Zur Bekämpfung der #IS#-Terrormilizen unterstützt der Westen jetzt kurdische Organisationen. Doch deren größte ist in Deutschland weiterhin verboten.
Anfang August: Im Nordirak, nahe der syrischen Grenze, erstürmen die Terrormilizen des Islamischen Staats (IS) eine Gegend, die von der jahrtausendealten Glaubensgemeinschaft der Jesiden bewohnt wird. Eigentlich hat die Regierung der Autonomen Region Kurdistan hier Streitkräfte stationiert, die sogenannten Peschmerga. Doch die ergreifen kampflos die Flucht. Verzweifelt flehen die Jesiden, mehrheitlich ethnische Kurden, die Peschmergaan, ihnen Waffen zu überlassen, um sich zumindest selbst verteidigen zu können. Vergeblich.
Zu Zehntausenden müssen sie schutzlos in die Berge fliehen. An denen, die zurückbleiben, verübt der IS einen Völkermord: Tausende werden umgebracht, hunderte lebendig in Massengräbern beerdigt. Die Terrormilizen vergewaltigen unzählige Frauen, verschleppen sie und bieten sie auf Sklavenmärkten feil. Uralte heilige Stätten der Jesiden werden gesprengt.
»Gott und die #PKK# haben uns gerettet!«
Aber auch denen, die fliehen können, droht eine humanitäre Katastrophe: Eingeschlossen in den Bergen, ohne Wasser und Nahrung, bei sengender Hitze und vom IS verfolgt, warten sie von aller Welt verlassen auf den nahenden Tod. Doch plötzlich kommt unerwartete Hilfe: Einheiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) brechen von Nordsyrien aus durch die Linien des IS, Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) stoßen vom Norden und Einheiten der iranischen PKK-Schwester PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) vom Osten aus zu den eingeschlossenen Jesiden vor. Gemeinsam kämpfen sie einen Fluchtkorridor frei, durch den Zehntausende in die befreiten Kurdengebiete im Norden Syriens gelangen.
Erst Tage später beginnen die Bombenangriffe der USA und die Offensive der mit ihnen verbündeten Peschmerga gegen den IS. Überlebende Jesiden schilderten immer wieder westlichen Journalisten: »Es waren nicht die Amerikaner. Gott und die PKK haben uns gerettet!«
Rojava: Eine Insel der Hoffnung
Die nordsyrischen Kurden kamen den Jesiden zur Hilfe, obwohl sie selbst vom IS tödlich bedroht wurden. Es handelt sich hierbei um Kräfte, die unter Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) stehen, einer Schwesterorganisation der PKK. Als die Syrische Revolution ausbrach, erhoben sie sich gegen Diktator Assad und vertrieben dessen Truppen aus dem Norden des Landes. Anschließend erklärten sie sich neutral im Bürgerkrieg und beschränkten sich auf die Verteidigung ihrer Gebiete. Hier schufen sie ein ganz einzigartiges, auf Selbstverwaltungsstrukturen gestütztes demokratisches Gemeinwesen, das sie Rojava nennen.
Dort gibt es festgelegte Quoten für die Beteiligung von Frauen im Parlament und auf allen Ebenen der Verwaltung, ebenso wie für ethnische und religiöse Minderheiten. Zur Verteidigung wurden die parteiübergreifenden YPG-Einheiten geschaffen, die auch große eigenständige Fraueneinheiten umfassen. Inmitten des Alptraumes des syrischen Bürgerkrieges entstand so eine Insel der Hoffnung auf Selbstbestimmung und Emanzipation.
Doch sie war von Anfang an bedroht: Die Türkei schloss die Grenzen, um die kurdische Selbstverwaltung auszuhungern. Zudem unterstütze Ankara die islamistische Terrorgruppe Isis, den Vorläufer des IS, die vom Süden aus die Kurdengebiete angriff.
