Shingal. Die kurdische Regierung der Autonomen Region #Kurdistan# (ARK) im Nordirak vertreibt gezielt êzîdîsche Familien aus den von ihr kontrollierten Flüchtlingslagern. Dies geht aus einem am Sonntag veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hervor. Demnach haben Sicherheitskräfte mindestens vier êzîdîsche Familien seit Juni 2017 aus den Flüchtlingslagern im Nordirak vertrieben und sie zur Rückkehr in die Shingal-Region gezwungen. Grund für die gewaltsame Vertreibung sei, dass Angehörige dieser Familien innerhalb der Reihen der schiitischen Milizen kämpften. HRW warnt indes vor Kollektivstrafen gegenüber ganzer Familien, darunter auch Frauen und Kinder, die aus der Sklaverei des IS entkommen konnten.
Dem Bericht zufolge haben kurdische Asayish-Sicherheitskräfte mehrere êzîdîsche Flüchtlingsfamilien zwangsweise nach Shingal deportiert, wo der Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen stark begrenzt sei. Die Vertreibung ganzer Familien als Kollektivstrafe sei ein Verstoß gegen das Völkerrecht, so HRW. Die stellvertretende Direktorin von HRW im Nahen Osten, Lama Fakih, fordert, die kurdische Regierung solle die Vertreibung ganzer Familien aufgrund des Verhaltens einzelner Angehöriger einstellen. „Diese vertriebenen Familien haben das Recht, nicht gewaltsam in ihre immer noch zerstörten Dörfer vertrieben zu werden“, so Fakih.
Mehrere Hundert êzîdîsche Freiwillige, viele zuvor Peshmerga-Kämpfer, haben sich im Mai 2017 den sogenannten schiitischen al-Hashd al-Shabi-Milizen (eng. PMU) angeschlossen, um mit deren Hilfe die restlichen von der Terrormiliz „#Islamischer Staat#“ (IS) besetzten Dörfer im Süden Shingals zu befreien. Die kurdische Regierung reagierte sowohl auf die Offensive der schiitischen Milizen als auch auf die Partizipation êzîdîscher Kämpfer mit Drohungen. Im Machtkampf um die Region fürchtet sie an Einfluss zu verlieren. Offiziell ist die Shingal-Region weiterhin Teil des irakischen Zentralstaates. Die Streitkräfte der kurdischen Regierung kontrollieren jedoch sämtliche Hauptzugänge von den Gebieten der ARK nach Shingal. Zudem lebt der Großteil der êzîdîschen Flüchtlinge in Lagern innerhalb der Autonomen Region. Dies machte sich die #PDK#-geführte kurdische Regierung in der Vergangenheit als Druckmittel zunutze, um ihren Machtanspruch mithilfe êzîdîscher Verantwortlichen zu erzwingen.
Ende Juni interviewte HRW neun vertriebene êzîdîsche Familien aus Shingal, deren Dörfer kürzlich von den schiitischen Milizen zurückerobert wurden. Alle hatten bis dahin in Flüchtlingslagern in der ARK gelebt und eine Rückkehr in ihre Dörfer aufgrund der weitflächigen Zerstörungen ihres Eigentums, der dortigen, noch nicht dokumentierten Massengräber, Sprengfallen sowie des Mangels an Wasser- und Nahrungsversorgung abgelehnt, heißt es im HRW-Bericht. Die Familien seien im August 2014 geflohen, als der IS die Region attackierte und Tausende Êzîden massakrierte und versklavte. Alle Befragten hätten erklärt, dass die Asayish ihnen mit Vertreibung drohten, weil Angehörige ihrer Familien den êzîdîschen Brigaden beigetreten sind, die sich den schiitischen Milizen angeschlossen hatten. In vier Fällen gaben die Betroffenen an, gewaltsam von den Asayish nach Shingal vertrieben worden zu sein.
HRW dokumentiert mehrere solcher Vorfälle. Ein êzîdîscher Mann, der in einem Flüchtlingslager nahe Zakho lebt, habe berichtet, dass drei seiner Söhne sich den êzîdîschen Brigaden der PMU-Milizen angeschlossen hätten. Am 12. Juni habe ein Asayish-Offizier ihn aufgefordert, am nächsten Tag im lokalen Asayish-Büro zu erscheinen. Dort habe der Offizier ihm mit der Vertreibung seiner 15-köpfigen Familie aus der kurdischen Region gedroht, sollte er seine drei Söhne nicht dazu bewegen, die PMU zu verlassen und in das Flüchtlingslager zurückzukehren. Ihm sei eine Frist bis zum 21. Juni gestellt worden. Seine Söhne hätten die PMU jedoch nicht verlassen. Daraufhin seien er und seine Familie am 29. Juni von den Asayish aufgefordert worden, das Flüchtlingslager sofort zu verlassen. Er habe um einen Tag Aufschub gebeten, um seine Familie darauf vorzubereiten. Der Asayish-Offizier habe jedoch abgelehnt. Ein Asayish-Angehöriger habe die Familie dann mit einem Fahrzeug nach Shingal gefahren. „Ich weiß nicht, was ich als nächstes tun soll, mein Dorf wurde vollständig zerstört und in dem Gebiet gibt es weder Wasser noch Elektrizität“, so der Familienvater gegenüber HRW.
