#Nilüfer Koc#, Nationalkongress Kurdistan (KNK)
Berlin: Şehîd namirin – Antifaschistisches Gedenken an die gefallenen Internationalist*innen der kurdischen Revolution. | Foto: anfDie Feststellung von Antonio Gramsci »Eine Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann« bezeichnet die gegenwärtige globale Lage aufs Genaueste. Tatsächlich befindet sich das kapitalistische System in einer tiefen Krise, die es nicht mehr kontrollieren und koordinieren kann. Sie hat mit dem Zerfall des bipolaren Weltsystems zwischen den USA und Russland als Vertreter der Sowjetunion begonnen. Seit den 90er Jahren haben Kriege und Konflikte weltweit zugenommen und die gesamte Menschheit steht vor großen Herausforderungen.
Im Mittleren Osten wird diese Krise durch den Zustand der Nationalstaaten ersichtlich. Die Türkei, der Iran, Syrien, der Irak, Libyen, Jemen, Ägypten, Tunesien, Afghanistan, Pakistan etc. kämpfen ums Überleben und agieren zugleich immer aggressiver gegenüber ihren Gesellschaften, die für ihre Rechte und Freiheit kämpfen. Wenn man sich die Akteure anschaut, die in dieser allgegenwärtigen Krise ihre Finger im Spiel haben, kann durchaus von einem Dritten Weltkrieg gesprochen werden. Der arabische Frühling stellte einen Versuch des gesellschaftlichen Aufbegehrens gegen die Herrschenden der Region dar, doch leider scheiterte er. Statt eines tiefgreifenden demokratischen Wandels, wurden lediglich Regimespitzen im Sinne des kapitalistischen Weltsystems ausgetauscht.
Kolonialmächte Kurdistans sind im Umbruch
Inmitten dieser Krisenregion befinden sich die Kolonialmächte Kurdistans, also die Türkei, der Iran und Syrien im Umbruch. Sie alle wurden Zeuge dessen, was mit ihrem ehemaligen Nachbarstaat Irak seit den 90er Jahren passiert ist.
Der kurdische Repräsentant und Vordenker Abdullah Öcalan, der seit seiner international organisierten Entführung 1999 auf Imralı als politische Geisel gefangen gehalten wird, war persönlich von dieser Umwälzung betroffen. Seine Entführung hat mit dieser Krise direkt zu tun. Er hatte sich intensiv kritisch und selbstkritisch mit dem Zerfall der Sowjetunion befasst, da seine Partei, die PKK, sich ebenfalls dem sozialistischen Block zuordnete. Er hat aus seiner Zelle, in der er seit 22 Jahren festgehalten wird, eine Lösung, die er seit den 90er Jahren gesucht hat, gefunden, formuliert und am 21. März 2005 zum kurdischen Neujahrsfest Newroz verkündet: den demokratischen Konföderalismus. »Auf Imralı wurde ich neu geboren«, sagte er wiederholt, als er ein neues sozialistisches Paradigma verkündete.
Die Kurdinnen und Kurden, die 40 Jahre lang an ihn geglaubt haben und es weiter tun, haben mit Begeisterung diese neue Idee aufgenommen und es unter großen Opfern in den letzten 15 Jahren umgesetzt. Heute erfährt das neue Paradigma und das dazu passende Modell des demokratischen Konföderalismus auch weit über Kurdistan hinaus eine positive Resonanz.
Öcalans Paradigma
In seiner Auseinandersetzung kam Öcalan zu dem Schluss, dass der Realsozialismus letztlich an einer unzureichenden Analyse des Phänomens der Macht scheiterte. Der Realsozialismus wäre demnach nicht gescheitert, wenn die Sozialisten ihr System außerhalb des Staates und der Macht aufgebaut hätten. Öcalans Paradigma lehnt Macht und machtorientiertes Denken und Handeln ‒ als Ursache des Zerfalls linker Befreiungsbewegungen ‒ ab. Sein Ziel definiert sich nicht nur über die Befreiung der Klasse oder der unterdrückten Nation, sondern der Gesamtheit einer Gesellschaft.
