$Grenzhandel als kurdische Widerstandsform$
Trotz aller Unterdrückungsversuche und Lebensgefahr geht der Grenzhandel über die von den Nationalstaaten über Kurdistan errichteten Grenzen weiter. Die Journalistin Gulmehemedi beschreibt den Grenzhandel auch als Widerstandform gegen das Mullah-Regime.
Aufgrund des US-Embargos wird die ökonomische Lage im Iran nahezu täglich dramatischer. Mit dem Verfall des Werts des iranischen Toman gegenüber dem Dollar verschlechtern sich die Lebensbedingungen weiter. Besonders deutlich wird diese Verarmung in den kurdischen Regionen.
Die Kurd*innen leiden unter der Repression des Regimes und versuchen vor allem, als sogenannte Kolber unter Lebensgefahr ihre Familien zu ernähren. Jeden Tag schultern sie ein Gewicht von 40 bis 50 Kilogramm und überqueren die von den Kolonialstaaten über Kurdistan gezogenen Grenzen. Sie stammen aus Rojhilat – der kurdische Name für Ostkurdistan – das seit langen Jahren von persischen Herrschern und heute vom Mullah-Regime besetzt ist. Dabei befinden sie sich sowohl im Visier der iranischen als auch der türkischen Armee. Fast täglich treffen Meldungen von durch Sicherheitskräfte, insbesondere iranischen Pasdaran gefolterten oder ermordeten Kolbern ein. Gefangene werden selten gemacht, häufig werden die kurdischen Träger einfach erschossen.
Die kurdische Journalistin Hiwa Gulmehemedi beschäftigt sich intensiv mit der Lage der Kolber. Sie sprach mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya über die Situation der Lastenträger.
Die Gründe der Krise
Gulmehemedi berichtet von einer deutlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Iran, insbesondere in den vergangenen zehn Jahren. Die Lebenshaltungskosten stiegen täglich, erklärt sie: „Eine Ware, die vorher 1.000 Toman gekostet hatte, kostet jetzt 30.000 Toman. Jeden Tag steigen die Preise ebenso wie die Arbeitslosenquoten weiter. Gleichzeitig sinken die Löhne. Es gibt sehr viele Familien, die sich nicht mehr mit dem alltäglichsten Bedarf versorgen können.“
„Atomprogramm und Aufrüstung trotz massiver ökonomischer Probleme“
Gulemehemedi betont, die Regierung des Iran bemühe sich in keiner Weise um eine Lösung der Krise und trage damit deutlich zur Verschlechterung der Lage bei. „Wirtschaft und Diplomatie entwickeln sich voneinander abhängig. Wenn die diplomatische Ebene gestört wird, dann geht auch die Wirtschaft den Bach herunter”, erläutert sie. „Der Iran stellt für viele Staaten einen Quell von Problemen dar. Es schafft ständig neue Probleme für die umliegenden Staaten. Trotz so massiver wirtschaftlicher Probleme rüstet er auf und betreibt sein Atomprogramm. Der Iran dringt in Teile des Irak, Syriens und des Libanons ebenso wie in andere Länder ein und verhält sich kriegstreiberisch. Es gibt auch im Iran keinen gesellschaftlichen Frieden. Jeden Tag werden Menschen verhaftet, die Gefängnisse werden gefüllt, Hinrichtungen durchgeführt. Die Gesellschaft und ihre Forderungen haben keine Bedeutung. Nur die zum Regime gehörigen Kreise werden versorgt. Solange die Situation so ist, werden sich die Probleme weiter verschärfen.“
Haltung des Regimes gegenüber Kurd*innen
Der Iran sehe die von Kurd*innen bewohnte Region als „Kriegsfokus“ an, sagt die Journalistin und führt aus: „In Kurdistan herrscht im Moment eine Form der Militärherrschaft. Es existieren mehr als 2005 Militärbasen. Der Geheimdienst ist sehr aktiv. Es gibt tausende Agenten. Es gibt die als „Besidsch“ bezeichneten geheimen bewaffneten Gruppen. Wenn die Regierung Bedarf verspürt, dann werden diese Gruppen aktiviert. Dann gibt es noch die Pasdaran. Sie betrachten das kurdische Volk als Feind. Daher gibt es hier ein massives Sicherheitsproblem. Aufgrund dieses Sicherheitsproblems verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage weiter, und die Kurd*innen befinden sich in einer furchtbaren Lage. Das Regime investiert praktisch nicht in die Region.“
