Ein Feuer auf dem Dach des Tyrannenpalastes, entzündet von einem Schmied, leitete für die Kurden der Vergangenheit eine Zeit des Friedens und der Freiheit ein – so die Legende. Doch im Hier und Jetzt ist der Frieden und die Freiheit der Kurden noch immer in weiter Ferne.
Die Statue von Kawa dem Schmied stand im Herzen der Stadt Afrin, bis sie im März 2018 von der türkischen Armee und syrischen Islamisten niedergerissen wurde. Internationale Medien berichteten, dass kurz nach der Eroberung Planierraupen vorrollten und die Statue von ihrem Sockel holten. In der kurdischen Mythologie spielt die Legende des Schmieds eine außerordentlich wichtige Rolle. Sie ist ein zentrales Element der kurdischen Geschichte, Kultur, Sprache und des Alltagslebens. Die Kurden betrachten diese Zerstörung daher nicht nur als einen Akt von Vandalismus, sondern als bewusste Verletzung und Herabwürdigung ihrer Identität.
Die Legende und der Name
Vor langer Zeit soll es einen Tyrannen namens Zohak oder Dahak gegeben haben. Diesem grausamen Herrscher wuchsen zwei Schlangen aus den Schultern. Um ihren Hunger zu stillen, bedurfte es Gehirne oder Lebern junger Menschen. Also ließ der Despot jeden Tag zwei junge Menschen töten, um sie an seine Schlangen zu verfüttern. Er terrorisierte damit die Menschen seines Reiches, sodass große Teile der Bevölkerung aus Angst in die Berge flohen. Dort gelang es einem einfachen Schmied, die Menschen zum Widerstand gegen Zohak zu bewegen.
Der junge Schmied fertigte Waffen für sich und seine Mitstreiter an. Sie rebellierten gemeinsam und schließlich gelang es dem Schmied, dem Tyrannen und seinen Schlangen mit seinem Schmiedehammer den Garaus zu machen. Auf dem Dach des Tyrannenpalastes entzündete er ein Feuer. Dieses Feuer sollte das Ende der Tyrannei und den Beginn eines neuen Tages verkünden (Newroz). Für die Menschen bedeutete das Feuer eine neue Zeit des Friedens und der Freiheit. Sie riefen „Ka ewa“, was aus dem Kurdischen als „wo ist er“ oder „wer ist er“ übersetzt werden kann. So entstand der Männervorname „Kawa“, der heute unter den Kurden in Syrien, in der Türkei, im Irak und im Iran einer der bekanntesten Vornamen ist.
Der Legende nach sollen sich die Ereignisse zu Beginn des Frühlings abgespielt haben. Auf dieser Grundlage wurde später die neue Zeitrechnung der Kurden eingeführt. Daher beginnt das kurdische Neujahr Newroz/Nowruz am 21. März. Auch das iranische Jahr beginnt an diesem Datum. Die kurdische Sprache gehört zu den iranischen Sprachen der indoeuropäischen Sprachenfamilie. Daher rühren die vielen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und anderen iranischen Völkern wie den Persern, Tadschiken, Paschtunen oder Belutschen. Alle diese Gemeinschaften feiern das Newroz-Fest zu Beginn des Frühlings. Auch von einigen nicht-iranischen Völkern Zentralasiens wurde dieses Fest übernommen.
In der Neuzeit erklärten die Kurden das Newroz-Fest zu ihrem Nationalfeiertag. Doch die Machthaber in den Staaten, die das Kurdengebiet untereinander aufteilen, lehnten dies ab. Ihre Haltung führte dazu, dass die Kurden das Newroz-Fest als Fest der Freiheit betrachten. Insbesondere die Türkei ging brutal gegen Kurden vor, die das Fest begingen. Bis Ende der 90er Jahre war es dort strikt verboten. Tausende mussten viele Jahre in türkischer Haft verbringen, weil sie das Fest trotz des Verbotes feierten.
In den Jahren 1991 und 1992 spitzte sich die Situation bei den Feierlichkeiten zu: Es starben 125 Menschen bei dem Versuch türkischer Sicherheitskräfte, das Verbot durchzusetzen. Das Verbot wurde schließlich im Jahre 2000 aufgehoben. Seither dürfen die Menschen das Fest legal feiern – jedoch nicht als kurdisches Fest Newroz, sondern als „Nevruz, das in der Türkei in Vergessenheit geratene alttürkische Fest“.
Auch in Syrien hatten verschiedene Regierungen das Newroz-Fest verboten. Sehr gut erinnere ich mich an die Tage Ende der 60er, als syrische Polizisten in kurdischen Dörfern auftauchten. Sie schlugen Frauen und Männer zusammen, wenn sie sie in der Nähe eines Feuers im Freien erwischten. Selbst kurdische Hirten, die in der Nacht vom 20. auf den 21. März ein Feuer entzündeten, um sich zu wärmen, wurden verhaftet und gefoltert.
Mit Verboten konnten die Machthaber in Damaskus die Massenfeierlichkeiten als Symbol des Freiheitskampfes jedoch nicht verhindern. Die Schülerinnen und Schüler in den Kurdengebieten blieben am 21. März zu Hause, um Newroz zu feiern. Auch viele Angestellte erschienen nicht zur Arbeit. Nachdem es immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen am Newroz-Tag kam, erklärte die Regierung in Syrien ab 1982 den 21. März zu einem gesetzlichen Feiertag, dem „Muttertag“ in Syrien. Im Iran wurde Newroz nie verboten und im Irak ist Newroz als kurdischer Nationalfeiertag seit 1958 ein gesetzlicher Feiertag.
Internationale Anerkennung der Newroz-Legende
Am 30-09- 2009 wurde Newroz von der UNESCO in die Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ aufgenommen. Seit dem 10. Mai 2010 ist Newroz auf Beschluss der 64. Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) als internationaler „Nowruz-Tag“ anerkannt. Die UN-Generalversammlung stellte in ihrer Erklärung fest, dass „Nowruz ein Frühlingsfest ist, das von mehr als 300 Millionen Menschen seit mehr als 3.000 Jahren auf der Balkanhalbinsel, in der Schwarzmeerregion, im Kaukasus, in Zentralasien und im Nahen Osten gefeiert wird“.
Bei allen Volksgruppen, die Newroz feiern, beginnen die Vorbereitungen für das Volksfest traditionell am Vortag mit dem Hausputz und der Vorbereitung von Speisen. Am 21. März stehen die Leute früh auf und gehen in die Natur, um dort im Freien zu feiern. Dabei tragen sie frische, festliche Kleidung. In einigen Gegenden besuchen die Menschen die Gräber ihrer Lieben. Gegen Mittag kommen die Menschen in den Familien zusammen, um gemeinsam zu feiern und zu essen. Auch in Deutschland wird Newroz vor allem von Kurden gefeiert. Anlässlich des Newroz-Tages organisieren kurdische Verbände offizielle Empfänge, zu denen hochrangige deutsche Politiker eingeladen werden.[1]