Die Polizei hat die 900. Mahnwache der Samstagsmütter in Istanbul angegriffen und zahlreiche Personen festgenommen, darunter die IHD-Vorsitzenden Eren Keskin und Öztürk Türkdoğan.
Seit 1995 protestieren die Istanbuler Samstagsmütter analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” Woche für Woche in Istanbul in Sit-Ins mit Bildern ihrer Angehörigen gegen deren „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam und fordern Aufklärung über deren Verbleib. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste. Am 25. August 2018 kam die Initiative zum 700. Mal auf ihrem angestammten Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium in der Istanbuler Fußgängerzone Istiklal Caddesi zusammen, um mit einer friedlichen Mahnwache an ihre verschwundenen Angehörigen zu erinnern. Doch auf Anordnung des türkischen Innenministers Süleyman Soylu fuhr die Polizei mit Wasserwerfern auf und griff die Menschenmenge mit Tränengas und Gummigeschossen an. Das gewaltsame Vorgehen sei berechtigt, weil sich die Samstagsmütter von Terrororganisationen instrumentalisieren lassen würden, hatte Soylu gesagt. Seitdem gilt der Galatasaray-Platz als Sperrgebiet für die Samstagsmütter, die zunächst auf das Gebäude des Menschenrechtsvereins IHD auswichen und im Zuge der Corona-Pandemie ihre Forderungen schließlich online vortrugen.
Anlässlich der 900. Kundgebung wollten die Samstagmütter heute wieder auf den Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium ziehen. Der Platz wurde bereits Stunden zuvor von der Polizei belagert. Als die Samstagsmütter und Menschenrechtler:innen in Begleitung der HDP-Abgeordneten Züleyha Gülüm, Oya Ersoy und Zeynel Özen, des TIP-Abgeordneten Ahmet Şık, des CHP-Abgeordneten Ali Şeker sowie der IHD-Vorsitzenden Eren Keskin und Öztürk Türkdoğan und des Sohnes des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, Arat Dink, in Richtung des Platzes gingen, wurden sie von der Polizei umstellt und angegriffen. Öztürk Türkdoğan, Eren Keskin, Gülseren Yoleri, Maside Ocak, Besna Tosun, Jiyan Tosun, Hasan Karakoç, İkbal Eren, Hanife Yıldız, Mikail Kırbayır, Ali Ocak und Arat Dink wurden festgenommen.
Nur den Abgeordneten gelang es, auf dem Galatasaray-Platz eine Erklärung abzugeben. Die HDP-Abgeordnete sagte, dass weder der Platz noch der Kampf um Gerechtigkeit aufgegeben wird: „Wir suchen nach unseren Liebsten, die in staatlichem Gewahrsam verschwunden sind. Wir sind die Mütter, Kinder, Geschwister und Enkel der Verschwundenen, wir treten für die Menschenrechte ein. Wir sind diejenigen, die auf diesem Platz alt geworden oder aufgewachsen sind. Für uns ist es ein Platz der Wahrheit und der Erinnerung, der Galatasaray-Platz gehört uns!“.
17.000 Verschwundene in der Türkei
In der Türkei gelten seit den 1980er Jahren etwa 17.000 Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, politisch Aktive und Engagierte, journalistisch und juristisch Tätige und einfache Landwirte als „verschwunden”. Mit dieser Praxis machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 1990er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt.
Die Leichen der Verschleppten wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto der religiös-extremistischen Terrororganisation Hizbullah sowie von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.[1]