Das größte Volk der Erde ohne eigenen Staat: Weltweit leben etwa dreißig Millionen Kurdinnen und Kurden, die meisten von ihnen in der Türkei. Aber auch im Iran, Irak und Syrien gibt es bedeutende kurdische Minderheiten
Das größte Volk der Erde ohne eigenen Staat: Weltweit leben etwa dreißig Millionen Kurdinnen und Kurden, die meisten von ihnen in der Türkei. Aber auch im Iran, Irak und Syrien gibt es bedeutende kurdische Minderheiten
Als den IS-Milizen bei der Eroberung der nordirakischen Millionenstadt Mosul umfangreiche Waffenbestände der fliehenden Armee inklusive schwerem Kriegsgerät aus US-amerikanischer Produktion in die Hände fielen, schafften sie diese Waffen nach Syrien. Dort starteten sie im Juli eine Großoffensive gegen Kobane, ein Zentrum der kurdischen Selbstverwaltung. Die militärisch unterlegenen YPG rüsteten sich für einen verzweifelten Abwehrkampf.
Die IS-Offensive hat die Kurdenfrage wieder ins Zentrum der Weltpolitik gerückt
Doch sie bekamen Unterstützung von außen: Überall im türkischen Teil Kurdistans sammelten die Menschen Geld, Nahrungsmittel und Medikamente, um das belagerte Kobane zu unterstützen. Tausende errichteten Camps entlang der Grenze, um in einem Akt zivilen Ungehorsams die Grenzanlagen zu demontieren und die türkische Blockade Rojavas zu durchbrechen. Die PKK schickte hunderte ihrer Guerilla-Kämpfer aus den Bergen in den Kampf um Kobane. Freiwillige aus ganz Kurdistan, aber auch Mitglieder linker türkischer Parteien, schlossen sich ihnen an. Diese Solidarität hatte Erfolg: Die IS-Offensive wurde gestoppt, Kobane ist bisher nicht gefallen, das bedrohte demokratische Experiment in Rojava besteht fort.
Die Offensive des IS in Syrien und dem Irak hat die Kurdenfrage wieder ins Zentrum der Weltpolitik gerückt. Zugleich werden die Widersprüche in der Politik des Westens deutlich. Seine Verbündeten Türkei, Saudi-Arabien und Katar tolerierten zumindest lange Zeit die Aufrüstung des IS. Zugleich verfolgen die USA, die EU und die Bundesrepublik mit der PKK ausgerechnet die Kraft, die sich am entschiedensten und erfolgreichsten dem IS entgegenstellte, als Terrororganisation.
Die Kurden sind das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat. Als die imperialistischen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen des Nahen Ostens neu zogen, blieben ihre nationalen Interessen unberücksichtigt. Heute leben bis zu achtzehn Millionen Kurden in der Türkei, zwischen fünf und sieben Millionen im Iran, fünf Millionen im Irak und zwei Millionen in Syrien.
Die Peschmerga wurden zu Spielbällen ausländischer Mächte
Die Geschichte der Kurden im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der Unterdrückung und des Widerstands. Immer wieder kam es zu Aufständen für nationale Unabhängigkeit, demokratische Freiheiten und kulturelle Selbstbestimmung. Im Iran entstand nach dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit ein eigener Staat, der sich an der Sowjetunion orientierte. Auch nach dessen Eroberung durch persische Truppen setzten linke kurdische Gruppen den Kampf fort – erst gegen die Diktatur des Schahs, später gegen das Regime der Mullahs.
Zentrum der kurdischen Widerstandsbewegung wurde aber für viele Jahre der Irak. Hier waren es vor allem zwei Parteien, die den Kampf gegen den Diktator Saddam Hussein und für ein unabhängiges Kurdistan führten: die traditionalistisch-konservative Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die ideologisch etwas fortschrittlichere Patriotische Union Kurdistans (PUK).
Die als Peschmerga bekannt gewordenen kurdischen Freiheitskämpfer wurden bald zu Spielbällen ausländischer Mächte. Während des irakisch-iranischen Krieges der Jahre 1980 bis 1988 unterstützte der Irak die iranischen Kurden, während der Iran die irakischen Kurden aufrüstete. Der Westen unterstützte seinen Verbündeten Saddam Hussein bei der blutigen Niederschlagung kurdischer Aufstände. In der kurdischen Kleinstadt Halabja tötete erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsches Giftgas massenhaft Menschen: Deutsche Konzerne hatten es an den irakischen Diktator geliefert.
