Der ehemalige Kampfpilot Bahadır Altan sagt zu den türkischen Angriffen auf Südkurdistan und Rojava, deren Rücksichtlosigkeit zeige, dass die Zivilbevölkerung als zu tötender Feind betrachtet werde.
Der frühere Kampfpilot Bahadır Altan gehört heute zu den führenden Mitgliedern der Friedensbewegung in der Türkei. Gegenüber ANF analysiert er auf Grundlage seiner militärischen Expertise die Situation im Krieg um Kurdistan. Hinsichtlich der Drohungen einer neuerlichen Invasion in den Gebieten der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens (AANES) sagt Altan, dass die türkische Regierung einen aggressiven nationalistischen Diskurs brauche, um ihre eigene Basis zu mobilisieren und die der MHP nicht zu verlieren. Aber die Invasionspläne liefen nicht wie gewünscht. Die Türkei hatte beim Teheraner Dreiergipfel zu Beginn der Woche nicht wie geplant grünes Licht von Iran und Russland für eine Syrien-Invasion erhalten. Laut Altan versuche Ankara daher um jeden Preis militärische Erfolge in Südkurdistan zu erringen. Zum tödlichen Artillerieangriff auf die Ferienanlage in Zaxo am vergangenen Mittwoch mit neun toten Gästen und 23 Schwerverletzten äußert der Friedensaktivist: „Ich interpretiere den Artillerieangriff in Zaxo als einen Reflex der Streitkräfte, die mit dem Finger am Abzug warten.“
„Krieg ist Krieg und Besatzung ist Besatzung“
Bahadır Altan kritisiert den euphemistischen Sprachgebrauch im türkischen Diskurs: „Wenn Sie sich erinnern, als die Türkei die ‚Operation Olivenzweig‘ ankündigte, sagte der nordzypriotische Präsident Mustafa Akıncı: ‚Auch wenn man es ‚Olivenzweig' nennt, wird daraus kein Frieden, es handelt sich um Krieg‘, und löste damit heftige Reaktionen aus. Damals hatte es seinen Preis, wenn man das, was geschah, ‚Krieg‘ nannte. Diejenigen, die dieses Wort benutzten, wurden als ‚Terroristen‘ abgestempelt.“ Mustafa Akıncı bezog sich damals auf die Efrîn-Invasion. Der Politiker strebte eine größere Unabhängigkeit Nordzyperns von der Türkei an, wurde dann aber vom Erdoğan-Loyalisten Ersin Tatar abgelöst. Auf die aktuellen Drohungen gegen Nord- und Ostsyrien bezogen fährt Altan fort: „Genauso wenig kann man das Eindringen in einen 30 Kilometer breiten Streifen als Errichtung einer ‚Sicherheitszone‘ bezeichnen. Dies ist nichts anderes als die Besetzung des Territoriums eines anderen Landes. Ich erinnere daran, weil es seither andauernde Angriffe gegeben hat. Deshalb ist es notwendig, richtige Begrifflichkeiten zu benutzen. Es handelt sich eindeutig um Besetzung.“
Bahadır Altan startete Ende der siebziger Jahre seine Karriere bei den türkischen Luftstreitkräften, war Testpilot der Kampfflugzeuge McDonnell F und Lehrbeauftragter. 1992 schied er krankheitsbedingt vom Militär aus und ging zur zivilen Luftfahrt. Ein einschneidendes Erlebnis mit einem seiner Schüler zum verbrecherischen Krieg in Kurdistan, welches er 1990 zu seiner Zeit als Ausbilder von Kampfpiloten im 2. Armee-Hauptquartier in Meletî (tr. Malatya) hatte, prägte ihn und führte zum großen Bruch mit dem Militär. Das zeigt sich in seinen Berichten über seine Erfahrungen bei der türkischen Armee. Unter anderem machte er mit seinen Aussagen über Soldaten, die in den 90er Jahren in Guerillakleidung Massaker an der Dorfbevölkerung Nordkurdistans verübten, Furore. Vor rund 25 Jahren begann sein gewerkschaftliches Engagement bei der zivilen Luftfahrt, 2010 gründete er mit Fachleuten verschiedener Zweige eine Akademie, die Berichte über die türkische Luftfahrt veröffentlichte und Öffentlichkeitsarbeit durchführte. 2015 gehörte Altan zu den Mitbegründern der Initiative „Friedensblock Kadıköy“, die 321 Tage lang jeden Abend vor der Süreyya-Oper eine „Mahnwache für Frieden“ hielt, um die Gesellschaft für den Krieg in Kurdistan zu sensibilisieren. Mehrfach reiste er nach Kurdistan und beteiligte sich an Delegationen, um mutmaßliche Kriegsverbrechen aufzuklären, bei Protesten gegen das Kernkraftwerk Akkuyu wurde er mehrmals festgenommen. Auch nach Rojava reiste Altan, unter anderem als Wahlbeobachter Ende 2017. Er ist Mitglied der HDP.
