Kemalisten protestieren gegen eine ARD-Dokumentation zu den Dersim-Massakern mit deutschem Giftgas. Schätzungsweise 50.000 kurdische Aleviten wurden in den Jahren 1937/38 in #Dersim# getötet.
Die Proteste türkisch-nationalistischer und kemalistischer Verbände gegen die ARD-Dokumentation „Das vergessene Massaker – Wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ“ reißen auch rund zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Beitrags am 1. Dezember 2019 nicht ab. So hat der Atatürk-Gedanken-Verein (ADD) Berlin-Brandenburg für Samstag zu einer weiteren Kundgebung vor dem ARD-Hauptstadtstudio aufgerufen. Und die Türkische Gemeinde Deutschlands (TGD) beklagt in einer Stellungnahme vom Donnerstag eine „unseriöse Berichterstattung“. Der Sender habe in der am 1. Dezember im Rahmen des Kulturmagazins „Titel, Thesen, Temperamente“ ausgestrahlten rund sechsminütigen Sendung den „Gründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atatürk mit der absurden These, ‚er wollte einen Staat, einen Führer, eine Sprache und eine Religion: den sunnitischen Islam‘ verunglimpft. Dabei werde „mit der „unhaltbaren Behauptung, ‚er arbeite dafür auch mit dem Hitler-Regime zusammen‘ versucht, die faschistische Zielsetzung des NS-Regimes in Deutschland mit den humanistischen Gründungsidealen der Türkei in Verbindung zu bringen.“
Im türkischen Fernsehen gab es sogar eine Podiumsdiskussion über die angebliche Gleichsetzung von Atatürk und Hitler durch die ARD. Gesehen hatte die Sendung wohl keiner der Diskutanten, denn eine solche Gleichsetzung fand in der ARD-Dokumentation schlicht nicht statt. Doch nicht nur regierungsnahe Blätter, sondern selbst die aus der Tradition der linksradikalen Dev Yol kommende Zeitung Birgün plapperte diese Lüge nach. Auf ihrer Website fühlt sich die ARD daher inzwischen genötigt, zu betonen: „Wir haben Kemal Atatürk nicht mit Adolf Hitler verglichen oder gleichgesetzt.“
„Eine blutige Operation“
Was auffällt: keiner derjenigen, die gegen die ARD-Dokumentation protestieren, geht auf den zentralen Vorwurf ein, dass die kemalistische Türkei 1937 bei den Nazis in Deutschland Giftgas eingekauft hat, um es gegen die rebellischen kurdischen Aleviten in Dersim einzusetzen. Dass dies so war, zeigen Karaman Yavuz und Thorsten Mack anhand von Dokumenten aus dem türkischen Staatsarchiv. Ein geheimes Dekret über die Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas und Chloracetophenon nebst einer automatischen Abfüllanlage vom 7. August 1937 trägt die Unterschrift Atatürks. Die Bestellung erfolgte, nachdem die türkische Regierung in einem Geheimbeschluss eine „Endlösung“ für die Bergprovinz Dersim beschlossen hatten, deren kurdisch-alevitische Bewohner sich der von Ankara erzwungenen Türkisierung widersetzten und auf althergebrachten Autonomierechten bestanden. Schätzungsweise 50.000 kurdische Aleviten wurden in den Jahren 1937/38 in Dersim, das von der Regierung in den türkischen Namen Tunceli (Bronzefaust) umbenannt worden war, von der türkischen Armee ermordet. Dass damals auch Giftgas zum Einsatz kam, hatten Zeitzeugen berichtet. Auch der ehemalige türkische Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil bestätigte in einem Tondokument den Einsatz solcher Waffen. „Sie hatten in Höhlen Zuflucht gefunden. Die Armee hat Giftgas benutzt – durch Eingänge der Höhlen. Sie wurden vergiftet wie die Ratten. Sieben- bis siebzigjährige Dersimer Kurden wurden geschlachtet. Es war eine blutige Operation.“
CHP: Reflexartig Gewehr bei Fuß
Die in der ARD-Sendung präsentierten Dokumente mit Atatürks Unterschrift waren im Frühjahr 2019 erstmals in der Dersim Gazetesi und anschließend u.a. von Arti Gercek und Yeni Özgür Politika veröffentlicht worden, ohne aber außerhalb linker, kurdischer und alevitischer Kreise größere Wogen zu schlagen. Damals war Oberbürgermeisterwahlkampf in Istanbul und der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu war auf die Stimmen der kurdischen und alevitischen Wähler angewiesen. Über die Vergangenheit wurde daher von Seiten der Kemalisten lieber geschwiegen, um diese Wählergruppen nicht wieder zu entfremden. Derartige Rücksichtnahme ist heute, wo ein Großteil der Kemalisten einschließlich Imamoglu angesichts des türkischen Angriffskrieges auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien wieder reflexartig Gewehr bei Fuß an der Seite des Staates steht, nicht mehr nötig. Stattdessen wird jetzt der antikurdische Schulterschluss zwischen Kemalisten aus CHP und Dogu Perinceks Vaterlandspartei, AKP-, MHP- und IYI-Anhängern geprobt. Diese Allianz findet sich auch zusammen, um gegen die ARD-Dokumentation zu Dersim zu protestieren. Zugleich wird der Rausschmiss des Politikwissenschaftlers Burak Copur, der am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen lehrt, in zahlreichen Schreiben an die Unileitung gefordert. Denn der Politologe hatte die Aussagen der ARD-Dokumentation mit einer wissenschaftlichen Stellungnahme gestützt. Die Universitätsleitung hat sich allerdings hinter Copur gestellt.
