Als es plötzlich nach süßen Äpfeln roch, wussten die Menschen, da stimmt etwas nicht. Saddam Hussein setzte an diesem Frühlingstag im Nordirak eine neue Waffe ein: Giftgas. 25 Jahre nach dem Massenmord sind die Folgen längst nicht zu überblicken.
Von Theresa Breuer
13.04.2013
Halabja war eine Stadt der Künstler und Intellektuellen. Bis in die 80er Jahre sind Frauen hier in kurzen Röcken und ohne Kopftuch aus dem Haus gegangen. Das ist vorbei. Heute gilt Halabja als konservative Stadt, selbst junge Mädchen sind schon vollständig verschleiert. Während es in anderen Gegenden im Nordirak Alkohol zu kaufen gibt, ist das in Halabja nicht möglich. Die liberalen Bewohner, die es an diesem Ort noch gehalten hat, beklagen, dass der Einfluss der Islamisten immer stärker werde.
Omar Mohammed Kadir ist einer von ihnen, ein Intellektueller. Und er sieht die Veränderung mit Sorge. „In Halabja gibt es über 200 Moscheen“, sagt er, „aber nicht ein einziges funktionierendes Krankenhaus.“
Kadir hat im nahe gelegenen Suleymaniyah Theaterwissenschaften studiert. Und er hat mehrere Bücher über den Tag geschrieben, der Halabja verändert hat. Der 16. März 1988. Tage vorher hatte Diktator Saddam Hussein damit begonnen, die kurdische Stadt zu bombardieren. Doch an diesem Märztag setzt er eine neue Waffe ein. Sie zieht als weiße, schwarze und gelbe Rauchschwaden durch die Stadt.
Als dies geschieht, sitzt Akram Mohammed Mahmud mit seiner Familie im Keller. Er ist elf Jahre alt und schon den dritten Tag in Folge hier unten. Er kann hören, wie Saddam Husseins Truppen immer wieder Bombenangriffe auf die Stadt fliegen. Es ist Mittagszeit, gerade will die Familie essen, da stimmt irgendetwas nicht. Es riecht nach süßen Äpfeln. Sie fliehen nach draußen, wollen wissen, was geschieht. Mahmud sieht den Nachbarsjungen vor seinen Augen zusammenbrechen. Akram Mahmuds Haare fühlen sich an, als würden sie brennen, er muss sich übergeben. Seine Mutter presst dem Elfjährigen ihren Schal auf Mund und Nase. „Wir müssen hier weg“, schreit jemand. Ein Mann hievt den Jungen auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks.
Halabja liegt nur 15 Kilometer von der iranischen Grenze entfernt. Zuerst beschießen die irakischen Mirage-Jets damals die Wege in den Iran mit Gas, um den Menschen die Flucht zu erschweren. Etwa 5000 von ihnen, überwiegend Zivilisten, sterben innerhalb weniger Minuten, 10 000 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Jetzt jährte sich das Massaker zum 25. Mal.
Deshalb steht Mahmud, heute 36 Jahre alt, wieder neben dem weißen Dodge Pick-up. Der Wagen steht vor dem Halabja Monument, die Gedenkstätte ähnelt einer eisernen Faust, die in den Himmel ragt und soll an die Angriffe von 1988 erinnern. Mahmud arbeitet seit einigen Jahren hier, führt Besucher durch die Ausstellungsräume und erzählt seine Geschichte. Berichtet, wie sich über 40 Menschen damals auf der Ladefläche des Pick-ups drängen, der auch die Mahmuds aus der Stadt bringen soll. „Immer wieder fielen die Menschen vom Auto“, erinnert er sich, „manche waren gelähmt, konnten sich nicht bewegen.“ Der Fahrer hält immer wieder an und legt die Leute auf die Ladefläche zurück. Unermüdlich. Keinen will er zurücklassen. Bis er selbst hinter dem Steuer zusammensackt und gegen eine Mauer fährt. Sie haben es nicht einmal bis zur Stadtgrenze geschafft.
Als ein iranisches Hilfsteam den Wagen einen Tag später entdeckt, steckt der Schlüssel noch in der Zündung. Die Helfer bringen die Überlebenden in ein Krankenhaus im Iran. Wie viele es sind, weiß Akram nicht mehr. „Wenige“, sagt er, „sehr wenige.“ Seine Mutter, sein Vater, seine drei Brüder – sie sind da bereits tot.
Die Namen jener, die die Angriffe nicht überlebt haben, stehen im Inneren des Monuments, grau geätzt auf schwarzen Stein. Über der Decke ist die kurdische Flagge gespannt, die sich rot, weiß und grün in den Steinen spiegelt. In den Nebenräumen verleihen Farbfotografien dem abstrakten Grauen ein Gesicht. Sie zeigen Menschen mit aufgerissen Mündern und Augen, die Körper verkrümmt, die Finger im Krampf erstarrt. Manchen läuft Blut aus Mund und Nase, manchen grüner Schleim, einige haben Blasen auf der Haut, als seien sie verbrannt. Am Stadtrand, in der Mitte eines Kreisverkehrs, steht zudem eine Bronzestatue. Sie zeigt einen Mann, der sich schützend über ein Kind wirft. Es ist die Nachbildung eines bekannten Fotos, das nach den Angriffen gemacht wurde.
Auf dem Friedhof der Stadt reihen sich hunderte Grabsteine aneinander. Mal steht ein Name, mal stehen mehrere Namen darauf, ganze Familien wurden damals ausgelöscht. Die Steine stehen symbolisch für die wenige Meter entfernt in Massengräbern bestatteten Opfer. 1500 Leichen liegen da zusammen unter der Erde. Während des Krieges war es nicht möglich, die Menschen zu identifizieren und einzeln zu beerdigen.