„Arabische Herkunft der Opfer führte zu Empörungswelle“
Bahadır beschreibt einen Doppelstandard, was die Opfer von Massakern betrifft: „In diesen besetzten Gebieten gab es zahlreiche Angriffe. Viele Zivilistinnen und Zivilisten wurden durch bewaffnete Drohnen und Artilleriebeschuss getötet. Obwohl uns keine offiziellen Zahlen vorliegen, heißt es, dass bereits Dutzende von Zivilpersonen ihr Leben verloren haben. Die Türkei erklärte alle, die in den von ihr angegriffenen Gebieten getötet wurden, zu ‚Terroristen‘. Das alles wurde der Öffentlichkeit in der Türkei durch eine Diskurspolitik eingehämmert. Die Besonderheit des Angriffs in Zaxo ist, dass alle, die dabei ihr Leben verloren haben, arabischer Herkunft waren. Dies hat die Empörung noch verstärkt. Es ist eine sehr tragische Angelegenheit. Denn wenn es sich bei zivilen Toten um Menschen mit kurdischer Herkunft handelt, werden sie als Terroristen betrachtet. Sind die Opfer aber arabischer Volkszugehörigkeit oder Angehörige einer anderen Nation, kommt es zu Protesten in der Öffentlichkeit. Das ist ein weiterer trauriger Aspekt dieser Taten.“
„Die ganze Region wird als Feindgebiet betrachtet“
Altan analysiert das Vorgehen der Armee in Zaxo als Ausdruck einer Einstufung der gesamten Region als „Feindgebiet“. Das bedeutet, dass alle Menschen dort als ‚Terroristen‘ betrachtet werden und daher keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen wird: „Bis heute haben die türkischen Streitkräfte dort immer wieder Angriffe mit bewaffneten Drohnen und gelenkten Waffen durchgeführt. Dieses Artilleriefeuer zeigt aber, dass außer den eigenen und als sicher definierten Gebieten, alle anderen Orte als Feindgebiet definiert werden. Da die Artillerie nicht gelenkt ist, kann eine Granate kilometerweit entfernt von ihrem Zielgebiet einschlagen. Eine Artilleriegranate hat eine Flugbahn wie ein Flugzeug, sie fliegt kilometerweit und wird durch den Wind beeinflusst. Es werden Koordinaten von Drohnen und Aufklärungsflugzeugen mitgeteilt. Diese wurden vor dem Angriff in Zaxo gesehen. Das kann natürlich als nachrichtendienstliche Tätigkeit betrachtet werden. Danach werden Artilleriegranaten auf die festgelegte Koordinate abgefeuert. Mit anderen Worten: Da man wusste, dass das Geschoss nicht zu einem sensiblen Punkt fliegen würde, wurde es einfach so abgefeuert, in dem Verständnis, dass da schon irgendwo Feinde in der Nähe wären. Eigentlich werden zuvor Probeschüsse abgegeben. Das bedeutet, eine Granate wird abgefeuert, und je nachdem, wo sie hinfällt, werden Korrekturen bei der zweiten vorgenommen. Dies sind die Schüsse, die abgegeben werden, um die Abweichung des Geschosses aufgrund der Windeinwirkung und der Beschaffenheit des Geländes zu bestimmen. Das gleichzeitige Abfeuern von vier Artilleriegranaten zeigt ein rücksichtsloses Vorgehen.“
„Zivilisten werden als PKKler deklariert“
Es gebe also eine Sichtweise, in der die Menschen dieser Region als „terroristisch“ betrachtet würden, fährt Altan fort. „Aber dort sterben Zivilistinnen und Zivilisten. Die Regierung sagt, auch wenn es sich um Zivilisten handele, seien es doch PKK-Mitglieder. Aber die PKK ist eine Partei, eine Partei wie die PDK oder die YNK im Irak, sie hat Anhänger und Mitglieder. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um militärische Kräfte. Niemand hat das Recht, sie zu erschießen oder zu töten. Wir sehen dieselbe Feindlogik auch gegen uns gerichtet. Indem man beispielsweise die HDP als verlängerten Arm der PKK bezeichnet, sind jegliche rechtswidrige Vorgehensweisen gegen sie möglich. Wie im Gezi-Prozess werden wieder viele Menschen gegen jedes Recht festgenommen und inhaftiert. So wie Osman Kavala.“
„Die Regierung hat den Angriff nicht vollständig dementiert“
