Kasım Engin / Şiyar Rûken
Dieser Text vom 1. Oktober 2018 ist von Kasım Engin verfasst, ehemaliger Leser und Mitarbeiter des #Kurdistan# Reports, und mit einem Vorwort versehen am 7. Oktober 2022 von Şiyar Rûken, ehemaliger Leser und Internationalist in den freien Bergen Kurdistans.
Kasım Engin (İsmail Nazlıkul), Mitglied des Exekutivkomitees der #PKK# Ich erinnere mich noch gut an den sehr warmen sommerlichen Abend vor fast zweieinhalb Jahren. Wir waren gerade zu Besuch im Dorf bei einer Familie und tranken Tee, während im Hintergrund auf Kurdisch die Nachrichten liefen. Wie wir uns unterhielten, linste ich immer wieder mit einem Auge zum Fernseher. Es wurde berichtet von einem türkischen Luftschlag, der an dem Tag in Bradost in Südkurdistan stattgefunden hatte. Das Bild zog mich an, da ich meinte, die Umgebung zu kennen. Es wurde lediglich von dem Angriff berichtet, aber noch war nicht bekannt, was geschehen war. Als wir später am Abend das Dorf verließen, hatte ich ein flaumiges Gefühl im Magen und das Bild des Luftschlages vor Augen. Einige Tage später saß ich auf einem Stein in der Sonne und hörte Radio. Thema war wieder der Luftangriff auf Bradost. Nun war klar, was geschehen war. Kasım Engin (İsmail Nazlıkul), Mitglied des Exekutivkomitees der PKK, war am 27. Mai 2020 getötet worden. Nur wenige Wochen zuvor waren wir noch zusammen, haben gemeinsam gelacht und vor allem zusammen diskutiert. Das Gefühl der plötzlichen Leere, das mich damals ereilte, als ich die Nachricht gehört hatte, habe ich nie vergessen. Ich werde auch nicht vergeben, sondern habe mir damals geschworen Rache zu nehmen und weiterzukämpfen, wie Heval Kasım all die Jahre gekämpft hat.
Heval Kasım war ein Freund, der die Bewegung schon lange kannte. Er ist vor vielen Jahren aus Deutschland nach Kurdistan gekommen, um Teil dieses Kampfes zu werden. Viele Freund:innen könnten Geschichten über ihn erzählen, denn viele von uns hatten das Glück ihn kennen zu lernen; heute darf ich ein paar Worte über ihn verlieren. Bis heute haben ihn alle als Mensch im Kopf, der unermüdlich arbeitete, der ständig darauf bedacht war, sich Wissen anzueignen und Wissen zu vermitteln, aber auch als Freund, der durch seine – teilweise sehr verrückten (es gab wohl keine Bildung hier in den Bergen, bei der so viel gelacht wurde, wie in seiner) – Witze für eine Atmosphäre sorgte, in der man sich wohl fühlte, da er sich auch für jede:n verantwortlich fühlte. Er konnte nämlich sehr gut zuhören.
Heval Kasım hatte für mich eine ganz eigene Anziehungskraft, da er trotz all der Jahre in Kurdistan nicht aus den Augen verloren hat, woher er gekommen war. Er wusste genau über politische Prozesse in Deutschland Bescheid, fragte mich ständig darüber aus, was dort die aktuellen Probleme und Entwicklungen seien. Was aber eines der ersten Themen war, über das wir gemeinsam ins Gespräch kamen und das auch später immer wieder auf unserer Agenda war, war der Kurdistan Report. Heval Kasım hatte selbst vor vielen Jahren intensiv mit dem Report in der Hand gearbeitet, was er unten in seinem Artikel von 2018 erläutert, und auch ich habe mich vor Jahren in die Hintergründe der kurdischen Bewegung durch mein Studium des Kurdistan Reports eingearbeitet. Lange Nächte haben Heval Kasım und ich darüber diskutiert, wie Arbeiten in Deutschland gestärkt werden könnten; nicht zuletzt hatten wir dabei den Report im Blick.
Die aktuelle 224. Ausgabe markiert das 40-jährige Jubiläum des Kurdistan Reports. Ein Stück Geschichte, das wir selbst geschrieben haben. Ich hatte mich bei der Redaktion gemeldet mit der Bitte, zu diesem Anlass den Text von Şehîd Kasım Engin zur 200. Ausgabe des Reports neu zu drucken. Es ist eine Geschichte aus der Geschichte, die zeigt, was wir alles in den letzten Jahrzehnten geschafft haben. Von wo aus wir uns ursprünglich auf den Weg gemacht haben und wo wir heute stehen. Wie Heval Kasım damals, will auch ich heute der Kurdistan Report Redaktion zu ihrem 40-jährigen Jubiläum gratulieren und hoffe, auch in den nächsten 40 Jahren weiter von ihr lesen zu dürfen.
Şiyar Rûken
Zuallererst möchte ich – als ehemaliger Mitarbeiter und Leser – den Mitarbeitenden sowie allen Leserinnen und Lesern des Kurdistan Reports zum Erscheinen der 200. Ausgabe gratulieren.
