Autor: Caroline Thon
Erscheinungsort: Deutschland
Verleger: Seminararbeit,
Veröffentlichungsdatum: 2002
$1. Einleitung$
Diese Arbeit verspricht einen Überblick über die „kurdische Kultur“. Wer jedoch sind die Kurden? Anhand des Vortrags Jemal Nebez’ über die kurdische Identität diskutiert Max Berehndt, dass es keine„Merkmale“ im Sinne von Sprache, Abstammung, geographische Herkunft, Religion etc. gebe, die von allen Kurden geteilt würden und sie somit zu einer einigermaßen einheitlichen kulturellen Gruppe machen würden. McDowall behauptet diesbezüglich, dass bereits der Ursprung des Begriffs „Kurde“ von einer gemeinsamen ethnischen Wurzel der Kurden weg weist. So bezeichnete der Begriff „Kurde“ zur Zeit seiner Entstehung und auch später eher eine sozio-ökonomische als eine ethnische Gruppe:
„ The term ‚Cyrtii’ was first applied to Seleucid or Parthian mercenary slingers dwelling in the Zagros and it is uncertain that it denoted a coherent linguistic or ethnic group at this juncture.“
Das Kurdentum zeichnet sich also mehr durch Heterogenität als duch eine einheitliche Kultur aus und es stellt sich die (hier leider nicht zu beantwortende) Frage, ob der Begriff „Kurdentum“ nicht eher ein Konstrukt und Instrument nationalistischer Bewegungen ist als eine Bezeichnung für eine reale kulturelle bzw. ethnische Gruppe.
Was nun als „Kurdentum“ oder als„die kurdische Kultur“ bezeichnet wird, werde ich in den folgenden Kapiteln darstellen. Um trotz des hohen Masses kultureller Diversität innerhalb des Kurdentums einen möglichst großflächigen aber nicht zu oberflächlichen Überblick zu bieten, werden sich einige Kapitel dieser Arbeit eher generell mit der kurdischen Kultur auseinandersetzen, während sich andere Kapitel auf ein konkretes Beispiel (in diesem Fall das Dorf Sisin in der türkischen Provinz Hakkari) beziehen werden und somit ein detaillierteres, wenn auch nicht auf die Gesamtheit der Kurden übertragbares Bild liefern.
$2. Basisinformationen$
$2.1 Geographische Lage „Kurdistans“, Bevölkerung und Sprachen$
Histgesehen sind die Kurden wahrscheinlich Abkömmmlinge indo-europäischer Stämme, die um die Zeit 1500 v.Chr. über den Iran nach Westen migrierten. Seit mindestens 2500 Jahren sind sie auf dem Gebiet angesiedelt, das sich heute über vier Staaten erstreckt: Ostanatolien (Türkei), Nordirak, Nordostspitze Syriens und Westiran. Die Größe des ethnographischen „Kurdistans“, also dem kurdischen Siedlungsgebiet, beträgt zwischen 440 000 und 490 000 qkm. Es besteht aus unwegsamem Gebirge und Plateaus, das Herzstück bildet dabei das Zagrosgebirge. Schätzungen über die Größe des kurdischen Volks gehen weit auseinander. David McDowall gibt 24-27 Millionen an. Dabei geht er von folgender Verteilung der Kurden aus: Mindestens 13 Millionen auf türkischem Gebiet (ca. 23% der Gesamtbevölkerung der Türkei), 4,2 Millionen im Irak (ca. 23% der Gesamtbevölkerung des Iraks), 5,7 Millionen im Iran (10% der Gesamtbevölkerung des Irans) und eine Million in Syrien (10% der Gesamtbevölkerung Syriens). Ungefähr eine weitere Million sind über Europa und ex-sowjetische Staaten verstreut.
Sprachlich herrscht eine große Vielfalt. So unterscheidet man zwei Dialektgruppen, die jeweils den iranischen Sprachen zugerechnet werden: Kurmanci, die Sprache der meisten nordischen Kurden und Sorani, welches im Süden gesprochen wird. Von diesen Sprachen gibt es etliche regionale Dialekte. Zudem gibt es Gurani (Dialekt in bestimmten Regionen Südkurdistans), Zaza (im Nordwesten) und ein eher dem Persisch als dem Sorani entsprechenden Dialekt, der im Südosten Kurdistans gesprochen wird.