Altan weist darauf hin, dass Ankara das Massaker von Zaxo nicht vollständig abgestritten und den Ball den Streitkräften zugespielt habe: „Die Türkei hat diesen Angriff nicht ausdrücklich dementiert. Das Außenministerium verwendete in seiner Erklärung eine Sprache, die den türkischen Streitkräften den Ball zuspielte. Es schrieb: ‚Nach den Informationen, die wir von den türkischen Streitkräften erhalten haben...‘. Diese Worte werden benutzt, damit sich die Politik rechtfertigen kann, wenn etwas anderes als behauptet herauskommt. Dies ist jedoch das eigentliche Problem, das auch das Massaker von Roboskî betrifft. Die Regierung ist die Hauptverantwortliche für all diese Angriffe. Die Streitkräfte stehen unter ihrem Kommando. Sie muss nicht unbedingt den Befehl erteilen, hier und heute Artilleriegranaten abzufeuern. Das Militär, die Justiz und alle Bürokraten sind bereits in Stellung, um entsprechend der Haltung der Regierung zu handeln.“
So würden Verfahren, in denen Individuen zu „Terroristen“ erklärt werden, von der Regierung beklatscht und gefördert, meint Altan. Für solche „Terroristenjäger“ und ihr illegales Vorgehen gebe es sogar Schutz. Das jüngste Beispiel sei Osman Yarbaş, Generalstaatsanwalt für die südtürkische Provinz Adana, der sich als Drogenbaron entpuppte. Vor wenigen Tagen wurde er beim Transport von Heroin erwischt, zu seinem Netzwerk gehörten auch Polizisten. Als Chefankläger von Adana hat Yarbaş diverse Anklageschriften unterzeichnet, in denen unzählige Menschen des „Terrorismus“ beschuldigt werden.
„Gewünschte Zustimmung zu Invasion nicht erhalten“
Bahadır Altan sieht in der Mobilisierung nationalistischer Gefühle den wichtigsten Trumpf, den die Regierung in den bevorstehenden Wahlen ausspielen möchte. Ankara brauche einen aggressiven nationalistischen Wind, um die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren und die MHP-Basis nicht zu verlieren, aber ihre Invasionspläne steckten fest. „Die Regierung verspricht sich davon einen ‚Erfolg‘. Auch die Operation im Nordirak verläuft in diesem Rahmen. Es wurde erwartet, dass ein wichtiges Ziel in den Regionen Zap und Avaşîn getroffen oder zumindest gefangen genommen wird. Das Gleiche galt auch für Gare. Hätte die türkische Armee einen großen Erfolg erzielt, wären die Wahlen vielleicht viel früher abgehalten worden. Die Regierung will diese Schritte unternehmen, um ihre neoosmanischen Träume zu verwirklichen und mit einem solchen Aufwind in die Wahlen zu gehen. Aber es ist ihr bisher nicht gelungen, die gewünschte Zustimmung der anderen Akteure in der Region für eine Invasion in Nordsyrien zu erhalten. Weder die USA noch Russland noch der Iran... Der Gipfel in Teheran war in dieser Hinsicht sehr wichtig. Die Regierung hält an der Besetzung neuer Regionen fest, und es scheint, dass sie ihre Streitkräfte in dieser Richtung mobilisiert hat. Ich interpretiere den Artillerieangriff in Zaxo als einen Reflex der Streitkräfte, die mit dem ‚Finger am Abzug‘ warten.“
„Die Opposition muss klar Haltung beziehen”
Altan fordert, die Opposition müsse demgegenüber klar Haltung beziehen. „Sie muss ihre Basis davon überzeugen, dass die türkischen Streitkräfte Kriegsverbrechen begehen, die zu politischen Zwecken begangen werden. Die CHP und selbst viele linke Zeitungen berichteten (über das Massaker von Zaxo) unter Berufung auf die Erklärung des Außenministers. Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Vielleicht wird es noch andere Äußerungen geben, dies ist ein entscheidender Punkt. Denn die bisherige Haltung (der Opposition) war der Grund dafür, dass die Regierung so entspannt auf diese Weise agieren konnte. Wenn es sonst um Ereignisse im Ausland geht, sagt die Opposition, sie sei im Geist von Yenikapı [Platz in Istanbul, auf dem Massendemonstrationen gegen den Pseudoputsch von 2016 gehalten werden] an der Seite des Staates, und stellt sich so hinter die AKP. Diese Haltung machte die AKP aggressiver und ermöglichte es ihr, nach Belieben zu agieren. Wenn die Regierung damit rechnet, dass sie mit den ‚Erfolgen‘, die sie an diesen Orten erzielen wird, die Wahlen gewinnen kann, sollte die Opposition dieses Spiel durchschauen. Statt sich hinter die AKP zu stellen, könnte eine gemeinsame Opposition unter Einbeziehung der HDP aufgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Opposition in einem transparenten Prozess auch mit der HDP zusammenkommen und eine gemeinsame Kandidatin oder Kandidaten aufstellen.“[1]