Eine êzîdîsche Frau aus Shingal, die eineinhalb Jahre in der Gefangenschaft des IS war und nun mit zwei Verwandten nahe der Stadt Duhok lebt, berichtete, dass sich ihre zwei Brüder Mitte Mai den PMU-Brigaden angeschlossen hätten. Am 14. Juni sei sie von einem Asayish-Offizier aufgesucht und aufgefordert worden, am folgenden Tag im Büro der Asayish zu erscheinen. Dort habe der kurdische Offizier ihr dann gesagt, dass wenn ihre Brüder die PMU nicht verließen, sie und ihre zwei Verwandten nach Kocho zurückkehren müssten. Sie habe schließlich ihre Brüder überreden können, die PMU-Brigaden zu verlassen und die Asayish darüber informiert.
Êzîdîsche Aktivisten berichteten gegenüber HRW von 15 weiteren derartigen Fällen. Am 23. Juni habe HRW mehrere Fragen bezüglich dieser Vorfälle an Dr. Dindar Zebari, Vorsitzender der kurdischen Behörde zur Evaluierung und Beantwortung internationaler Berichte, gerichtet, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Dindar Zebari ist in der Vergangenheit mehrfach durch vorsätzliche Falschaussagen aufgefallen, zuletzt im Fall der inhaftierten Êzîdîn Bassima Derwish, die aus der IS-Gefangenschaft befreit werden konnte und unter anderem von Zebari der Kollaboration mit der IS-Terrormiliz bezichtigt wurde.
Das Vorgehen der kurdischen Regierung ist nicht neu. Bereits zuvor setzten die kurdischen Sicherheitskräfte êzîdîsche Flüchtlingsfamilien unter Druck, deren Angehörige sich der PKK-nahen êzîdîschen Widerstandseinheit YBŞ in Shingal angeschlossen hatten. So auch im Fall der êzîdîschen Verteidigungskraft Shingals (HPÊ), deren Oberkommandeur Heydar Shesho im April 2015 verhaftet wurde und eine weitere Verhaftungswelle gegen HPÊ-Mitglieder und Familienangehörige der Kämpfer folgte. Die PDK-geführte Regierung versucht so im Machtkampf um Shingal die Êzîden unter Androhung von Gewalt auf ihre Seite zu ziehen, nachdem ihre 11.000 Soldaten im August 2014 aus Shingal geflohen und den Völkermord an den Êzîden durch den IS ermöglicht hatten.
Mit einer im Jahr 2016 eingesetzten wirtschaftlichen Blockade gegen die Shingal-Region verstärkte die PDK ihren Vorgehen und versuchte so erneut, die Êzîden unter Druck zu setzen, sich ihrem Machtanspruch zu beugen. Seit Mai 2017 habe sich die Situation noch einmal dramatisch verschlechtert, so HRW. So würden für viele Güter, die von und nach Shingal gehen, hohe Zölle erhoben werden, wodurch sie für êzîdîsche Familien und Bauern unwirtschaftlich würden.
Das humanitäre Völkerrecht verböte Kollektivstrafen, darunter jede Form von Strafsanktionen und Schikane durch Behörden, die auf eine bestimmte Gruppe von Menschen abzielten, welche für Handlungen verantwortlich gemacht würden, die sie selbst nicht begangen hätten, erklärt HRW. Die Leitlinien der Vereinten Nationen für Binnenvertriebene geben in Artikel 14 vor, dass alle Binnenflüchtlinge das Recht auf Bewegungsfreiheit und der freien Wahl ihres Aufenthaltes haben. In Artikel 15 wird zudem das Recht auf Sicherheit gewährleistet, nicht unter Zwang zur Rückkehr in Regionen gezwungen zu werden, wo „ihr Leben, ihre Sicherheit, ihre Freiheit und/oder ihre Gesundheit gefährdet ist“.
„Wenn die kurdische Regierung ein Problem mit den PMU-Milizen hat, dann ist eine Bestrafung von Familienangehörigen der PMU-Kämpfer der falsche – und rechtswidrige – Weg, diesem Problem zu begegnen“, so Faikh.[1]