In der Türkei war die Unterdrückung der Kurden besonders hart
Die Lage änderte sich, als Saddam Hussein im Jahr 1990 Kuwait überfiel. Plötzlich wurden die irakischen Kurden zu Verbündeten der USA im Golfkrieg. Zur Belohnung für ihren Einsatz errichteten die USA in den 1990er Jahren eine Flugverbotszone im Nordirak, in deren Schutz die Kurden die irakischen Truppen vertrieben. Auch im zweiten Golfkrieg des Jahres 2003 kämpften die Kurden auf Seiten der USA und bekamen dafür nach dem Sturz Saddams eine autonome Region im Nordirak. Sie stand unter Kontrolle von KDP und PUK, umfasste allerdings nur einen Teil der von den Kurden im Irak bewohnten Gegenden. Auch die PKK konnte hier Stützpunkte für ihren Guerillakampf gegen den türkischen Staat errichten.
In der Türkei kam es ebenfalls immer wieder zu kurdischen Aufständen. Hier war die Unterdrückung der Kurden besonders hart, denn ihre Existenz passte nicht in das Konzept eines rein türkischen Nationalstaates von Staatsgründer Atatürk. Sie durften ihre Sprache nicht sprechen, die Verwendung kurdischer Namen war ebenso verboten wie die von Buchstaben wie dem W und dem X, die zwar das kurdische, nicht aber das türkische Alphabet kennt.
In den 1970er Jahren entstanden in der Türkei vor dem Hintergrund großer Arbeiter- und Studierendenbewegungen zahlreiche linke Parteien, darunter auch die PKK. Sie wurde 1978 von einer Gruppe linker Aktivisten um Abdullah Öcalan gegründet. Die Partei gab sich ein marxistisch-leninistisch inspiriertes Programm und orientierte auf eine bewaffnete Revolution, um ein unabhängiges und sozialistisches Kurdistan zu erkämpfen.
Als im Jahr 1980 rechtsradikale Militärs in der Türkei putschten und die linken Gruppen unterdrückten, musste auch die PKK ins Ausland ausweichen. Sie fand Unterschlupf in Ausbildungscamps der linken palästinensischen Befreiungsfront PFLP im Libanon, an deren Seite sie 1982 gegen die israelische Invasion im Libanon kämpfte.
Bis heute genügen PKK-Symbole der deutschen Polizei als Anlass, um Demonstrationen anzugreifen
Im Jahr 1984 begann die PKK einen blutigen Guerillakrieg im türkischen Teil Kurdistans und baute bald eine Massenbasis unter der kurdischen Bevölkerung auf. So kam es in den frühen 1990ern unter ihrer Führung zu Volksaufständen, die als »kurdische Intifada« bekannt wurden. Wegen ihres autoritären Führungsstils und ihres Nationalismus gab es aber auch von linker Seite immer Kritik an der PKK. Im Jahr 1999 verschleppte der türkische Geheimdienst den Vorsitzenden Öcalan in die Türkei, wo er seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert ist.
Als Öcalan verhaftet wurde, war die PKK hierzulande schon seit sechs Jahren verboten. Noch Anfang der 1990er Jahre war sie mit über 15.000 Mitgliedern eine der stärksten linken Gruppen in Deutschland überhaupt. Immer wieder organisierte sie Demonstrationen und Aktionen gegen die brutale Unterdrückung in der Türkei und die fortgesetzten deutschen Waffenlieferungen an den NATO-Partner.
Mit dem Verbot im Jahr 1993 wollte die Bundesregierung einerseits die Türkei im Kampf gegen deren schärfsten Gegner unterstützen. Andererseits ordnet sich das PKK-Verbot in die rassistische und ausländerfeindliche Politik dieser Zeit ein: Begleitet von einer Medienkampagne gegen die »Terror-Kurden« wurde einer der größten migrantischen Gruppen in Deutschland ein faktisches politisches Betätigungsverbot erteilt. Bald folgten USA und die EU, die die PKK auf ihre »Terrorlisten« setzten. Bis heute genügen PKK-Symbole der deutschen Polizei als Anlass, um Demonstrationen anzugreifen.