Die philosophische Idee hinter dem demokratischen Konföderalismus ist bei Öcalan das Ergebnis einer radikalen Kritik an der kapitalistischen Moderne, die sich auf dem Paradigma der Macht begründet. Für ihn sind der Aufbau der Demokratie und die Gesellschaftswerdung nicht mit dem Ziel des Machtstrebens verbunden. »Meine Vorstellung vom demokratischen Konföderalismus ist [...] umfassend. Für mich bedeutet er die eigenständige demokratische Organisierung der Gesellschaft ohne Machtanspruch«, so Öcalan. Das herrschende globale Chaos und seine Zuspitzung im Mittleren Osten begreift er als Chance zum Aufbau des demokratischen Konföderalismus. Dessen Umsetzung in Kurdistan geht zugleich mit einer Demokratisierung der vier Staaten einher, die als Kolonialmächte in den kurdischen Siedlungsgebieten auftreten. Dadurch wird klar, dass das Konzept nicht allein auf Kurdistan ausgelegt ist. Das Ziel ist ein demokratischer Konföderalismus über Kurdistan hinaus im gesamten Mittleren Osten.
Demokratische Transformation eines Kolonialstaates am Beispiel Syriens
Wir wollen uns das Ganze am Beispiel des syrischen Staates einmal genauer anschauen. Innerhalb des syrischen Staatsgebietes befindet sich der kleinste der insgesamt vier Teile Kurdistans. Die dort lebenden Kurd*innen sind ähnlich wie in den anderen Teilen stets einer Verfolgung durch die Zentralregierung ausgesetzt gewesen. Insbesondere infolge der Entwicklung im Nordirak Anfang der 90er Jahre, die zur Etablierung einer Flugverbotszone führte, verstärkte das syrische Regime seine Repressionen gegen die Kurd*innen im eigenen Land. Als Öcalan am 9. Oktober 1998 Damaskus nach 19 Jahren verlassen musste, schloss Baschar al-Assad schließlich ein Bündnis mit der Türkei und bildete so eine gemeinsame Anti-Kurden-Front. Das gemeinsame Ziel von Ankara und Damaskus war es, das »Kurdenproblem« ein für alle Mal zu lösen. Am 12. März 2004 hatte das syrische Baath-Regime nach einem Fußballspiel in Qamişlo 32 Kurden getötet. Nach diesem Massaker brach ein Aufstand aus, der sich in ganz Rojava und sogar unter den Kurd*innen in Aleppo und Damaskus ausbreitete. Es ist der erste Massenaufstand in Rojava. Danach hatten die Kurd*innen zum ersten Mal bewaffnete Verteidigungskomitees gegründet. Dieses Massaker sollte die kurdische Bevölkerung in Syrien einschüchtern, denn im Nachbarland Südkurdistan (Nordirak) war ihnen nach dem Sturz von Saddam Hussein Autonomie gewährt worden. Die in Rojava gebildeten Verteidigungskomitees hingegen stellten die Vorgänger der heutigen Verteidigungseinheiten YPG/YPJ dar. Auch die Tatsache, dass Abdullah Öcalan von 1979 bis zum 9. Oktober 1998 mehr als 40.000 Menschen in den Parteiakademien der PKK in Syrien unterrichtet hatte, und auch die Kurd*innen in Rojava motivierte sich zu organisieren, darf nicht gering geschätzt werden. Öcalan hatte sich zudem intensiv für den Aufbau von Freundschaften mit Vertretern der Araber*innen, Assyrer*innen und Armenier*innen eingesetzt. Das bildete den Grundstein für die spätere Revolution von Rojava, welche 2012 ausbrach.
Die Kurdenfeindlichkeit des Baath-Regimes
Doch bevor wir zur Revolution kommen, sollten wir noch einmal einen Blick auf den historischen Verlauf der Kurdenpolitik des syrischen Regimes werfen. Der arabische Nationalismus, der unter dem Deckmantel eines arabischen Sozialismus daherkam, betrachtete die kurdische Bevölkerung stets als ein Sicherheitsproblem. Die Region Rojava wurde wie eine Kolonie behandelt, Monokulturen an Getreide und Baumwolle wurden angelegt und das Öl- und Gasvorkommen ausgebeutet. Da Rojava historisch ein Teil des fruchtbaren Halbmonds war und die Flüsse Euphrat und Tigris durch das Land führen, ist es sehr ergiebig. Das syrische Regime machte aus Rojava die Kornkammer des Landes. Die Verarbeitungsindustrien für die Rohmaterialien aus Rojava, Mühlen und Raffinerien, wurden allerdings weit entfernt in den arabischen Regionen errichtet.