$2.2 Abriß der kurdischen Geschichte$
Die für uns bekannte Geschichte der Kurden beginnt mit der Eroberung Mesopotamiens im Jahre 637 durch die Araber.[8] Ab diesem Zeitpunkt lebten die Kurden in den folgenden islamischen Reichen und taten sich besonders durch die kriegerische Verteidigung des Reichs hervor. Mit der Errichtung des schiitischen Safawidischen Reichs (dem heutigen Iran) als direkter Nachbar des Osmanischen Reiches im 16. Jahrhundert, wurde Kurdistan zum Grenzgebiet zwischen den zwei Großmächten. Beide Reiche versuchten immer wieder die kurdischen Fürstentümer an sich zu binden, jedoch bewahrten sich diese eine relative Unabhängigkeit. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich an Stärke, so dass es seinen Einfluß über die kurdische Region verlor. Nachdem sich unter den Araber und Türken bereits panislamische bzw. pantürkische Gefühle entwickelten, entdeckten auch die Kurden ihre ethnische Identität und somit ihr Nationalbewußtsein. So intiierte 1880/81 der Kurdenscheich Ubaidallah den ersten Aufstand, der von der Idee der kurdischen Identität geprägt war. Dieser wurde jedoch blutig niedergeschlagen. Nach dem Ersten Weltkrieg legten die Siegermächten im Vertrag von Sèvres (1920) die Aufsplitterung des geschlagenen Osmanischen Reichs fest und stellten den Kurden eine autonome Region mit Potential zum Staat in Aussicht.
Jedoch erwirkte die türkische Nationalbewegung unter der Führung Mustafa Kemals durch den Unabhängigskeitskrieg einen neuen Vertrag, dem Vertrag von Lausanne, der große Teile des geplanten Kurdistans der kommenden Republik Türkei zusprach und die Gründung eines kurdischen Staates gar nicht mehr vorsah. Da sich viele Kurden der folgenden Turkifizierungs-Polititk Mustafa Kemals widersetzten und Aufstände übten, reagierte die türkische Regierung extrem repressiv, indem sie im Laufe der Jahre die kurdische Sprache und das Leben der kurdischen Kultur gänzlich verbot und auch Zwangsumsiedlungen durchführte.
Auch im Irak, der nach dem Ersten Weltkrieg vom Osmanischen Reich abgespalten wurde und bis 1932 unter Britischer Verwaltung stand, wurde die Idee eines kurdischen Staates aus strategischen Gründen abgelehnt. Schließlich fürchtete die Regierung einen transnationalen Zusammenschluß der Kurden, der den Irak in Bedrängnis hätte bringen können. Ähnlich wie auch Mustafa Kemal verfolgte der Iran unter Reza Schah zu dieser Zeit die Politik einer „Iranisierung“ der Bevölkerung und zielte auch im Namen einer Zentralisierung des Staates auf die Auflösung der Stammesstrukturen ab. So waren die Kurden im größten Teil ihres Siedlungsgebietes (mit Ausnahme des syrischen) massiver Unterdrückung ausgesetzt und ein kurdischer Staat lag in weiter Ferne.
Im Jahre1946 jedoch wurde im Schutze der Sowjets im westiranischen Mahabad die gleichnamige kurdische Republik ins Leben gerufen. Die Existenz des ersten und bisher auch einzigen kurdischen Staats war allerdings nicht von langer Dauer, da die sowjetische Besatzungsmacht auf Druck der Amerikaner wieder abzog und die Region vom Iran nach nur elf Monaten zurückerobert werden konnte.