Nach der Verhaftung Öcalans begann in der kurdischen Bewegung eine Phase kritischer Selbstreflexion und Neuorientierung. Getragen von der Erkenntnis, dass ein eigener Staat keineswegs ein Garant für Demokratie und Freiheit sein muss, wurde die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit von dem Konzept eines »demokratischen Konföderalismus« abgelöst, der auf eine Assoziation lokaler demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen innerhalb der bestehenden Staaten abzielt.
Feministische und ökologische Forderungen bekamen einen großen Stellenwert. In der Türkei wurde ein Bündnis kurdischer und linker türkischer Parteien mit Frauen- und LGBT-Bewegungen aufgebaut. Der Kandidat dieses Bündnisses, Selahattin Demirtaş, erhielt bei der Präsidentschaftswahl im August dieses Jahres fast zehn Prozent der Stimmen.
Die deutsche Linke sollte sich für die Aufhebung des PKK-Verbots einsetzen
Unter der Führung der PKK und ihrer Schwesterorganisationen entstanden überall in Kurdistan starke Basisbewegungen, die für Demokratie, Geschlechtergleichheit und soziale Gerechtigkeit kämpfen. Ihnen stehen innerhalb der kurdischen Bewegung die korrupten pro-imperialistischen Parteien KDP und PUK gegenüber. Diese setzen auf einen eigenen Staat im Nordirak und werden vom Westen unterstützt, der sich davon ungehinderten Zugriff auf die dortigen Ölfelder und ein Zurückdrängen der antiimperialistisch-demokratischen Bewegungen aus dem Umfeld der PKK erhofft.
Es gibt starke Hinweise darauf, dass die Führung der nordirakischen Kurden absichtlich ihre Einheiten abzog und die Jesiden schutzlos dem IS überließ, um den Westen zum Eingreifen und zu Waffenlieferungen zu bewegen. Mit Erfolg: Tatsächlich wird die Peschmerga-Armee nun mit Waffen beliefert. Nicht zum Plan gehörte jedoch das entschlossene Eingreifen der PKK zugunsten der Jesiden – und vor allem, dass ihr das größte Sympathien unter der kurdischen Bevölkerung beschert hat. Tausende Jesiden haben sich der PKK und YPG angeschlossen und bauen nun, von ihnen ausgebildet, ihre eigenen Selbstverteidigungseinheiten auf. Sie bräuchten dringend moderne Waffen. Doch über Lieferungen an sie spricht niemand: Sie gelten dem Westen weiter als »Terroristen«.
Waffenlieferungen an die Führung der irakischen Kurden sind hingegen der falsche Weg und sollten von Linken abgelehnt werden. Denn sie zielen darauf ab, den Einfluss imperialistischer Mächte in der Region zu stabilisieren – eben jener Mächte, deren Politik den Aufstieg des IS erst ermöglichte. Es ist gut möglich, dass diese Waffen schon bald zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden.
Die Linke in Deutschland sollte stattdessen eine kraftvolle Kampagne gegen das PKK-Verbot organisieren. Dessen Aufhebung würde eine direkte Stärkung der bedeutendsten linken Formation des Nahen Ostens bedeuten und zugleich imperialistische Interessen schwächen. Angesichts von etwa 800.000 Kurden, die in Deutschland leben, wäre die Forderung auch stark mobilisierungsfähig.
Die Aufhebung des PKK-Verbots ist durchaus durchsetzbar: Selbst konservativen Medien fällt der Widerspruch zwischen dem Kampf gegen den IS und der fortgesetzten Unterdrückung der PKK durch die Bundesregierung auf.
Linke sollten Demonstrationen gegen das Verbot organisieren und die verbotenen Fahnen und Symbole der PKK offensiv zeigen. Das wären konkrete und sichtbare Formen der antiimperialistischen Solidarität mit fortschrittlichen und demokratischen Bewegungen im Nahen Osten.[1]