1962 wurde eine Volkszählung in Rojava veranlasst, die dazu führte, dass mehr als 150.000 ansässige Kurd*innen als ajnabi (Ausländer) gebrandmarkt wurden. Ihnen wurde die Staatsbürgerschaft entzogen. Sie hatten kein Recht auf Eigentum, Bildung, politische Partizipation, Staatsämter oder legale Heirat. Land und Eigentum der Kurd*innen wurden den staatstreuen arabischen Stämmen übertragen. Ihre Verfolgung ging verschärft mit der Machtübernahme der Baath-Partei 1963 weiter. Der Geheimdienstchef der Region Hassakah, Leutnant Muhammad Talab al-Hilal, arbeitete für das Baath-Regime ein Sicherheitskonzept aus, dass die Arabisierung (Politik des Arabischen Gürtels) vorsah. Er bezeichnete die Kurd*innen »als Feinde Syriens«, die Region Cizîrê/Rojava als »kurdische Gefahr« und schrieb, dass sie ein «bösartiger Tumor“ im Körper der arabischen Nation seien.
Hafiz al-Assad, der 1970 die Macht per Putsch übernahm, erklärte 1976 die Politik des »Arabischen Gürtels« für beendet. Die Diskriminierung der Kurd*innen ging unterschwellig weiter. Es ging ihm um die Vorherrschaft in der arabischen Welt. Als eine der großen Gefahren betrachtete er den türkischen Staat, mit dem er historisch um Gebietsansprüche stritt, aber auch, weil der Nachbarstaat als NATO-Mitglied die Interessen der USA in der Region vertrat. Auf dieser Grundlage knüpfte das Assad-Regime schließlich zwischen 1979 und 1999 Beziehungen zum kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Assad sah in Öcalans Strategie der Völkerfreundschaft keine große Gefahr, da er erkannte, dass dieser an Bündnissen mit der arabischen Bevölkerung sehr interessiert war.
Die Transformation eines Nationalstaates am Beispiel Syriens
Als ab dem 19. Juli 2012 die Regime-Kräfte Stadt um Stadt aus Rojava herausgedrängt wurden, übernahmen die lokalen Räte die Kontrolle über die landwirtschaftlich genutzten Flächen. Die neue Verwaltung wurde um neu geschaffene Gemeinden herum aufgebaut, die meist aus einem Dorf und den umliegenden Weilern bestanden. Die Kommunen verteilten das Land je nach Bedarf und Fähigkeit zur Bewirtschaftung unter den dort ansässigen Familien. Einige Teile des Landes verblieben als Basis für die ersten Kooperativen in den Händen der Räte.
Es muss daran erinnert werden, dass die staatlichen Institutionen nach der Revolution weiterhin in Rojava präsent geblieben sind – einige bis heute. Zu Beginn der Revolution war es erforderlich, die Präsenz des Staates in einigen Bereichen zu tolerieren, bis die Selbstverwaltung einen demokratischen Weg gefunden hatte, die Verwaltung selbst in die Hand zu nehmen. Der Staat blieb weiterhin an der Ölindustrie beteiligt; Banken, Bildungssystem, Gesundheitswesen, Wasser und Elektrizität und der Flughafen in Qamişlo wurden zu Anfang dem Regime überlassen, bis die Räte in der Lage waren, diese Bereiche selbst alternativ zu betreiben. Strategisch war es für die Selbstverwaltung auch wichtig, Zugeständnisse an das Baath-Regime zu machen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Ferner ist das Ziel des demokratischen Konföderalismus nicht die Abspaltung eines Gebietes von einem existierenden Staat. Öcalan sagt hierzu: »Die Aufgabe besteht folglich nicht im Sturz des Staates, denn wenn der Staat mit dem Volk einen Kompromiss sucht, so sollte das auch geschehen. Dies bedeutet aber nicht, dass dieses Volk den Staat will. Es geht ihm um den Schutz seines lokalen Umfeldes. Auf lokaler, das heißt kommunaler Ebene versucht es, seine Probleme aus eigener Kraft zu lösen.«
Um Rojava herum wütete gleichzeitig seit 2012 ein brutaler Krieg: ausgeführt von Dschihadisten, unterstützt und gefördert von der Türkei. Allerdings waren die Verteidigungsstrategien soweit ausgebaut, dass ein großer Widerstand den Aufbau des demokratischen Konföderalismus schützen konnte. Die YPG und YPJ waren und sind ein lebenswichtiger Bestandteil in diesem Sinne. Im Laufe der Zeit haben YPG und YPJ den Araber*innen, Assyrer*innen und Armenier*innen geholfen, ihre eigenen Verteidigungskräfte aufzubauen. Heute sind alle unter dem Dach der Demokratischen Verteidigungskräfte Syriens (QSD) vertreten.