Die Situation der Kurden verschärfte sich in den folgenden Jahrzehnten. So betrieben der Irak (1976-87) und jetzt auch Syrien (60er und 70er Jahre) eine rigorose Arabisierungspolitik, die mit Zwangsumsiedlungen kurdischer Dörfer verbunden war. In der Türkei wurden 1979 regelmäßige Razzien in kurdischen Dörfern eingeführt und im Iran verkündete Khomeini in diesem Jahr den „Heiligen Krieg gegen die Kurden“. Allerdings formierte sich unter den Kurden ein organisierter Widerstand. So gründete Mullah Mustafa Barzani im Irak Ende der 50er Jahre die separatistische Bewegung KDP („Demokratische Partei Kurdistans“). Zur Rivalin dieser feudalistisch ausgerichteten Bewegung wird die linke PUK („Patriotische Union Kurdistans“), die Dschalal Talabani im Jahre 1975 ebenfalls im Irak gründet. In der Türkei entstand neun Jahre später die PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“) unter der Führung Abdullah Öcalans. Statt Kooperation zu üben stehen sich diese Parteien feindlich gegenüber. Durch diese konsequenten innerkurdische Zerrissenheit war schon nach dem Ersten Weltkrieg die Chance auf einen eigenen Staat verloren gegangen.
Der Kampf zwischen den Organisationen und den jeweiligen Regierungen ist seit jeher von enormer Brutalität gekennzeichnet. So initiierte Saddam Hussein 1988 einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Rebellen, wobei die kurdische Stadt Helabja Ziel einer Giftgasattacke wurde. Im April 1991 errichtete die Uno aufgrund des unmenschlichen Vorgehens des irakischen Regimes und den Flüchtlingsströmen eine Schutzzone mit kurdischer Selbstverwaltung nördlich des 36. Breitengrades.
Jedoch auch hier lösten die innerkurdischen Differenzen nach den ersten freien Wahlen 1994 „bürgerkriegsähnliche“ Zustände aus, die erst 1998 durch ein Friedensabkommen zwischen der PUK und der KDP beendet wurden.
In der Türkei sind die terroristischen Akt der PKK seit der Festnahme Öcalans im Jahre 1999 selten geworden.
$3. Soziale und politische Organisation$
Besonders in den von der Außenwelt geradezu abgeschnittenen Bergregionen hat sich die kurdische Gesellschaft traditionelle, soziale Organisationsmuster bewahrt. Diese zeichnen sich durch ein segmentäres System aus.
Die kleinste Einheit bildet die erweiterte Familie, die durchschnittlich fünf bis sechs Mitglieder zählt. Je nach finanziellem Status kann ein Mann polygam mit bis zu vier Frauen leben, eine Entscheidung, die oft wirtschaftliche Gründe hat. Ebenso aus wirtschaftlichen Gründen kann im Fall der Verwitwung einer Frau eine Leviratsehe geschlossen werden. Die Familie ist Teil der Patrilineage (kurdisch: Babik, Bavamal, Hoz oder Khel), die das nächstgrößere Segment darstellt. Diese besteht aus mehreren Familien, die über einen gemeinsamen männlichen Ahnen innerhalb der letzten sechs Generationen verbunden sind. Der älteste lebende männliche Nachkomme dieses Vorfahren stellt das Oberhaupt dieser Gruppe. Die Patrilineage bildet oft ein Dorf oder einen Dorfteil (bei den seßhaften Kurden) bzw. eine Weidegemeinschaft (bei den kurdischen Nomaden), wobei die Beziehungen innerhalb der Patrilineage durch endogame Eheschließungen eng miteinander verwoben sind. Der Patrilineage ist von ihren Mitgliedern eine größere Loyalität zu erbringen als allen anderen sozialen Gruppierungen, da sie auch im Falle eines Konflikts auch als Verteidigungseinheit funktionieren muß. Aufgrund dieser Bedingungen stellt diese Abstammungsgruppe einen „realen politischen Machtfaktor“ in der kurdischen Gesellschaft dar.
Mehrere Patrilineages sind in einem Klan (kurdisch: Taife, Tire) zusammengeschlossen.
