Die stellvertretende Bürgermeisterin der südtürkischen Kreisstadt Seyhan ist auf Betreiben des Innenministeriums abgesetzt worden. Hintergrund der Amtsenthebung ist das Ermittlungsverfahren gegen den kurdischen Kulturverein Binevş in Adana.
Die stellvertretende Bürgermeisterin von Seyhan, Funda Buyruk, ist auf Betreiben des türkischen Innenministeriums des Amtes enthoben worden. Begründet wurde das Vorgehen mit dem Ermittlungsverfahren gegen den Kunst- und Kulturverein Binevş, der in der Provinzhauptstadt Adana im Süden der Türkei beheimatet ist. Man wolle die „Einschüchterung von Zeugenpersonen und Beweisvereitelung“ verhindern, um den Zweck der Ermittlungen nicht zu gefährden, hieß es am Freitag in Ankara.
Bürgermeisterin soll Angehörige von PKK-Gefallenen eingestellt haben
Am 27. Juni waren knapp vierzig Personen unter „Terrorismusverdacht“ festgenommen worden. Es handelte sich hauptsächlich um kurdische Kunstschaffende, Aktive der Zivilgesellschaft sowie Politikerinnen und Politiker. Vier der Betroffenen befinden sich mittlerweile in Untersuchungshaft, der Verdacht lautet auf vermeintlicher „PKK/KCK-Mitgliedschaft“. Buyruk gehört zu den 34 Personen, die zehn Tage nach ihrer Festnahme gegen polizeiliche Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt wurden. Die Motivation hinter dem Verfahren gegen die Organisation Binevş sei „eindeutig politisch“, sagt die mit dem Fall betraute Anwältin Mehtap Sert. Offenkundig legale Aktivitäten wie Veranstaltungen anlässlich des Tages der kurdischen Sprache am 15. Mai oder zum Neujahrsfest Newroz seien als Beweis für „Straftaten im Sinne des Terrors“ umgewidmet worden. Gegen die CHP-Politikerin Funda Buyruk (Republikanische Volkspartei), die 1992 in der nordkurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır) geboren wurde, stünde unter anderem der Vorwurf im Raum, Angehörige von PKK-Gefallenen in städtischen Betrieben untergebracht zu haben.
Polizeikameras und Wanzen in Binevş installiert
Nach Angaben von Mehtap Sert habe der Repressionsschlag gegen den Kunst- und Kulturverein Binevş auch mehrere Überwachungskameras und Abhörgeräte zutage gefördert, mit denen die Polizei Adana die Einrichtung ausspähte. „Eine der Wanzen wurde in einem Umkleideraum angebracht. Doch weder dafür noch allgemein für das Ermittlungsverfahren liegt ein qualifizierter Anfangsverdacht vor“, so Sert. Die Rechtsanwältin will juristisch gegen die Polizeimaßnahme vorgehen. Derweil berichtet die regierungsnahe Presse von den Ermittlungen in Adana unter dem Label „West-Struktur der KCK“ – gemeint ist die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans, die als Dachverband der kurdischen Befreiungsbewegung fungiert. Im Juni waren bereits im westtürkischen Tekirdağ knapp dreißig Personen unter demselben Terroretikett verhaftet worden. Dieses Verfahren richtet sich gegen Mitglieder des HDK (Demokratischer Kongress der Völker) – dem Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden, aus dem 2012 die HDP (Demokratische Partei der Völker) hervorgegangen ist. Die demokratische Opposition sieht in dem Behördenvorgehen gegen die offenbar in Ankara kreierte „West-Struktur der KCK“ Parallelen zur „KCK-Operation“ und befürchtet eine vergleichbare Verfolgungswelle bis zur nächsten Parlamentswahl im Juni 2023.
Die „KCK-Operation“
Die „KCK-Operation“ genannte Verhaftungswelle begann nur einen Tag, nachdem die KCK am 13. April 2009 die Waffenruhe der PKK-Guerilla bis zum 1. Juli verlängert und in einer entsprechenden Deklaration davon gesprochen hatte, dass in der Türkei „zum ersten Mal die Möglichkeit besteht, die kurdische Frage in einem Umfeld der Waffenruhe zu lösen“. Die Operation, die mit der Verhaftung von Politiker:innen und Vertreter:innen von NGOs begann, ergriff wellenförmig alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und betraf auch Bürgermeister:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen (KCK-Presseverfahren), Menschenrechtler:innen und Rechtsanwält:innen. Am Ende der Operation waren etwa 10.000 Menschen unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in der KCK verhaftet worden.
Allein im Rahmen des sogenannten KCK-Hauptverfahrens befanden sich insgesamt 83 kurdische Politikerinnen und Politiker über 18 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie das erste Mal vor Gericht gestellt wurden. In dieser Zeit konnte ihre Verteidigung 15 Monate lang aufgrund eines Geheimhaltungsbeschlusses zu den Ermittlungsakten keinen Widerspruch gegen die Haft einlegen. Dagegen hatten die Anwält:innen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt. Das Straßburger Gericht verurteilte die Türkei 2019 auf Grundlage des Artikels fünf der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Freiheit und Sicherheit regelt. In Absatz vier dieses Artikels heißt es: „Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“
Andauernde KCK-Verfahren
Der EGMR sah es als erwiesen an, dass die Türkei gegen diesen Absatz des Artikels im Falle des KCK-Verfahrens verstoßen hat, und verurteilte Ankara deshalb zur Zahlung von Entschädigungen in Höhe von jeweils 2.750 Euro für insgesamt 99 Angeklagte, die im März 2017 zu 1109 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. Die KCK-Verfahren von Gever und Silopiya gingen erst 2021 zu Ende, ebenfalls mit dutzenden Schuldsprüchen. Das „KCK-Presseverfahren“ gegen 46 Medienschaffende ist auch zehn Jahre nach Anklageerhebung noch immer nicht abgeschlossen.[1]