Der Kommunalismus
Die Grundsäulen der Selbstverwaltung sind die Kommunen an der Basis. Die Kommunen verfügen auch über Fachkommissionen, die wiederum mit zuständigen Akademien zusammenarbeiten. Hiermit können selbst die kleinsten Gemeinschaften ihre Bedürfnisse selbst organisieren. Das System wird auch radikale Demokratie genannt. In regelmäßigen Treffen kommen alle Bewohner*innen eines Dorfes oder eines Stadtbezirkes zusammen, um Lösungen und Alternativen für Alltagsprobleme zu finden. Auf diesen Treffen werden auch Delegierte zu übergeordneten Räten gewählt. Da die Menschen in den Kommunen alle öffentlichen Aufgaben (von Bildung bis Straßenbau, von den Arbeitsbedingungen bis zur Rechtsprechung) nach und nach in Eigenregie erledigen, werden der Staat und alle seine hierarchisch organisierten Institutionen auf ein Minimum an Verwaltungsaufgaben reduziert, bis sie schlussendlich völlig überflüssig werden. Entscheidungen bezogen auf Städte und größere Regionen werden von den Räten, die aus den Delegierten der Kommunen bestehen, getroffen. Eine Intervention von oben in die unteren Ebenen darf nicht stattfinden, da diese autonom sind. Frauen bilden neben Frauenhäusern ihre eigenen Frauenkommunen und ein eigenes autonomes System.
Eine Revolution in der Revolution: Die Frauenrevolution
Im Zentrum des demokratischen Konföderalismus steht die Befreiung der Frau. In keinem System ist die Freiheit der Frauen so maßgebend wie in der PKK. Durch die Hinterfragung der Frauenunterdrückung entdeckte Öcalan die Entstehung und den Ursprung der Unterdrückungsgeschichte. Das Maß der Freiheit der Frauen ist Gradmesser für die gesellschaftliche Freiheit. Aus diesem Grund misst Öcalan der Befreiung der Frauen im 21. Jahrhundert eine viel größere Bedeutung bei als nationale Befreiungs- oder Klassenkämpfe. Hier heißt es, dass die Freiheit der Frauen die Garantie einer dauerhaften Demokratie ist. Die Staatsideologien sind das Modell der patriarchalen Herrschaft. Wenn kein Kampf gegen die Ethik, Gesinnung und Kultur der patriarchalen Ideologie geführt wird, kann nicht von Demokratie und Freiheit gesprochen werden. Deshalb ist die Lösung der Geschlechterfrage von größter Bedeutung.
Die Frauenbewegung in Rojava wurde bereits 2005 unter dem Namen Yekitiya Star gegründet. Diese Bewegung griff auf die 30-jährige Erfahrung der kurdischen Frauenbewegung zurück. In Rojava hatten kurdische Frauen auf allen Ebenen gegen die Unterdrückungspolitik des Baath-Regimes gekämpft. Bei der Revolution 2012 haben Frauen beim Aufbau der Strukturen des demokratischen Konföderalismus mitgekämpft, aber auch eigene Strukturen des demokratischen Konföderalismus für Frauen geschaffen. Aufgrund der Ausweitung des Systems änderten sie ihre Organisationsstruktur auf dem Kongress 2016 und benannten sich um in Kongreya Star. Der Frauenbewegung ist es im Zuge der Revolution gelungen, auch arabische und christliche Frauen für ihre Befreiung zu überzeugen und zu mobilisieren. Es wurden zahlreiche gemeinsame Gremien aufgebaut. Kongreya Star verfügt über ein breites Netzwerk mit Frauen aus anderen arabischen Ländern.
In allen politischen Gremien und Strukturen Rojavas herrscht eine 40 prozentige Geschlechterquote vor. Die Räte werden von einer Doppelspitze in Form von einer Frau und einem Mann als Ko-Vorsitzende gemeinsam vertreten.
