Paris.
„Also es gab eben diese große Friedenskonferenz in Paris, an der nur die Alliierten beteiligt waren“, sagt die Historikerin Ellinor Morack. „Also die Verlierer-Mächte haben nicht mitverhandelt.“
Die Verlierer-Mächte: neben dem deutschen Reich und Österreich-Ungarn gehörte das osmanische Reich dazu. In der Serie „Vatanim Sensin“ – Meine Heimat bist Du – wurde die Szene für das türkische Fernsehpublikum vor ein paar Jahren nachgestellt.
Die dreiköpfige Delegation aus Istanbul unterschreibt mit niedergeschlagenen Gesichtern.
„Möge meine Unterschrift Frieden bringen!“ – In der Filmszene wird der fromme Wunsch dem Istanbuler Diplomaten, Mediziner und Philosophen Riza Tevfik in den Mund gelegt. Ein Wunsch der sich nicht erfüllte. Der Vertrag, sagt Morack, „letztendlich wird der als Totgeburt bezeichnet.“
Zerbrechlicher als das Porzellan, das in dem Saal ausgestellt wurde, denn der Vertrag wird von Konstantinopel unterschrieben, nicht von Ankara. In der türkischen Fernsehserie, erkennt der britische Außenminister George Curzon den Schwachpunkt.
Ankara – das war die anatolische Kleinstadt, in der seit dem Frühjahr 1920 die sogenannte „große Nationalversammlung“ tagte – einberufen von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, quasi als Gegenregierung zum Kabinett des Sultans in Konstantinopel. Dessen Macht bestand nur noch auf dem Papier.
Sèvres schreibt die Aufteilung des Riesenreiches fest
Die Hauptstadt des Reichs: Besetzt von den Siegermächten, die Provinzen im Osten und Süden, von Mekka bis Kairo, von Damaskus bis Bagdad: Unter französischer und britischer Kontrolle. Izmir und die Ägäisküste: Besetzt von griechischen Truppen. Der Friedensvertrag von Sèvres schreibt die Aufteilung des Riesenreiches unter den Weltkriegs-Siegern fest.
„Die letzte Zuckung des Imperialismus!“, nennt die Turkulogin und Historikerin Ellinor Morack das Vertragswerk. „Gestern war ein unglückseliger Tag für unser Land. Die Abgesandten der Regierung in Istanbul unterschrieben den Papierwisch von Sèvres ohne mit der Wimper zu zucken.“
Diese Zeitungsschlagzeile, die da in der Fernsehserie „Vatanim Sensin“ von einer Kinderstimme vorgelesen wird, stellt Riza Tevfik und seine Kollegen als die Verräter dar, als die sie später von Atatürks Regierung gebrandmarkt wurden.
Dabei blieb ihnen keine Wahl, sagt Ellinor Morack: „Die Sultansregierung 1920 war natürlich in keiner Weise in der Lage, das abzulehnen. Was hätten sie denn machen sollen? Sie hatten auch selber gar keine richtige Kontrolle mehr über ihre Armee, weil das, was davon übrig war, schon im Dienste der Kemalisten dabei war dagegen Krieg zu führen“ – gegen die scharfen Vertragsbedingungen.
Ihnen zufolge fallen der Großteil Thrakiens mit Edirne und die Küste entlang der Ägäis an Griechenland, Urfa, Mardin an Frankreich, und West-Anatolien an Italien. Ost-Anatolien wird unter den neu zu gründenden Staaten Armenien und Kurdistan aufgeteilt.
Konstantinopel wird unter internationale Verwaltung gestellt. Frankreich und England teilten die Gebiete, die heute Irak, Syrien, Jordanien, Libanon und Israel heißen, untereinander auf.
„Vatanim Sensin“ ist eine der zahlreichen Fernsehserien mit historischem Hintergrund, die in den letzten 10 Jahren in der Türkei produziert wurden: Schauplatz der Familiensaga in 59 Folgen ist das von den Griechen 1919 besetzte Smyrna oder Izmir.
Im Zentrum steht die frei erfundene Liebesgeschichte zwischen der türkischen Widerstandskämpferin Hilal und dem griechischen Offizier Leonidas. Die Szene in Sèvres allerdings entspricht mehr oder weniger den historischen Tatsachen. In der Türkei ist der Vertrag bis heute Schulstoff.
„Was wir damals gelernt haben? Es gab einen Krieg und Sèvres war eine Katastrophe für uns“, erinnern sich Belma Bağdat und ihr Mann, der armenische Kabarettist und Publizist Hayko Bağdat an ihren Geschichtsunterricht. „Und dann hat Atatürk unser Land gerettet und jetzt haben wir eine wunderschöne freie Heimat, errichtet auf den Gräbern der Armenier.“
Vertrag von Sèvres als Schreckensbild
Den Vertrag von Sèvres, sagt Ellinor Morack, „das lernt jedes Kind in der Schule in der Türkei eben als Schreckensbild!“ Die Historikerin spricht vom „Sèvres-Syndrom“. „Das wird heute in der Politikwissenschaft verwendet, um eben diese Vorstellung zu bezeichnen, dass damals die Großmächte und heute der Westen oder einfach alle anderen Länder nur darauf warten, Anatolien unter sich aufzuteilen“, sagt sie.
„Es ist diese Vorstellung, die bis heute tatsächlich auch von weiten Teilen der nationalkonservativen und der nationalistischen Kräfte geteilt wird. Und wenn man sich den Vertrag von Sèvres anguckt, kann man sagen, die haben ja recht gehabt. Also da gab es ja tatsächlich den Versuch, das Land aufzuteilen. Was dabei nur immer vergessen wird: Er war sowieso schon nicht durchsetzbar, als er unterschrieben wurde.“
Franzosen und Briten waren kriegsmüde und in Ankara organisiert Atatürk mit den Resten der osmanischen Truppen den Widerstand. Neun Tage nach der Unterzeichnung erklärt die große Nationalversammlung alle, die im Kronrat des Sultans für den Vertrag gestimmt hatten, zu Hochverrätern. Zwei Jahre später setzte dasselbe Parlament den letzten Sultan Vaheddin ab, rückwirkend zum Jahr 1920.[1]