Am 8. März 1857 beginnen 40.000 Textilarbeiter:innen in den USA in New York einen Streik, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zuerst werden die Arbeiter:innen im Widerstand von der Polizei angegriffen. Wer vor diesem Angriff flieht, wird in der Fabrik eingesperrt. Direkt im Anschluss bricht ein Feuer aus … Arbeiter:innen, die wegen der Polizeibarrikaden vor der Fabrik nicht fliehen können … Der Tod von 129 Arbeiter:innen …
Ja, 129 Arbeiter:innen gaben in diesem Feuer ihr Leben. Allerdings hat sich das Feuer von ihnen aus verbreitet und der Entwicklung des Freiheitskampfes der Frauen Leben eingehaucht. Es wurde zu einem Weg, zu einem Licht im Kampf gegen ein patriarchales System, welches das Schaffen der Frauen nicht anerkennt, es abwertet und die Gewalt gegen Frauen legitimiert.
1910 wurde dann im dänischen Kopenhagen der während des Frauenrates im Rahmen der Zweiten (Sozialistischen) Internationale eingebrachte Vorschlag, den 8. März zum Internationalen Frauenkampftag zu bestimmen, einstimmig angenommen. Seitdem ist der 8. März der Tag des Widerstandes der Frauen, in allen Ecken der Welt, auf diversen Schauplätzen, auf öffentlichen Plätzen, auf den Straßen, gegen das Patriarchat.
An diesem Kampftag gehen auch in Kurdistan Frauen mit ihren Farben, mit ihrem Kampfruf Zilgit, mit ihren Tänzen auf die Straße, die Parole »#jin, jiyan, azadî#« (»Frau, Leben, Freiheit«) hallt an dem Tag in ihrer stärksten Form wider. Jedes Jahr werden die Erscheinung und die Botschaft des Tages im Vergleich zum Vorjahr noch prächtiger und noch feierlicher.
Die kurdische Frau, über alle Generationen hinweg, erwartet den 8. März in festlicher und kämpferischer Verfassung. Die Vorbereitungen beginnen Wochen im Voraus. Die kurdische Frauenfreiheitsbewegung spielt in diesem Prozess die führende Rolle. Zuerst wird die Hauptparole gewählt, mit der sie auf die Straße gehen will. Sie wird so gewählt, dass sie die Seele der Frauenbewegung zum Ausdruck bringt und zum aktuellen Prozess passt. Dafür kommt man in den Orten mit Fraueninstitutionen und -vereinen zusammen und führt ausführliche und tiefgründige Diskussionen. Sobald das Motto bestimmt ist, werden Infomaterial und Broschüren vorbereitet und die Frauen besucht. Tür für Tür, Haus für Haus, Straße für Straße, Stadtteil für Stadtteil und Dorf für Dorf werden die Frauen zum 8. März eingeladen. Jede Provinz und jeder Landkreis plant und veröffentlicht seine eigenen Aktivitäten und Veranstaltungen.
Diese beginnen Tage im Voraus – Filme, Theateraufführungen, Musikveranstaltungen, Workshops und Seminare über Gewalt gegen Frauen. Mordopfern männlicher/staatlicher Gewalt wird mal an ihren Gräbern, mal in Form anderer Aktionen gedacht. Für Frauen, die Haftstrafen abbüßen, weil sie für die Frauenbewegung arbeiten, die oftmals nur dafür verurteilt wurden, am 8. März teilgenommen zu haben, werden Postkarten und Geschenke vorbereitet. Der 8. März in Kurdistan bedeutet ebenso den Kampf Sema Yüces, Rehşans und Zekîyes, der Berîvans und Ronahîs, es ist der Kampf, den Sakine Cansız im Gefängnis, aber ebenso in Freiheit und in Europa führte.
Neben eigenen Aktivitäten und Veranstaltungen werden auch in den Städten mit anderen Frauengruppen zusammen auf diversen Plattformen gemeinsame Unternehmungen geplant, für die die größtmögliche Beteiligung organisiert wird.
Natürlich verlaufen die Vorbereitungen nicht nur rosig und freudig. Die frauen- und kurdenfeindliche Regierung schreckt auch im Laufe dieses Prozesses vor keiner Repression und Obstruktion zurück, und das verstärkt in den kurdischen Provinzen. Um die Frauen einzuschüchtern und zu lähmen, macht sich der Staat jede Form von spezieller Kriegspolitik zunutze.