Dabei fungiert eine Patrilineage als Führung. Aus ihren Reihen geht auch das Oberhaupt des Klans hervor, das sich durch eine „dominierende wirtschaftliche Stellung“ (meist als agha, Großgrundbesitzer) und guten Kontakten zu anderen Klans auszeichnen muß. Dies ist sinnvoll, da der Klan in erster Linie für die „wirtschaftliche und soziale Absicherung seiner Mitglieder“ sorgen soll. Die Oberhäupter der übrigen Patrilineages bildet das Gremium der „Weißbärte“, die dem Klanchef als beratende Institution zur Seite stehen. Auch gibt es Fälle, in denen sich religiöse Bruderschaften zu einem Klan zusammenschliessen bzw. ein ganzer Klan einer Bruderschaft angehört. In solchen Klans übernimmt der Shaik oder Pir, also der religiöse Oberhaupt die Rolle des Klanchefs.[34]
Mehrere Klans können zusammen einen Stamm gründen. Der Stammesverbund stellt hierbei eine „Interessensgemeinschaft“ der Klans dar und muß nicht auf verwandtschaftlichen Bindungen beruhen. Dabei besteht ein Stamm meist - im Gegensatz zum typischen pastoralen Nomadenstamm Vorder- und Zentralasiens - aus nomadischer und seßhafter Bevölkerung. Die Führung des Stamms wird dabei innerhalb einer bestimmten Führungssippe (Kurd.: Begzadeh, Khawanin) vererbt.
Diese soziale Struktur ist in den ländlichen Gebieten Kurdistans heute noch von großer Bedeutung. Allerdings wurde das kurdische Stammeswesen durch Maßnahmen der Folgestaaten des Osmanischen Reichs zu gunsten größerer staatlicher Kontrolle entmachtet, so dass in einigen Bereichen (z.B. Heiratsrestriktionen, Bedeutung der einzelenen Segmente) zur Aufweichung der Tradition kam.
Für die Minderheit der städtischen Mittelschicht und Intelligenz sind diese traditionellen Stammesstrukturen vollkommen obsolet geworden.
$4. Verwandschaft$
Die Bedeutung von Verwandtschaft und verwandtschaftlichen Beziehungen werde ich anhand Lale Yalçin-Heckmanns Forschung in Sisin, einem kurdischen Dorf in der türkischen Provinz Hakkari erläutern.
Die verwandtschaftlichen Verhältnisse spielen dort eine bedeutende Rolle, da sie sehr eng mit der sozialen Struktur des Stammes verbunden und grundlegend für die wirtschaftlichen Beziehungen sind.
In Sisin wird zwischen der affinalen Verwandtschaft (xism) und der Blutsverwandschaft (xwîm) bzw. der erbenden (also männlichen) Blutsverwandschaft (warîs) unterschieden. Diese Begriffe dienen als Kategorien, die nicht im streng genealogischen Sinne die Verhältnisse beschreiben, sondern eher die sozialen Beziehungen widerspiegeln. Ähnlich verhält es sich mit den verwandtschaftlichen Begriffen, die zur Anrede oder Bezeichnung der einzelnen Individuen gebraucht werden.
So werden die Verwandtschaftsbegriffe oft ausgeweitet, um die Intensität oder die Distanz von Beziehungen zu beschreiben. EGO kann z.B. eine Person als xolat (MZ) bezeichnen, nicht weil sie dies im genealogischen Sinne ist, sondern weil sie für EGO wie eine MZ ist. Neben einer solchen bewußten Erweiterung der Verwandtschaftstermini, werden auch der konsanguinalen Verwandtschaft gebraucht als auch in der affinalen Verwandten die verwandtschaftlichen Begriffe unbewußt erweitert.
In der konsanguinalen Verwandtschaft wird dadurch die patrilineare Struktur und die Nähe innerhalb der patrilinearen Verwandschaftsverhältnisse betont (z.B.: FBS sowie FFBS sind für EGO Mam).
Für die affinale Verwandtschaft sind die Termini noch stärker erweitert, so dass fast alle (bis auf FBW / FFBW und MBW / MMBW ) angeheirateten Personen für EGO als bûk (eigentlich: Braut oder Schwiegertochter) und zava (eigentlich: Bräutigam oder Schwiegersohn) zu bezeichnen sind. Materilateral affinale und die affinale Verwandtschaft sind davon ausgenommen, da dass Verhältnis zu ihnen durch die patrinilieare Ideologie eher durch Distanz geprägt ist.
Durch die Erweiterung der Verwandtschaftsbegriffe und ihren Gebrauch werden laut Yalçin- Heckmann „different possibilities of close kin or affinal group definitions and alliances, male and female avoidance or intimacy, joking behaviour, in-law avoidance and respect code, age and sibling order hierarchy and rivalry, inheritance, and property relations“ wider- gespiegelt.
