In unserer Reihe „Jung, Jesidisch, Erfolgreich“ stellt die Stelle für Jesidische Angelegenheiten junge JesidInnen vor, die in Deutschland und Europa nicht nur eine neue Heimat gefunden haben, sondern mit besonders gutem Beispiel in unserer Gesellschaft vorangehen und uns zeigen, wie Integration und das Erfüllen individueller Träume Hand in Hand gehen.
Jihan Alomar, eine junge jesidische Frau von 18 Jahren – sehr höflich, wortgewandt, gebildet. Sie könnte in Berlin, München oder Stuttgart aufgewachsen sein. Sie macht einen ganz normalen Eindruck. Zu unserem Interview treffen wir uns in Tübingen, der Stadt Friedrich Hegels und Friedrich Hölderlins, von denen Jihan fasziniert ist. Sie macht einen ganz normalen Eindruck eben – wäre da nur nicht die über alle Maße hinaus für BerlinerInnen, MünchnerInnen oder StuttgarterInnen ihres Alters unvorstellbare Lebens- und Leidensgeschichte der jungen Jesidin: mit zehn Jahren nimmt ihr die Terrororganisation Islamischer Staat den geliebten Vater, sie landet in Gefangenschaft der Terrormiliz, sieht den Genozid an den Jesiden mit ihren eigenen Augen und ihr geht damals das Herz beim Gedanken an Selbstmord auf.
Doch die Völkermord-Überlebende hat sich nicht unterkriegen lassen: ihr gelingt die Flucht aus den Fängen des IS, findet einen Weg nach Deutschland und erzählt ihre Geschichte stellvertretend für ihr gesamtes Volk und mit einem Selbstbewusstsein, das die verlausten IS-Anhänger erstarren lässt. In ihrem Buch „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines Lebens“ erzählt die tapfere Frau von einem Schicksal, das man seinen ärgsten Feinden nicht zu wünschen vermag.
Das Interview wurde geführt von Gohdar Alkaidy.
Bei sommerlichen Temperaturen treffen wir Jihan. Sie spricht fließend Deutsch, bedankt sich für die Anfahrt. Sie schlägt ein Café im Herzen Tübingens für unser Interview vor. Gesagt, getan und nach wenigen Minuten sitzen wir bei Kaffee und Kuchen zusammen. Ungezwungen erzählt Jihan, wie schön sie ihre neue Heimat Baden-Württemberg findet – und wie dankbar sie ist, so herzlich aufgenommen worden zu sein: „Auch wenn mir Unbeschreibliches in jungen Jahren passiert ist, denke ich, dass ich mich noch immer glücklich schätzen kann“, erzählt sie mit spürbarer Dankbarkeit. Aber den Jesiden sei es nicht vergönnt, so viel Glück zu haben wie sie selbst. „Ich bin dankbar dafür, dass Deutschland uns mit so viel Herz aufgenommen hat“, führt sie fort.
Die Dankbarkeit kommt nicht von Ungefähr: als 10-järiges Mädchen erlebt sie Krieg, Verlust liebster Menschen, Verschleppung, Sklaverei, Mord. Vor ihren Augen. Sie mitten drin. Als 10-jähriges Mädchen. Eine hollywoodreife Lebensgeschichte, die nicht mal mehr niedergeschrieben werden muss. Denn die nun 18-jährige Jesidin hat in einem Buch festgehalten, was unvorstellbar ist. Der Titel: „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines Lebens“.
„Ich will, dass die Welt erfährt, welches Unrecht meinem Volk angetan wurde“, sagt Jihan.
Wir von SJA bedanken uns bei der jungen Frau für ihren unermüdlichen Einsatz. Wir bedanken uns, dass sie nicht still geblieben ist. Sie antwortet, der Dank gebühre an erster Stelle ihren sehr guten Freunden. „Sie sind für mich Familie.“ Sie nennt Marvin Jiyan und seine Mutter Zînê Balletshofer. „Jiyan ist leider Gottes durch einen unverschuldeten Autounfall ums Leben gekommen.“
Damals sei ihre Welt zusammengebrochen, alte Wunden wieder aufgerissen. Das gemeinsame Buchprojekt, was noch nicht ansatzweise vollendet worden war, droht zu scheitern.
„Aber Zînê hat mir trotz ihrer schweren Zeit, ihrer Trauer um ihren Sohn, mir unter die Arme gegriffen“, sagt Jihan mit großem Stolz auf ihre Freundin Zînê, der Mutter Jiyans. Gemeinsam vollenden sie das Buch. Keine der beiden Frauen verdient auch nur einen Cent an dem Buch.
„Ein Großteil der Einnahmen geht an die Menschenrechtsorganisation HAWAR.help in Berlin“, erzählt sie uns. Sie möchte einfach die Welt wissen lassen, was passiert ist. „Nicht mehr, nicht weniger. Es wurden unschuldige Menschen einfach so umgebracht – vor unser aller Augen.“ Deswegen mache sie viel Aufklärungsarbeit bei Jugendlichen. „Ich bin bei HAWAR.help auch Wertebotschafterin, wir machen School Talks, klären auf. Es soll nicht umsonst gewesen sein, was uns widerfahren ist,“ sagt sie.
Was ihr widerfahren ist: zehn Mitglieder ihrer Familie hat sie verloren, vermutlich tot. Unter ihnen ihr Vater und zwei ihrer Onkel. „Mein Bruder und meine Schwester sind noch immer in Gefangenschaft. Nach dem Krieg haben wir von beiden ein Lebenszeichen erhalten, aber seitdem nichts mehr. Beide sind wahrscheinlich noch immer in Syrien“, erzählt sie sichtlich bedrückt. „Aber all das wird mich und meine Familie nicht unterkriegen lassen. Wir machen weiter. Und zwar entschlossener als je zuvor. Ich mache deswegen auch gerade meinen Realschulabschluss“, sagt sie nebenbei. Danach möchte sie ihr Abitur machen. „Vielleicht kann ich ja irgendwann ein Studium der Politikwissenschaften machen“, sagt sie mit bisschen Verlegenheit. Bis hierhin habe sie nur mit viel Unterstützung geschafft. „Ich bin ja mit dem Sonderkontingent hierhergekommen. Ich war damals noch ein Kind, erinnere mich dunkel an Herrn Dr. Blume, dem meine Familie und ich sehr dankbar sind.“ Nach einer kurzen Pause sagt sie mit einem Lächeln: „Eigentlich sollte ich mich mal auch persönlich bei ihm bedanken!“ Wie gut, dass Herr Dr. Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, Unterstützer unserer Stelle für Jesidische Angelegenheiten ist.
SJA: „Sollen wir ihm deinen Wunsch auf einen Kaffee überbringen?“
Jihan: „Das würde mich sehr freuen.“
Bevor wir zu viel verraten: wer mehr über Jihans Geschichte erfahren möchte, dem sei ihr Buch „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines Lebens“ (hier bestellen) ans Herz gelegt.
Wir sind uns sicher, dass wir noch viel von Jihan hören und lesen werden. Vielen Dank für deine Tapferkeit, liebe Jihan.[1]