Frauenkooperativen nehmen an Größe und Zahl zu, denn sie sind ein wichtiger Weg für Frauen, um die Abhängigkeit von ihren Vätern und Ehemännern nach und nach zu verringern. Allgemein hat der fortwährende Befreiungskampf der Frauen auch die Wirtschaft beeinflusst, indem Frauen erstmals in der Neuzeit umfangreich und selbstständig an der Wirtschaft partizipieren und von ihren Familien wirtschaftlich unabhängig sein können. Insgesamt ist das vorherrschende Frauenbild in der Gesellschaft immer noch traditionell. Der Anteil der Frauen, die sich für andere Laufbahnen entscheiden, wächst jedoch rasant.
Das ökonomische System in Rojava
Wie im gesamten Mittleren Osten, so dominierte das kapitalistische Wirtschaftssystem auch in Rojava. Mit dem Aufbau des demokratischen Konföderalismus wird seit 2012 eine demokratisch-gesellschaftliche Ökonomie entwickelt. Die Kooperativen als Basis der gesellschaftlichen Ökonomie stellen die Grundlage des Wirtschaftssystems dar: je mehr Kooperativen, umso weniger Kapitalismus. Die Anzahl der Kooperativen hat seit 2012 permanent zugenommen. Mit der Förderung der Kooperativen wurden die Restbestände des kapitalistischen Marktes, welcher ab dem Revolutionsjahr 2011 vom syrischen Regime übernommen wurde, immer kleiner. Sämtliche Kooperativen arbeiten koordiniert mit den Räten und der demokratischen Selbstverwaltung zusammen. Gemeinsam mit den Räten, Akademien, Gemeinden und Kommunen werden je nach deren Bedürfnissen die Kooperativen gebildet. Als die kleinsten Basisorganisationen entscheiden die Kommunen selbst, in welcher Form sie ihre wirtschaftlichen Probleme lösen. Die Akademien für Ökonomie helfen den Menschen mit dem dazu notwendigen Know-how.
Heute gibt es Kooperativen für die verschiedenen Bereiche wie Stromversorgung, Bäckereien, Wasser, Getränke, Kleidung, Nahrungsmittel etc. Es existiert auch eine Vielfalt landwirtschaftlicher Kooperativen. Diese und auch alle anderen Kooperativen arbeiten koordiniert mit den Akademien und Kommissionen der Selbstverwaltung, die für die ökologische Produktionsweise zuständig sind. Akademien für Ökologie motivieren die Menschen für Alternativen zu chemischen Düngemitteln in der Landwirtschaft. Die größte Herausforderung in diesem Bereich stellt das Wasserembargo durch den türkischen Staat an den Flüssen Euphrat und Tigris dar. Die beiden Flüsse entspringen in Nordkurdistan, und dort hat der türkische Staat Staudämme gebaut, um das Wasser als eine Waffe gegen Syrien und den Irak einzusetzen.
Gesellschaftliche Probleme werden selten an höhere Gremien, die sich als Institutionen der Gerechtigkeit bezeichnen, getragen, sondern werden lokal durch Kommunen und Räte gelöst. In Rojava basiert das Rechtssystem nicht wie bei Staaten auf Artikeln und Gesetzen, sondern gemäß den moralisch-ethischen Prinzipen der Gesellschaften, die sie immer neben der »Rechtsprechung« des Staates hatten. Es gibt lediglich Gerichte für die IS-Gefangenen, da sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Hier kombinieren sie ihr demokratisches Paradigma mit dem internationalen Recht. Denn die meisten IS-Gefangenen stammen aus anderen Ländern.