Der kurdische Norden des Irak ist wohl die einzige Region, in der die Menschen dankbar für die Invasion der Amerikaner 2003 sind. In beinahe jedem Buchladen liegt eine Ausgabe der Autobiografie von George W. Bush in kurdischer Sprache aus. Saddam Hussein war hier so verhasst, dass die Kurden einfach nur froh sind, dass er weg ist. Egal wie.
In den Kellern hat sich das Gas gestaut und ist noch heute tödlich
Dasselbe gilt für Ali Hassan al-Majid, besser bekannt als „Chemical Ali“. Der Cousin von Saddam Hussein war gegen Ende des Iran-Irak-Krieges Gouverneur der nordirakischen Provinzen und soll die Giftgasangriffe 1988 angeordnet haben. Nach der Invasion der Amerikaner wurde er verhaftet und wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord angeklagt. Im Januar 2010 hat ihn ein irakisches Gericht zum Tode verurteilt und wenige Tage später gehenkt. Der Strick, der al-Majid das Genick gebrochen hat, ist heute im Monument von Halabja ausgestellt, darüber ein Foto des Mannes.
„Wir hätten niemals gedacht, dass Saddam zu so etwas fähig ist“, sagt Akram. Es gingen 1988 zwar Gerüchte in der kurdischen Bevölkerung um, dass ein Angriff mit chemischen Waffen bevorstehen könnte. Geglaubt habe es aber kaum jemand, sagt Akram. „Auch wenn die Kurden und Saddam ein schlechtes Verhältnis zueinander hatten – wir waren doch immer noch auch sein Volk.“
Wie wenig das zählt, hatte zuvor bereits der syrische Diktator Hafez al Assad demonstriert. 1982 setzte er Giftgas gegen die von Aufständischen beherrschte Stadt Hama ein mit 10 000 bis 40 000 Toten.
Das begründet die Angst, dass Assads Sohn Bashar nun abermals zu Giftgas greifen könnte, um die aufsässige Bevölkerung so stark zu demoralisieren, dass sie abgeschreckt wird, sich weiter gegen das Regime aufzulehnen. Auch Saddam Hussein wollte an Halabja ein Exempel statuieren. In der letzten Phase des Iran-Irak- Krieges waren iranische Truppen über die Grenze gekommen und dort von den Kurden als Befreier empfangen worden. Die wurden daraufhin endgültig als Feinde Bagdads angesehen und so heftig angegriffen wie der Hauptgegner Iran.
Mehrere Staaten, darunter Schweden, Großbritannien, Norwegen und Kanada, erkennen die Ereignisse des 16. März inzwischen als Völkermord an. Deutschland gehört nicht dazu. Noch immer ist die Rolle, die deutsche Firmen bei der Produktion von chemischen Waffen im Irak spielten, umstritten. Bekannt ist, dass deutsche Unternehmen in den 80er Jahren beim Bau und bei der Ausrüstung von Giftgasfabriken im Irak mitgeholfen haben. Es ist jedoch schwer nachzuweisen, ob die Unternehmen gewusst haben, was Saddam in den Fabriken herstellt. In den 90er Jahren wurde gegen 22 Beschuldigte strafrechtlich ermittelt, die meisten Verfahren wurden eingestellt. Die Taten waren zum Teil verjährt. Das wäre anders, wenn die Bundesregierung die Ereignisse als Völkermord anerkennen würde.
Wie stark die Angriffe die Einwohner bis heute belasten, weiß Omar Mohammed Kadir, der Autor und Theatermann, gut. Er führt regelmäßig Interviews mit Betroffenen. „Es fehlt ihnen an medizinischer und psychologischer Betreuung“, sagt er. Viele Menschen haben gesundheitliche Probleme, ihre Sehkraft ist beeinträchtigt, andere haben Hautkrankheiten und Atembeschwerden. In einigen Kellern der Stadt befinden sich außerdem noch sogenannte „Taschen“ mit Senfgas. Es ist schwerer als Luft und setzt sich deshalb in den Kellern fest. So kommen bei Bauarbeiten immer wieder Menschen ums Leben. Der Großteil der Bevölkerung fühlt sich von der Regierung allein gelassen.
Es gibt kaum Studien über die Langzeitfolgen des Giftgases auf die Menschen und die Böden in der Region. Erst langsam kommen Maßnahmen in Gang, der Bevölkerung vor Ort angemessen zu helfen. Ein britisches Expertenteam diskutiert derzeit mit der kurdischen Regierung, wie man etwa die verseuchten Keller in Halabja dekontaminieren kann. Es will außerdem untersuchen, welche Gasgemische Saddam Hussein tatsächlich verwenden ließ. Bisher ist bekannt, dass es Senfgas, Sarin und Tabun waren. Die genaue Zusammensetzung ist unerforscht.
Einige Monate nach den Giftgasattacken fuhr Kadir mit einem Freund in die verwaiste Stadt, um den Familienbesitz des Freundes abzuholen. Das Haus war geplündert worden, doch die Leichen lagen noch immer auf den Straßen. „Wir hatten kein Wasser dabei und wollten welches aus dem Brunnen schöpfen“, erinnert sich Kadir, „aber als wir in den Brunnen schauten, lagen darin verweste Leichen.“
Seitdem kämpft er gegen das Vergessen, spricht mit Zeitzeugen. Aber er sagt auch: „Viele Menschen hier haben das Gefühl, dass die Toten wichtiger geworden sind als die Lebenden.“ An den Toten entlud sich dann plötzlich der Zorn, als im März 2006 einige tausend aufgebrachte Bewohner vor dem Monument in Halabja randalierten und es in Brand setzten. Bei den Ausschreitungen wurde ein Demonstrant von der Polizei erschossen, als sie in die Menge feuerte.[1]