Sobald der Startschuss für die Aktivitäten gegeben wurde, beginnen auch die Festnahmen, Verbote und Ermittlungsverfahren. Die deutlichste Antwort der kurdischen Frauen auf die sich jedes Jahr steigernde Repression ist, dass sie sich nicht von den Plätzen und Straßen zurückziehen. Mit der aus den Tagen zuvor gewonnenen Euphorie und Motivation strömen sie auf die Straßen und öffentlichen Plätze. An dem Tag wird in allen Provinzen und Landkreisen Kurdistans mit Transparenten, Schildern und Fahnen die Botschaft ausgesendet, dass organisierte Frauen und ihr Kampf gegen die Vorherrschaft der männlichen und staatlichen Gewalt gewinnen wird; jedes Jahr wird diese Botschaft stärker. Die ersten Reihen der Demonstrationsblöcke stellen die Friedensmütter, die, obwohl sie jede Art von Schmerz erlebt haben, auf Frieden beharren, die ihre weißen Tücher mit den gelben, roten und grünen Farben schmücken. Seit Jahren ist dieses Geschehen unverändert.
Die Frauen färben mit ihren traditionellen Gewändern die Plätze in Regenbogenfarben. Diejenigen aus dem Serhad-Gebiet reihen sich, ohne auch nur ansatzweise auf die kalten Wetterbedingungen zu achten, mit ihren farbenfrohen Kleidern in den Halay-Tanz ein. Das kalte Wetter muss der Freude und der Wärme der Frauenbewegung weichen. Die Frauen aus der Region Botan begrüßen den 8. März in ihren schönsten traditionellen Kleidern; in jedem Teil Botans, in jeder Provinz, wo der Widerstand sich in all seinen Formen am ausdrucksstärksten zeigt, besingen sie den Tag mit ihren schönsten Liedern. Die Frauen aus Amed beginnen ihre Vorbereitungen wie jedes Jahr in der Nacht zuvor auf dem Kundgebungsplatz, dem Amed İstasyon Meydanı. Wenn die Bilder über die nächtlichen Vorbereitungen über die Medien kommen, wird die Vorfreude umso größer. Der Amed İstasyon Meydanı begrüßt dann am Morgen die Frauen mit einer prunkvollen Szenerie aus Fahnen, Bannern und Transparenten der kurdischen Frauenbewegung.
Natürlich nimmt die Repression beim Versuch, den Platz zu betreten, jedes Jahr zu. Das Geschehen im Vorfeld, wenn erst die eingereichten Versammlungsanmeldungen des Organisationskomitees unbearbeitet gelassen wurden, um sie dann abzulehnen, stößt auf den Widerstand der Frauen. Die nächste aufgebaute Hürde sind die Barrikaden an den Versammlungsplätzen. Dass mehr als eine Barrikade und ein Kontrollpunkt am Versammlungsort errichtet werden, ist nur ein weiteres Instrument, um die Frauen abzuschrecken und von der Versammlung fernzuhalten. Dann gehen die Abschreckungsstrategien weiter, indem sogar das Innere der Schuhe kontrolliert wird oder die Frauen aufgrund der Farben ihrer Kleider nicht auf den Platz gelassen werden. Die Frauen, die all diese Hürden überwinden, bewegen sich mit ihrem Kampfruf, dem Zilgit, und ihren Tänzen zum Platz. Genau in diesem Augenblick färben sich die Plätze in den Farben der Frauen, Freiheitsparolen überwinden die Grenzen und verbinden sich mit den Stimmen der kämpfenden Frauen weltweit. Es wird zu »Frau, Leben, Freiheit« … Es wird zu »jin, jiyan, azadî« … Es wird zur Revolution in Rojava … Diese Revolution wird zur Muse, zum Widerstand und zum Kampfgrund für die Frauen der Welt.
So wird der 8. März in Kurdistan begrüßt. Auf diese Stufe zu kommen, war selbstverständlich nicht einfach. Die kurdischen Frauen haben sehr viel Mühe und Arbeit aufgebracht und einen hohen Preis gezahlt. Mit dieser Mühe und Leistung haben sie Siege für sich errungen. Sie haben die Stärkung der Hoffnung, Organisiertheit und den Widerstand gegen eine Politik der Unterdrückung und Grausamkeit erlebt. Als die kurdischen Frauen ermordet wurden, ihre Leichen sieben Tage und sieben Nächte auf der Straße lagen, ihre Leichen geschändet und diese Bilder veröffentlicht wurden, da steckte nur ein Ziel dahinter: ihren Widerstand und Kampf zu brechen. Als die kurdischen Städte und Provinzen eingekesselt wurden, waren auch hier die kurdischen Frauen das erste Ziel. Die Ermordung von Seve, Pakize und Fatma hatte dieselbe Botschaft, genau wie die Ermordung Hevrin Xelefs, weil sie eine Revolution in Rojava unter der Führung von Frauen nicht aushalten konnten, ebenso die Morde an Sakine, Fidan und Leyla in Paris. Ihr Ziel ist es, die treibende Kraft der kurdischen Freiheitsbewegung, die kurdische Frauenbewegung, zu knechten und eine Volksrealität auf der Basis der Frau auszulöschen.