$5. Wirtschaft$
Das kurdische Siedlungsgebiet ist bis heute größtenteils von Agrarwirtschaft, also Ackerbau und Viehzucht, geprägt. Dies läßt sich dadurch begründen, dass die Industrialisierung die oft schwer zugänglichen Dörfer nur sehr selten erreicht hat und wenn nur in geringem Maße. Nur ein geringer Teil der Kurden (25-35%) siedelt in den Städten, wo sie von Handel, Handwerk und Dienstleistungen leben. Im industriellen Sektor sind laut Zuhdi Al-Dahoodi 5 - 10% der Kurden beschäftigt. Davon arbeitet ein kleiner Teil in kurdischen Kleinunternehmen, die meist Werkstätten oder Manufakturen sind und oft von einer Familie betrieben werden.
Viele Arbeiter hingegen arbeiten in Betrieben des jeweiligen Staates. Schließlich werden die Bodenschätze im kurdischen Siedlungsgebiet wie Öl (im iranischen und irakischen Sektor) und Chrom, Braunkohle, Kupfer, Eisen und Phosphat in der Türkei von den jeweiligen staatlichen Unternehmen bzw. von multinationalen Konzernen abgebaut. Die Wirtschaftsweise eines Dorfes beschreibt Lale Yalçin-Heckmann am Beispiel Sisins in der türkischen Provinz Hakkari. Die Bewohner des Dorfes betreiben sowohl Viehzucht als auch Ackerbau. Dabei ist die Viehzucht (Schafen, Ziegen, Hühnern, Eseln, Pferde, Ochsen und Kühe) die finanzielle Einkommensquelle der dortigen Haushalte. Das Geld wird in erster Linie durch den Verkauf von Tieren eingenommen. Hierbei spielt insbesondere der illegale Handel über die naheliegende Türkisch-Irakische Grenze eine große Rolle. Die tierischen Produkte (Eier, Milch, Fell etc.) werden meist nicht verkauft, sondern sind für den Eigenverbrauch bestimmt. Auch der Anbau von Gemüse und Obst wird in Form von
Subsistenzwirtschaft betrieben. Lediglich die Überschüsse werden für den Tauschhandel mit Dörfern auf dem Flachland benutzt.
Innerhalb des Dorfes selbst findet wenig Handel statt. Nur die Gabe des zekats[54] ist ein festgelegter direkter Warenaustausch zwischen den Dorfbewohnern. Da alle Haushalte mit etwa den gleichen Waren ausgestattet sind, kommt es ansonsten nur zum Tausch, wenn es einem Haushalt an einer Ware mangelt, also eine konkrete Nachfrage da ist. Zudem existiert zwischen den Dorfbewohnern ein reziprokes System, das einen gelegentlichen Austausch von Arbeitskräften zwischen den Haushalten regelt, wenn in einer Familie mehr Arbeit als gewohnt anfällt.
Die Reziprozität und auch der zekat, der an alle Dorfhaushalte verteilt wird und nicht - wie im Islam festgelegt - nur an bestimmte, bedürftige Personen, unterstreichen die Egalität der Dorfbewohner.
$5. Religion$
Mit den Arabern erhielt auch der Islam im Jahre 637 n. Chr. Einzug in das kurdische Siedlungsgebiet. Die Kurden, die zuvor verschiedenen Religionen u.a. auch dem Zoroastrismus und dem Christentum anhingen, konvertierten zum großen Teil zu der neuen Religion.[59] Jedoch bildeten sich verschiedene Strömungen heraus, deren Fundament teilweise noch in den früheren Religionen wurzelt.
Die Mehrheit der Kurden (75%) gehört der am weitest verbreiteten islamischen Strömung an, dem sunnitischen Islam. Im Unterschied zu den Türken folgen sie jedoch der shafi’itischen Rechtsschule und nicht der hanafitischen.
15% der Kurden, so McDowall, sind wie ein Großteil der Iraner Ithna ’Ashari Schiiten. Diese siedeln insbesondere in der iranischen Provinz Kirmanshah.
Des weiteren gibt es mehrere kleinere schiitisch-orientierte religiöse Gruppen.
