Die festgenommenen Teilnehmer:innnen der 900. Mahnwache der Samstagsmütter sind wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Nach ihrer Entlassung kündigten sie an, für den Galatasaray-Platz als Gedenkort für die „Verschwundenen“ kämpfen zu wollen.
Der Großteil der Öffentlichkeit in der Türkei verbindet den Galatasaray-Platz am Rande der Istanbuler Einkaufsmeile Istiklal Caddesi mit den „Samstagsmüttern“. Seit 1995 protestieren die Mitglieder der Initiative Woche für Woche gegen das „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam und fordern Aufklärung über das Schicksal ihrer Angehörigen, die von Sicherheitskräften verschleppt wurden und nie wieder auftauchten. Geschätzt 17.000 Menschen, darunter Journalist:innen, Politiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen, „verschwanden“ in den achtziger und neunziger Jahren, vor allem in den kurdischen Regionen. Ihre Leichen wurden in geheime Massengräber auf Militärstützpunkten, aber auch auf Müllkippen oder in Brunnenschächte geworfen. Weder Polizei noch Justiz haben Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen.
Ab 1999 mussten die Samstagsmütter ihre Mahnwachen aufgrund zunehmender Polizeigewalt für einige Jahre aussetzen. Erst 2009, zehn Jahre später, konnten die Sit-ins wieder aufgenommen werden. Die AKP ließ die Samstagsmütter zunächst gewähren, selbst als Protestaktionen auf der Istiklal Caddesi im Zuge des Gezi-Widerstands 2013 verboten wurden. Doch mit der Anschuldigung einer „Nähe“ der Initiative zur PKK untersagte der von der Regierung in Ankara eingesetzte Gouverneur Istanbuls im August 2018 die 700. Mahnwache der Samstagsmütter. Seitdem gilt der Galatasaray-Platz auch für sie als Sperrgebiet. Bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie verlegten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins deshalb in eine Seitenstraße vor das Gebäude des Menschenrechtsvereins IHD. Im Zuge der Corona-Pandemie trugen sie ihre Forderungen schließlich online vor.
Anlässlich der 900. Kundgebung wollten die Samstagmütter gestern wieder auf den Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium ziehen. Ein Trupp türkischer Aufstandspolizisten löste die Versammlung jedoch auf und führte Festnahmen durch. Neben Hanife Yıldız, İkbal Eren, Besna Tosun, Maside Ocak, Hasan Karakoç, Mikail Kırbayır und Ali Ocak, Angehörige von Verschwundenen und Ermordeten, wurden auch die beiden Ko-Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin und Öztürk Türkdoğan, sowie die Menschenrechtlerin Gülseren Yoleri, der Journalist Arat Dink und die Rechtsanwält:innen Jiyan Tosun, Jiyan Kaya und Davut Aslan vorübergehend in Gewahrsam genommen. Nach einigen Stunden in dem als Folterzentrum berüchtigten Polizeipräsidium Vatan sind alle wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Vor dem IHD-Gebäude wurden sie mit Applaus empfangen.
Der Galatasaray-Platz ist ein Gedenkort
„Wir werden den Galatasaray-Platz nicht aufgeben. Denn dieser Platz gilt uns als Gedenkort für die Opfer des Verschwindenlassens und den Kampf ihrer Angehörigen“, sagte Öztürk Türkdoğan und verurteilte das polizeiliche Vorgehen gegen die Samstagsmütter. Dies sei das Abbild der „Willkürherrschaft der Regierung, die autoritär handelt und der Gesellschaft eine Verbotspraxis auferlegt“. Man dulde keine Polizisten und Regierungsvertreter, die sich über dem Gesetz glaubten. „Alle Menschen in diesem Land haben das grundsätzliche Recht, sich ‚ohne Anmeldung oder Erlaubnis‘ friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Der Widerstand für den Erhalt dieses Gedenkortes wird deshalb ohne Unterbrechung fortgesetzt“, sagte der IHD-Vorsitzende. Die Polizei hatte die Auflösung der Mahnwache mit dem vom Istanbuler Gouverneur erteilten Demonstrationsverbot begründet.
Entschuldigung gefordert
Die Menschenrechtsaktivistin Ümit Tekay Dişli, die zum IHD-Vorstand gehört, sieht in der gewaltsamen Auflösung des gestrigen Sit-ins einen Versuch, „die Wahrheit zu verschleiern und das Streben nach Gerechtigkeit zu behindern“. Die Samstagsmütter kämpften seit Jahrzehnten mit ihrer Erinnerungsarbeit darum, an das durch den Staatsterrorismus zu verantwortende „erzwungene Verschwinden“ zu erinnern und die Regierung zu veranlassen, die Täter zu ermittelt und zu bestrafen. „Doch die Antwort auf dieses Anliegen ist Gewalt. Das werden wir nicht akzeptieren. Wir verlangen eine Entschuldigung der Verantwortlichen.“[1]