Kolber: Eine Praxis des Widerstands gegen die „Unterwerfung“
Gulmehemedi warnt, die Arbeitslosigkeit in den kurdischen Gebieten habe gigantische Ausmaße angenommen, während das Regime die Menschen mit Repression unter Kontrolle zu halten versuche. Die Journalistin sieht in der Arbeitslosigkeit und der Krise den Hauptgrund, warum es so viele kurdische Kolber gibt. Sie sagt: „Kolber zu sein ist keine Arbeit oder Beruf. Man versucht, die Kurd*innen durch Hunger zu erziehen und unter Kontrolle zu halten. Die Menschen werden Kolber, weil sie nicht unter der Kontrolle des Systems bleiben wollen und das, was ihnen aufgezwungen wird, nicht bereit sind zu akzeptieren. In der letzten Zeit können wir eine deutliche Zunahme der Anzahl der Kolber beobachten. Unter den Kolbern gibt es mittlerweile Frauen, Jugendliche, Kinder, Studierende, Musiker und Künstler. Das, was die Kolber transportieren, sind auch keine verbotenen Güter. Es sind Dinge, die sie auf dem Markt verkaufen. Das Regime tötet ständig Kolber. Wenn sie keine Kolber wären, dann würden sie hungrig und abhängig sein und unter die Kontrolle des Regimes geraten. Deshalb bringt das Regime ständig Kolber an der Grenze um.“
Identitätssuche steht im Vordergrund
Die Journalistin berichtet, dass die Repression die Kurd*innen in Rojhilat stark politisiert habe und erläutert: „Die Organisierung hat die Situation stark verändert. Früher war das kurdische Bewusstsein an den Grenzen nach Südkurdistan schwach. Die Mehrheit der Menschen dort sind Schiit*innen. Sie waren konfessionell mit dem System verbunden. Nun hat sich die Lage verändert. Identität steht nun vor Konfession. Die Menschen treten für ihre kurdische Identität ein. Wir sehen, dass sie ständig Aktionen machen.“
„Einheit ist die Lösung“
Ein großes Manko sei die Spaltung der kurdischen Parteien in Ostkurdistan: „Die PDK-I spaltete sich in zwei Teile, Komala in fünf Fraktionen, Xebat in zwei und die Revolutionäre Einheit in zwei Teile. Das hat sehr negative Auswirkungen auf die Bevölkerung. Das Volk hatte sich zerstreut. Bis jetzt ist die PJAK die einzige Kraft, welche die Organisierung ständig vorantreibt. Die anderen Parteien haben sich zurückgezogen. Sie sind jetzt in Südkurdistan und stehen unter dem Einfluss der dortigen Regierung. Das größte Problem ist, dass die Parteien keine Einheit bilden und nicht zusammenarbeiten. Das Volk ist bereit, jetzt müssen noch die politischen Parteien zusammenkommen.“
Drei Minuten für Todesurteil
Gulmehemedi fährt fort: „Überall im Iran finden Hinrichtungen statt, aber in Ostkurdistan sind es besonders viele politische Hinrichtungen. Während in anderen Regionen das Strafrecht im Vordergrund steht, werden in Ostkurdistan die Menschen vor allem aus politischen Gründen hingerichtet. Das geschieht aufgrund der Politisierung der Kurd*innen. Wenn ein Kurde in Rojhilat inhaftiert wird, dann kommt in vielen Fällen ohne jegliche Ermittlung eine Todesstrafe heraus. Nur weil sie Recht und Freiheit verlangen. Ferzat Kermanger wurde in einem dreiminütigen Verfahren zum Tode verurteilt. Die Verteidigung wurde nicht einmal angehört. Solche Beispiele gibt es viele.“
Spezialpolitik gegen gefangene Frauen
Die Journalistin geht abschließend auf die Situation der Frauen ein und sagt: „In einer Zelle für drei Personen befinden sich 30 Gefangene. Die Gefängnisse sind absolut überfüllt. Das allein ist schon eine Menschenrechtsverletzung. Die Lebensbedingungen in den Gefängnissen sind sehr schlecht. Aber den Frauen geht es noch schlechter. Männer werden misshandelt, wenn sie inhaftiert werden, aber das, was mit Frauen geschieht, ist viel furchtbarer. Sie leben in permanenter Bedrohung.“ [1]