#Ronya Othmann# erzählt in Die Sommer von den Ferien bei einer jesidischen Großmutter, der Flucht aus einem syrisch-kurdischen Dorf - und wie man aufwächst während Nachrichten vom Genozid eintreffen.
Von Kristina Maidt-Zinke
Mit einem bestürzenden Text über das IS-Massaker an kurdischen Jesiden in Syrien im August 2014 gewann Ronya Othmann im vorigen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Vorausgegangen war eine Jurydiskussion über Zeugenschaft und Sagbarkeit, Authentizität und Fiktionalität und über die Frage nach der Zuständigkeit der Literaturkritik für den Versuch, aus Berichten und Dokumenten ein Protokoll des Schreckens zu destillieren. Jetzt legt die Autorin, als Tochter einer Deutschen und eines Kurden mit jesidischem Hintergrund 1993 in München geboren, unter dem Titel Die Sommer ihren ersten Roman vor, der die damaligen Debattenthemen in Erinnerung ruft und sich zugleich entschieden über sie erhebt.
Ronya Othmann, die am Literaturinstitut Leipzig studiert und auch als Journalistin arbeitet, hat den Sprung von der literarischen Reportage zum Erzählen bewältigt: Die Form, die sie gefunden hat, um eine Biografie zwischen zwei Kulturen in ihren bereichernden wie erschütternden Aspekten zu schildern, spricht nun ganz einfach für sich. Sie ist geeignet, einen Abgrund zu überbrücken, den auch politische Information und menschliches Engagement oft nur schwer überwinden können, weil es an lebendiger, sinnlicher Einfühlung in die Erfahrungswelt der Betroffenen fehlt.
Leyla trägt viele wiedererkennbare Züge der Autorin
Jeden Sommer, so beginnt die Erzählung, flogen sie in das Land, in dem der Vater aufgewachsen war. Das Land hatte zwei Namen. Der eine stand auf Landkarten, Globen und offiziellen Papieren. Den anderen Namen benutzten sie in der Familie. Beiden Namen, heißt es weiter, könne man jeweils eine Fläche zuordnen, und zwischen den beiden gebe es Überschneidungen. Das eine Land war Syrien, die Syrische Arabische Republik. Das andere war Kurdistan, ihr Land. Kurdistan lag in der Syrischen Arabischen Republik, reichte aber darüber hinaus. Es hatte keine offiziell anerkannten Grenzen. Der Vater sagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des Landes waren, dass sie aber trotzdem nur geduldet waren und oft nicht einmal das.
Der schlichte, fast schulbuchartige Einstieg klärt Verhältnisse, die sich im Trommelfeuer der Nachrichten aus jener Konfliktzone den wenigsten Menschen wirklich eingeprägt haben dürften. Die wenigen Sätze wecken das Bedürfnis, sich das historische Siedlungsgebiet der Kurden nochmals (oder auch erstmals) auf der Landkarte anzusehen. So unaufdringlich wie unwiderstehlich wird man dann hineingezogen in die Geschichte des Mädchens Leyla, das viele wiedererkennbare Züge der Autorin trägt, in Deutschland lebt, von Kindheit an jeden Sommer die lange Reise in das Land der Großeltern unternimmt und versucht, ihre Eindrücke hier und dort zu sortieren und festzuhalten.
Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind.
Es ist die Geschichte einer Identitätssuche, doch vor allem ist es ein kulturelles Archiv, das hier mit sparsamen literarischen Mitteln, aber hellwacher Aufmerksamkeit für Details und atmosphärische Unterströmungen angelegt wird. Das Leben im syrisch-kurdischen Dorf mit seinen Traditionen und archaischen Gewohnheiten, in dem Leylas Großmutter als Kraftzentrum der Geborgenheit schaltet und waltet, prägt sich ein. Die alte Frau, im Glauben fest verankert, vermittelt dem Mädchen und zugleich dem Leser eine Vorstellung von den Grundlagen der jesidischen Religion, und zwar wiederum so, dass man sich zu eigenen Nachforschungen angeregt fühlt, um die Geschichte dieser Gemeinschaft zu ergründen, die selbst alle anderen Religionen respektiert, und seit Jahrhunderten durch Muslime verfolgt wird. Für Leylas Vater dagegen ist jede Religion ein Zeichen fehlender Bildung und ein Fortschrittshindernis, und beide Anschauungen bleiben im Erzählraum stehen, ohne dass eine die andere widerlegen könnte.
Der Großvater erzählt von den Armeniern, die früher im Dorf, in den Nachbardörfern und nahegelegenen Städten gelebt hatten und dann grausam ausgerottet wurden. Die Erinnerung an diesen Völkermord weist voraus auf die bevorstehende Eskalation des Genozids an den Jesiden. Aber auch sonst, inmitten des oft noch unbeschwerten Alltags mit Kinderspielen und kleineren Verwandtenquerelen, Stadtbesuchen in Qamishlo und Aleppo und dem ländlichen Rhythmus der Jahreszeiten, spürt Leyla eine Ahnung von Bedrohung und kommendem Unheil. Nach und nach erfährt sie die Familienhistorie, sie hört von der Unterdrückung der Kurden und von der Odyssee des Vaters, der in Syrien nicht studieren durfte und wegen seiner Weigerung, für Assads Geheimdienst zu arbeiten, unter lebensgefährlichen Umständen nach Deutschland flüchten musste. Wo sein Asylantrag dann viele Jahre blockiert wurde, weil Syrien offiziell als Demokratie galt. Später wird auch der Rest der Familie, doppelt bedroht als Kurden und als Jesiden, aus der Heimat fliehen, aber die Großmutter, die anrührendste der Figuren, wird die Veränderung nicht lange überleben und sich verabschieden.
Es gelingt Ronya Othmann, nicht nur diese alte Frau, sondern alle Beteiligten mit wenigen Strichen so klar zu zeichnen und eine solche Nähe zu ihnen herzustellen, dass nie der Eindruck entsteht, über das Thema Flucht und Migration belehrt zu werden: Der Reichtum der Erzählung an Schlüsselszenen und Wahrnehmungsfacetten bewirkt vielmehr, dass sich ganz unvermittelt neue Einsichten, tiefere Einblicke eröffnen. Parallel wird von Leylas Heranwachsen in Deutschland berichtet, von Pubertätserfahrungen, Freundschaften, Elternkonflikten und Liebeserlebnissen, von der Affinität zu Büchern und vom Erwachen des politischen Bewusstseins, während die Schreckensnachrichten aus Syrien zunehmen und sich nach scheinbaren Lichtblicken alles immer mehr verdunkelt - bis zu jenem Ereignis im Sommer 2014, das Leylas Vater mit den Worten kommentiert: Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind. Die Studentin Leyla trifft danach eine wagemutige Entscheidung. Ronya Othmann aber hat einen Roman geschrieben, der viel dazu beitragen dürfte, dass dieses Wissen nicht mehr verloren geht.[1]