„Unerhörte Verbindung“
Der Gründungsvorsitzende der TGD und frühere PDS-Bundestagsabgeordnete Hakki Keskin erklärte in einer eigenen Stellungnahme vom Donnerstag ultimativ: „Ich welchem Zusammenhang und mit welcher Begründung auch immer, Atatürk mit Hitler in Verbindung zu bringen, ist unerhört.“ Zumindest der Politikwissenschaftler Keskin, der selbst Bücher zur Geschichte der Türkei verfasst hat, sollte es besser wissen.
Hitler selbst war ein großer Bewunderer Atatürks und unter den Nazis gab es ein regelrechtes „Türkenfieber“. In einem Interview mit der türkischen Zeitung „Milliyet“ erklärte Hitler im Juli 1933, Atatürk sei für ihn in seiner Münchner „Kampfzeit“ ein „leuchtender Stern“ gewesen. Eine Atatürk-Büste des NS-Bildhauers Jose Thorak soll eine von Hitlers liebsten Besitztümern gewesen sein. Und 1933 veranstaltete die SA in Berlin eine Feierstunde zum zehnjährigen Bestehen der türkischen Republik.
Hakenkreuze gegen Halbmond ausgetauscht
Umgekehrt beklagte Atatürk nach Aussagen seiner Adoptivtochter Sabiha Gökcen im Jahr 1937, dass Hitler ein „Rassist“ sei. „Er ist ein Wahnsinniger, der die Deutschen als eine besondere, gehobene Rasse betrachtet“ erklärte Atatürk. Da Atatürk schon die Türken als eine solche besondere gehobene Rasse ansah, mussten die Weltanschauungen der Nazis und der Kemalisten in diesem Punkt zwangsläufig kollidieren. Es ist zwar richtig, dass die Regierung in Ankara von den Nazis politisch oder rassisch als Juden verfolgten deutschen Wissenschaftlern Zuflucht bot, um deren Fähigkeiten für den Aufbau des türkischen Staates zu nutzen. Doch gleichzeitig zeigte die kemalistische Führung offene Sympathie mit zentralen Elementen der faschistischen Ideologie, was die Nazis zur Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei nutzten. Der deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen, beeinflusste die Panturkisten-Bewegung um Alparslan Türkeş – den späteren Führer der Grauen Wölfe – im Sinne der völkischen Weltanschauung der Nazis. Und deutsche Berater bauten damals den Militärgeheimdienst der Türkei auf. Auch Flugzeuge, die zum Abwurf von Gasbomben über Dersim eingesetzt wurden, kamen zum Teil aus Deutschland. So orderte Ankara 24 zweimotorige Bomber vom Typ He 111 J. Die in den Heinkel-Werken Oranienburg (HWO) gefertigten Flugzeuge wurden ab Oktober 1937 über Bulgarien nach Istanbul geliefert. Es gibt noch Bilder, die zeigen, wie türkische Soldaten die Hakenkreuze an den Flugzeugen gegen den türkischen Halbmond austauschen.
Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt
Das Deutsche Reich wurde zwischen 1933 und 1938 zum größten Rohstoffimporteur und wichtigsten Partner beim Aufbau der türkischen Industrie. Die Beziehungen beider Länder erreichten einen ähnlichen Stand wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die offiziell neutrale Türkei hielt unter Atatürks Nachfolger Ismet Inönü dem Deutschen Reich mit Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes vier Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 militärisch den Rücken frei. Dazu kamen umfangreiche Rohstofflieferungen für die deutsche Rüstungsproduktion. „Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt, sind die Deutschen und die Türkei gezwungen, in einem sich ergänzenden Wirtschaftsraum zu leben. Die Welt muss der Realität entsprechend gesehen werden“, rechtfertigte Yunus Nadi, Chefredakteur der kemalistische Zeitung Cumhuriyet, 1941 diese Politik. Die Cumhuriyet schmückte ihre Titelseite mit den Bildern Inönüs und des „Führers“. Lediglich von symbolischer Bedeutung war am 23. Februar 1945 die Kriegserklärung Ankaras an das bereits besiegte Deutsche Reich.[1]