Das Bildungssystem der demokratischen Nation
Demokratische Nation bedeutet: Vielfalt der Gesellschaften nach Merkmalen wie Ethnie, Glaubensrichtung und Geschlecht. In Nord- und Ostsyrien ist das Bildungssystem für ein gleichberechtigtes Zusammenleben aufgebaut worden. Seit der Revolution wird an der Erforschung und Entwicklung der verschiedenen Sprachen, Kulturen und der Geschichte der Völker gearbeitet. Das Bildungssystem setzt auf Vielfalt und Mehrsprachigkeit. In den Grundschulen bis zur dritten Klasse wird in der jeweiligen Muttersprache unterrichtet. Ab der vierten Klasse lernen die Kinder die Sprachen der Völker, mit denen sie zusammenleben, und der Unterricht findet zweisprachig statt. Mit der fünften Klasse beginnt der Fremdsprachenunterricht. Konkret heißt es: arabische, kurdische und Kinder von Suryoye (Assyrer-)Angehörigen lernen bis zur dritten Klasse in ihrer Muttersprache. Unterrichtsmaterialien beinhalten die Geschichte sowie die Kultur jeder einzelnen Gesellschaft Syriens. In Nord- und Ostsyrien werden etwa 790.000 Schülerinnen und Schüler nach diesem Modell unterrichtet. Das Wichtigste in diesem System ist das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden. Denn wie das ehemalige Regierungssystem, basierte auch das alte Erziehungssystem vor allem auf Angst und Gewalt. Im neuen System sind die Schüler*innen für das Schulleben mitverantwortlich und können aktiv mitbestimmen. An jeder Schule werden Schüler*innenkomitees gebildet, um die Schulen demokratisch und partizipatorisch zu gestalten. Außerdem wurden Sanktionsmechanismen für Lehrende entwickelt, die physische oder psychische Gewalt anwenden. Im Gegensatz zu den herrschenden Bildungssystemen, die die Bildung zur Stabilisierung ihrer Herrschaft benutzten, basiert das Bildungsmodell der Universitäten auf freiem und demokratischem Denken.
Darüber hinaus gibt es unzählige Akademien zu verschiedenen Bereichen, die jedem offenstehen. Die Akademien sind so etwas wie Universitäten oder Fachfakultäten für die Bürger.
Sowohl die Akademien als auch die Schulen und Universitäten arbeiten mit der Akademie und dem Komitee der Jineolojî zusammen. Die Gremien und Räte dieser Bildungseinrichtungen müssen emanzipatorisch von Frauen, Männern und entsprechend der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit besetzt sein.
Jineolojî: Befreiung vom Positivismus
Zum ersten Mal erschien der Begriff Jineolojî im Jahr 2008 im dritten Band des Manifests der demokratischen Zivilisation von Abdullah Öcalan mit dem Titel »Soziologie der Freiheit«. Jin bedeutet im kurdischen Dialekt Kurmanci Frau, hat aber die gleiche Wurzel wie das Wort Jiyan, das Leben bedeutet. Jineolojî sollte daher nicht, wie es oft der Fall ist, nur als Wissenschaft von der Frau verstanden werden. Es geht parallel auch um die Wissenschaft vom Leben, von der Gesellschaft als Ganzes. Das Ziel dieser Wissenschaft ist es, das heutige elitär gewordene Wissen wieder mit der Gesellschaft zu verbinden; aber auch ideologisch die Köpfe vom Positivismus zu befreien. Der Positivismus, der sich als Fortschrittsglaube sieht, und der dem herrschenden kapitalistischen System zugrunde liegt, trennt die Welt in Subjekt und Objekt, Schwarz-Weiß, Oben-Unten und legitimiert dadurch auch Hierarchien. Öcalan bezeichnet den Positivismus, den das kapitalistische System zur Grundlage des Wissens und Denkens nimmt, als »vulgärsten Materialismus« und »Götzenreligion«. Ihm zufolge ist das gegenwärtige deterministische Fortschrittsdenken auch eine Folge des Positivismus. Der Positivismus wurde vom kapitalistischen System für die Negierung der historischen und gegenwärtigen Eigendynamik, der mythologischen, religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Gedankengebilde der Gesellschaften benutzt.
Jineolojî kämpft daher dafür, das Wissen von der Abstraktion und Loslösung von der Gesellschaft zu überwinden. Sie reduziert die Gesellschaft weder als Objekt noch als Subjekt, sondern sieht sie als Teil des ökologischen Gleichgewichts. Somit ist sie ausgerichtet auf Ethik, auf Bedürfnisse und auf das Ziel der Wiederherstellung des Gleichgewichts von Frau-Natur-Gesellschaft. Dieser Prozess ebnete auch den Weg für eine tiefgreifende Neubesinnung auf die Wurzeln von Unterdrückung, Ausbeutung und Hierarchie. Konkret arbeiten die Akademien und Komitees von Jineolojî mit dieser Zielsetzung in Bereichen wie Ökologie, Ökonomie, Soziologie, Ethik-Ästhetik, Bildung, Gesundheit, Geschichte und Selbstverteidigung.