So gibt es z.B. die Aleviten, unter denen mehrere Gruppen zusammengefaßt sind, die verschiedene schiitische Richtungen gemischt mit prä-islamischen, zoroastrischen und schamanischen Elementen vertreten. Die alevitischen Kurden befinden sich besonders im Südosten der Türkei, wo sie aus religiösen Gründen verfolgt werden.
Aber auch vorislamische Religionen werden von den Kurden praktiziert. So gibt es mehrere christliche Religionsgemeinschaften und Juden. Interessant sind diesbezüglich auch die yezidischen Kurden im Nordirak. Ihre Religion verquickt nämlich sowohl heidnische, zoroastrische, manichäistische Elemente als auch Elemente der drei Buchreligionen miteinander.
$6. Resümee$
Wie schon in der Einleitung erwähnt, hat sich die kurdische Kultur in den verschiedenen Regionen des kurdischen Siedlungsgebietes sehr unterschiedlich entwickelt. Dies mag einerseits an der Geographie, also dem schwer zugänglichen Gebirge liegen, das kaum Infrastruktur zulässt. Andererseits werden es auch die sozialen und politischen Umstände sein, die das kurdische Volk nicht haben zusammenwachsen lassen. Schließlich sind sie noch sehr stark in ihr Stämmewesen verwurzelt. Dieses lässt zwar auch Föderationen zu, aber fördert doch grundsätzlich eine dezentrale, individuelle Stammespolitik.
So gestalteten die kurdischen Fürstentümer zu Zeiten des Osmanischen Reichs ihre Politik nicht gemeinsam, sondern suchten nach individuellen Vorteilen, die sich durch die Kooperation mit dem Osmanischen oder dem Persischen Reich für sie ergeben könnten. Auch als der Vertrag von Sèvres ihnen 1920 zu einem eigenen Staat hätte verhelfen können, fehlte es an einem kurdischem Zusammengehörigkeitsgefühl, da einige Stammesführer ihre Machtinteressen nicht durch illoyales Verhalten gegenüber den neu entstandenen Nationalstaaten nicht gefährden wollten. Diese Stammesstrukturen sind auch heute noch in den überwiegend ländlich geprägten und vorindustriellen Gebieten Kurdistans von enormer Bedeutung.
Die Frage ist also, inwiefern eine Gesellschaft, die durch ihr Stämmewesen so sehr partikularistisch ausgerichtet ist, Träger einer gemeinsamen Kultur sein kann. Und gerade in Bezug auf die kurdische Gesellschaft ist dies eine wichtige Frage, da die Antwort bedeuten kann, ob ein eigenständiger kurdischer Nationalstaat überhaupt eine Existenzgrundlage haben würde.
$7. Bibliographie$
Al-Dahoodi, Zuhdi: Die Kurden. Geschichte, Kultur und Überlebenskampf. Umschau Verlag: Frankfurt a. M., 1987.
Behrendt, Max: 2. Definitionen. Wer sind die „Kurden“?. http://www.unics.uni- hannover.de/nhrkbehr/kap21.html, 2001, [ges.30.07.2002].
Franz, Erhard: Kurden und Kurdentum. Zeitgeschichte eines Volkes und seiner Nationalbewegungen. Deutsches Orient-Institut: Hamburg, 1986.
Günter, Wolfgang: Geschichte der Kurden. http://www.emabonn.de/credits/kurden.htm, [ges. 01.08.2002].
Halve, Jens: Die Kurden: Ein Überblick. http://www.gfbv.de/voelker/nahost/kurden.htm1,1998, [ges. 03.08.2002].
MacDowall, David: A Modern History of the Kurds. I.B. Tauris: New York, London, 1996.
Shaw, Stanford J.: Das Osmanische Reich und die Moderne T ü rkei. in: von Grunewald,
Gustave Edmund: Der Islam II. Die Islamischen Reiche nach dem Fall Konstantinopels.
Fischer Weltgeschichte Band 15, Fischer Taschenbuch: Frankfurt a. M, 1999, 13. Aufl., S. 24- 159.
Yalçin-Heckmann, Lale: Tribe and Kinship among the Kurds. Peter Lang: Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris, 1991.[1]