200. Ausgabe des Kurdistan ReportIch selbst führe meinen Kampf nun als Guerilla in den Freiheitsbergen. Ich muss aber festhalten, dass ich mich begeistert an den Kurdistan Report erinnere und ihn vermisse. Ich erinnere mich, weil ich die Zeitschrift einst las, ihren Inhalt verfolgte. Ich erinnere mich wiederum, weil die Mühen vieler wertvoller junger Leute wie Hüseyin Çelebi darin steckten. Außerdem erinnere ich mich, weil ich 1989 selbst meinen Beitrag zu ihrem Erscheinen geleistet und schließlich selbst Artikel geschrieben habe. Ich vermisse sie, weil sie uns als Zeitschrift wirklich bereichert hat. Zugleich muss ich mit großer Aufrichtigkeit sagen, dass ich angesichts der neueren Ausgaben feststellen muss, dass sie von einer besonderen Qualität sind. Dazu gratuliere ich erneut und immer wieder allen, die zur Veröffentlichung des Kurdistan Reports beitragen.
Der Beitrag des Kurdistan Reports für uns, die hier in Deutschland aufwuchsen und daher weder Türkisch noch Kurdisch lesen konnten, war unschätzbar wertvoll. Auch wenn es zu kritisieren wäre, die eigene Realität, die eigene soziale Situation und das Land in einer anderen als der eigenen Sprache kennenzulernen, so stellte es sich für mich und uns als große Chance heraus, die der kurdischen Jugend seinerzeit geboten wurde. In diesem Zusammenhang ist der Kurdistan Report in zweierlei Hinsicht sehr bedeutungsvoll; zum einen das Näherbringen für die deutsche Gesellschaft in Deutschland und die deutschsprachigen Regionen, zum anderen für uns Menschen, die dazu gezwungen waren, fern der Heimat zu leben, um Wissen über die eigene Realität zu erlangen, darüber an Identität zu gewinnen, um so Mitstreiter des Freiheitskampfes zu werden.
Möglicherweise gilt das Gesagte für andere Völker der Erde nicht. Doch für jene, deren Sprache wie unsere verboten ist, deren Lebensräume und Identität verleugnet werden und denen nicht ein Fußbreit eigenen Landes gewährt wird, hat es eine große Bedeutung, dass an fernen Orten Wissen über die eigene Identität erworben werden kann.
Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass wir mit dem, was uns der Kurdistan Report bot, die Bekanntschaft vieler Kreise machen konnten. So viele linke oder sozialistische Zusammenhänge, feministische und anarchistische Kreise und eine Vielzahl antifaschistischer Gruppen lernten wir beim Verteilen des Kurdistan Reports kennen und begannen, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Das hat uns bei der Bildung unserer ideologischen Identität viel gebracht.
Natürlich verteilten wir den Kurdistan Report in erster Linie an kurdische Jugendliche, die kein Kurdisch und Türkisch sprachen. Außerdem an unsere deutschen Freunde in unserer Umgebung. Und selbstverständlich auf zahlreichen Veranstaltungen an Ständen an interessierte Linke und Sozialisten, anarchistische und antifaschistische Kreise. Auch den Aufgeklärten und Politikerinnen und Politikern versuchten wir uns natürlich zu erklären. Es ist also sicher, dass dies alles eine wichtige Rolle für die Anerkennung und Förderung des Freiheitskampfes in Deutschland spielte.
Bei der Erwähnung der Verteilung des Kurdistan Reports erinnere ich mich, dass ich 1990 nach Ostberlin gegangen bin, nach Ostdeutschland. Wir hatten nur unsere Sprache, um uns vorzustellen, und unseren Kurdistan Report in der Hand. Ich liege wohl nicht falsch, wenn ich behaupte, dass ich mich Richtung Ostberlin öffnete. Tatsächlich war unser einziges Mittel, Beziehungen zu Ostberlin aufzunehmen, der Kurdistan Report.
Ja, wenn an den Kurdistan Report gedacht oder er vermisst wird – es war eine Realität. Und ja, er hätte nicht unser einziges Mittel zur Herstellung einer Verbindung zu linken, sozialistischen und demokratischen Kreisen sein sollen.
Und selbstverständlich waren die Beziehungen, die wir in der deutschen Stadt Frankfurt beim Verteilen des Kurdistan Reports mit deutschen, philanthropischen Sozialisten, Feministinnen, Linken, Demokraten, Anarchisten, Autonomen und Antifaschisten aufbauten, genossenschaftliche Beziehungen. Selbst als Kurdistan-Guerilla suche ich die kameradschaftliche Beziehung, die wir dort entwickelten, und rufe sie mir in Erinnerung. Es war der Kurdistan Report, der diese Beziehung und die Genossenschaftlichkeit ermöglichte.
Kurz gesagt, der Kurdistan Report ist nicht nur eine Zeitschrift. Auch nicht nur eine Reihe von Artikeln, die an einige junge Leute zur Lektüre verteilt werden. Im Zwischenmenschlichen und im Individuellen – der Kurdistan Report war nicht nur der Name für die Verbindung zu insbesondere linken, sozialistischen, feministischen, demokratischen, antifaschistischen, anarchistischen und verschiedenen Glaubensgruppen, sondern er war die Verbindung selbst.
Wir sollten wissen, je mehr wir den Kurdistan Report verbreiten, desto stärker wird naturgemäß unser Beziehungsnetzwerk und desto möglicher wird es werden, die freiheitliche Welt zu schaffen, in der wir leben wollen.
Ja, in der revolutionären und freiheitlichen Überzeugung, dass eine schöne Welt möglich ist, und dies durch das Verbreiten von Zeitschriften wie dem Kurdistan Report.[1]