Internationalismus der Rojava-Revolution
Der Angriff auf Syrien im Jahre 2011 hätte wie der arabische Frühling ohne gesellschaftliche Veränderungen enden können, wenn die Kurd*innen nicht im Voraus das Öcalan-Paradigma bereits praktiziert hätten. Der Krieg, der durch den IS geführt wurde, sollte die Brutalität des Faschismus über den Irak und Syrien hinaus im Mittleren Osten, in Nordafrika, im Kaukasus etc. ausweiten. Daher war der Sieg der YPG/YPJ über den IS, der von der Türkei unterstützt wurde, nicht nur ein militärischer, sondern auch ein ideologischer Sieg. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte das kapitalistische System, wie im Falle des arabischen Frühlings, den Zustand des Umbruchs zu seinen Gunsten benutzt. Der kurdische Sieg über den IS war ein Sieg für alle Gesellschaften. Denn mit dem Sieg über den IS wurde die Expansion von Brutalität, Hass, Mord, Rückständigkeit, aggressivem und machtorientiertem Islam, der keine Grenzen kannte, beendet und die Menschheit vor einer Gefahr im 21. Jahrhundert gerettet. Menschen aus aller Welt fanden durch den Befreiungskampf neue Hoffnung und sahen in dieser Bewegung eine machbare Revolution. In Rojava wurde auch dem Prinzip von »Teile und herrsche« der Nationalstaaten der kapitalistischen Moderne, mit dem die Völker stets gegeneinander gehetzt wurden, entgegengewirkt. Der Sieg über den IS konnte erreicht werden, weil die Gesellschaften der Kurden, Araber, Assyrer, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen sowie die Muslime, Christen, Eziden und Alewiten sowie Frauen und Männer zusammengehalten und gemeinsam gekämpft haben. Auch weltweit haben sich tausende Menschen und viele Organisationen an diesem Kampf und dem Aufbau des demokratischen Systems beteiligt. Ich möchte hier unserem italienischen Gefallenen Lorenzo Orsetti (Tekoşer Piling) und allen anderen gefallenen Internationalisten und Internationalistinnen meinen Respekt aussprechen.
Somit ist die Revolution Rojavas zu einem nationalen (kurdisch), regionalen (Mittlerer Osten) sowie globalen solidarischen und gemeinsamen Befreiungskampf geworden.
Perspektive für ein zukünftiges demokratisches Syrien
Der Demokratischen Syrienrat (kurdisch: Meclîsa Sûriya Demokratîk; kurz: MSD) unterbreitete Anfang 2016 einen umfassenden Vorschlag zur Lösung der syrischen Krise. Dieser sieht die Wiederherstellung Syriens vor in Form einer Konföderation verschiedener autonomer Regionen unter einer gemeinsamen Verfassung und diplomatischen Vertretung. Neben der Bildung einer kurdisch-arabischen Föderation im Norden werden eine sunnitisch-arabische Föderation in Ost- und Zentralsyrien, eine alawitische Föderation im Westen und eine autonome Drusen-Region im Süden vorgeschlagen. Alle ethnischen, religiösen und gesellschaftlichen Gruppen würden das Recht haben, ihre eigenen Angelegenheiten innerhalb der verfassungsmäßig festgehaltenen Grundprinzipien selbstständig zu organisieren und zu verwalten. Der Vorschlag beinhaltet einen Rahmen für eine gerechte Verteilung der Ressourcen zwischen den Regionen, sodass keine Region etwas importieren müsste, solange diese in einer der anderen Regionen verfügbar wären.
Gefahren und Risiken
Der demokratische Aufbau findet immer mehr positive Resonanz unter den arabischen Gemeinschaften in Syrien. Mit der Befreiung von Raqqa 2017 und Deir ez-Zor in 2019 wurden auch in diesen arabischen Gebieten Räte gegründet, die für den Aufbau des demokratischen Konföderalismus kämpfen. Die befreiten Gebiete sind unter dem Namen der demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien zusammengekommen. Rojava ist geografisch gesehen mehrheitlich von Kurd*innen bewohnt und bildet das Zentrum der Revolution.
Sowohl das syrische Regime unter Bashar al-Assad als auch die fremden Mächte versuchen, dies vehement zu verhindern. Denn sie alle sehen in der Demokratie eine Gefahr für ihre Macht. Aus diesem Grund tun sie alles, um eine Konfrontation zwischen Kurd*innen und Araber*innen zu erzeugen. Mehrere bekannte arabische Stammesführer, die sich an dem Modell der Selbstverwaltung beteiligen, wurden in den letzten beiden Jahren entweder vom Geheimdienst des syrischen Staates oder auf Befehl der Türkei durch salafistische Dschihadisten ermordet. Damit soll die arabische Bevölkerung eingeschüchtert werden. Morde an kurdischen Führungspersönlichkeiten durch die Türkei sind ein Bestandteil des Lebens geworden. Viele wurden mit bewaffneten türkischen Drohnen ermordet.