Die kurdischen Frauen haben vielerlei Gründe, um ihren Kampf zu stärken. Mütter, die ihre Kinder in den 90ern durch »Morde unbekannter Täter« verloren, kämpfen ohne Unterlass, damit die Täter benannt werden. Frauen, die in den gleichen Jahren unter Zwang verheiratet wurden und umsiedeln mussten, hören nicht mal für einen Moment auf, an den Orten, an denen sie sich aufhalten, ihre Sprache, ihre Kultur zu leben und zum Erblühen zu bringen. Genau wie Deniz Poyraz, die am Sitz der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Regierungsbezirk İzmir ermordet wurde. Frauen, die ihre Kinder im Freiheitskampf verloren haben, führen den Streit um Frieden unbeirrt fort. Frauen weichen in ihrem Kampf gegen eine dreckige Kriegspolitik, die gegen die jungen Frauen in Kurdistan geführt wird, um keinen Millimeter zurück. Sie fragen immer noch: Wo ist Gülistan Doku? Sie bezichtigen nach wie vor den Unteroffizier Musa Orhan der vollen Verantwortung für den Tod İpek Ers und klagen ihn an. Sie geben nicht auf, inhaftierten Aktivistinnen und Politikerinnen eine Stimme zu geben, die für gleiche paritätische Vertretung und geteilten Ko-Vorsitz eintreten, sie hören nicht auf, ihren Kampf zu stärken. Sie hören nicht auf, der ganzen Welt klarzumachen, dass eine Doppelführung mit weiblicher Ko-Spitze ihre »lila Linie« ist.
Die heute von der kurdischen Frauenbewegung erreichte Stufe ist es, eine Frauenallianz gegen das Patriarchat zu gründen. Kein Ein-Mann-Regime, sondern ein gemeinsames, faires Leben miteinander unter der Führung der Frauen zu schaffen. Statt einer männlich geprägten Justiz gemeinsam den Kampf für gleichberechtigte und faire Rechtsprechung zu stärken. Niemals auf die Lebensgarantie der Frauen, die Istanbuler Konvention, zu verzichten. Die Freiheitsbewegung der Frau auf allen Ebenen zu stärken, sich nicht von den Straßen zurückzuziehen. Armut nicht über die Frau definieren zu lassen. Den Kampf gegen Rechtsverletzungen in den Gefängnissen und die dortige Isolationspolitik zu verstärken.
Kurdische Frauen fluten mit dieser Überzeugung die Schauplätze des 8. März. Die Losungen auf ihren Schildern bekunden ihre Revolte in all ihrer Klarheit. Jede Frau bereitet ihr Schild an dem Punkt vor, an dem sie betroffen ist. Manche geben ihrer Forderung nach Gerechtigkeit Ausdruck, indem sie Bilder ihrer ermordeten Mütter und Nachbarinnen tragen, andere bezeugen ihre Revolte, indem sie die Namen ihrer ermordeten Genossinnen in Großbuchstaben schreiben. Auf manchen Schildern steht »Weiter mit dem Widerstand!«. Die Losung »jin, jiyan, azadî« ist Jahr für Jahr die häufigste. Das Banner, hinter dem sie stehen, demonstriert ihren Aufstand in Schriftform. Die gerufenen Parolen sind die Augenblicke, in denen ihre gemeinsamen Forderungen widerhallen und in allen Teilen des Landes ein Echo finden. Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir beugen uns nicht! Diese Parole ist ein Aufschrei der Freiheit. Dies ist ein Aufstand.
2022 wird in Kurdistan der 8. März mit derselben Überzeugung und derselben Entschlossenheit begangen. Die kurdischen Frauen werden auf den Schauplätzen des 8. März erneut ihre Forderungen mit aller Stärke und Motivation herausschreien. Nicht die staatliche/männliche Gewalt, nein, die freiheitliche Frauenbewegung wird siegen. Und zum Schluss wird selbstverständlich das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Frauen sein. Es wird das Jahrhundert der Befreiung der Frauen sein.
JIN, JIYAN, AZADÎ!.[1]