Sowohl die gewöhnlich kurdenfeindliche Türkei als auch einige regionale wie globale Mächte versuchen, über verschiedene Methoden den Nationalismus unter den Kurd*innen und Araber*innen zu verbreiten. Syrisch-kurdische Parteien und Organisationen, die keine Basis haben und den demokratischen Konföderalismus ablehnen, sondern als Kriegsprofiteure auftreten, versuchen innerhalb der Bevölkerung den Virus des kurdischen Nationalismus zu fördern. Diese Gruppen werden vor allem von der Türkei finanziert und logistisch gefördert. Durch diese Gruppen versucht die Türkei die Kurd*innen zu spalten, um sie zu schwächen. Es sind auch diese Gruppen, die als Vertreter*innen von Rojava nach Genf oder zu anderen internationalen Plattformen eingeladen werden. Aber auch über die Christen werden ähnliche Vorgehensweisen im Namen des Christentums initiiert. Denn der Nationalismus der Nationalstaaten der kapitalistischen Moderne hat mit diesem Instrument viele Revolutionen zum Scheitern gebracht und viele Kriege in den vergangen Jahrhunderten sowie in der Gegenwart herbeigeführt.
Des Weiteren hat Russland im Einvernehmen mit der Trump-Administration der Türkei grünes Licht zur Besetzung von Efrîn im Jahr 2018 gegeben. 2019 gab Trump dem türkischen Staat Rückendeckung für die Besetzung von Girê Spî und Serêkaniyê. Je erfolgreicher sich das Modell des demokratischen Konföderalismus entwickelt, umso mehr verschärfen sich die Angriffe. Immer wieder wird die Türkei als Damoklesschwert gegen die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien eingesetzt. Ferner werden ihre Vertreter*innen von den Konferenzen in Genf, Sotschi und Astana über die Zukunft Syriens ausgeschlossen. Damit sollen sie international politisch, öffentlich und diplomatisch diskreditiert werden. Diese Ausgrenzung oder auch Isolation ist eine Art Strafe. Um Syrien unter Kontrolle zu halten ist auch der Iran bemüht, das Regime daran zu hindern, mit der Selbstverwaltung in einen Dialog zu treten. Obwohl Russland in vielen diplomatischen Treffen mit Vertreter*innen der Selbstverwaltung zugesichert hat, das syrische Regime für einen Dialog zu bewegen, ist es bislang nicht geschehen. Der anhaltende Pan-Arabismus des Baath-Regimes ist auch ein wesentliches Hindernis für den Dialog.
Die demokratische Selbstverwaltung wird also nicht nur militärisch, sondern auch ideologisch permanent angegriffen.
Während die Staaten aufgrund eigener Machtinteressen den demokratischen Konföderalismus als Gefahr sehen, hat die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens auf Seiten der Menschen weltweit große Solidarität erfahren.
Als Frau und Kurdin gilt mein besonderer Dank Abdullah Öcalan, der uns aus der Folterzentrale Imralı mit seinen Ideen, Vorschlägen und Ratschlägen geholfen hat, eine Lösung in Kurdistan und für alle unterdrückten Menschen des Mittleren Ostens zu finden. Es ist daher eine humane Selbstverständlichkeit für alle, die den demokratischen Konföderalismus als Alternative zu den lokalen, regionalen wie globalen Problemen sehen, sich auch für seine Freiheit einzusetzen. Denn er wird aufgrund seiner Gedanken im Foltersystem Imralı bestraft. Es ist Zeit, für seine Freiheit zu kämpfen. Daher mein Aufruf: Unterstützen sie die südafrikanische Kampagne »Die Zeit ist reif: Freiheit für Abdullah Öcalan – für einen gerechten Frieden in der Türkei«.
Der Artikel erschien zuerst in der italienischen Zeitschrift Il Manifesto. Wir danken Il Manifesto, den Artikel in deutscher Sprache im Kurdistan Report veröffentlichen zu dürfen.[1]